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Zu Großem wie zu Grausamem fähig

Nicht nur der Islam kennt den Fundamentalismus. Diesen gibt es in fast allen Religionen. Genauso wie friedensstiftende Potenziale. An diese großen Zusammenhänge erinnert Rolf Schieder, er ist Professor für Praktische Theologie in Berlin.

Von Mirko Smiljanic | 06.02.2012
    Endlich ein Autor, der die Nöte informationsgefluteter Leser kennt und nicht glaubt, jeder hätte Zeit und Muße, sich durch alle Windungen seiner theologisch-philosophischen Gedankenwelt zu arbeiten. Für "eilige Leser" komprimiert Rolf Schieder auf neun Seiten die zentralen Thesen seines Buches. Wer mehr Zeit hat, dem seien aber auch die restlichen 340 Seiten empfohlen.

    Sind Religionen gefährlich? Natürlich! Ein Blick in die Geschichte belegt geradezu schockierend, wie riskant die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft sein kann: von den Glaubenskriegen der letzten zwei Jahrtausende, über die Judenverfolgung - unerreicht in ihrer Monstrosität - bis hin zu den Terroranschlägen von 9/11, religiös motivierte Gewalt ist universell - und sie stand schon am Anfang der alttestamentarischen, also christlich-jüdischen Menschheitsgeschichte.

    In der Geschichte von Kain und Abel finden sich beide, das Opfer und der Täter religiös motivierter Gewalt. Wir sind, so legt es die Urgeschichte nahe, Nachkommen Kains. Menschen töten - aus psychischen, sozialen, politischen, ökonomischen, rassistischen und auch religiösen Gründen. Meist braucht es ein Bündel an Motiven, um aus einer Tötungsfantasie eine Tat werden zu lassen - das Potenzial hingegen ist universal.

    In der aktuellen Debatte über die Rolle und Bedeutung von Religion in der westlichen Welt unterscheidet Rolf Schieder, Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Humboldt-Universität Berlin, drei religionspolitische Gruppen: die "Kulturalisten", die den Islam als Gefahr für das christliche Abendland ansehen; die "Laizisten", die alles Religiöse aus dem öffentlichen Raum verdrängen möchten; und die "Verfassungsliberalen", für die Religionsfreiheit ein Menschenrecht ist. Die Auseinandersetzung, so Schieder, gewinne zunehmend an politischer Schärfe, während sie gleichzeitig argumentativ verflache, weil die Debatte eher emotional als inhaltlich fundiert geführt werde. Und so räumt Schieder zunächst mit einigen Vorurteilen auf: dass etwa der Polytheismus eine friedvolle Lebensweise fördere, der Monotheismus hingegen die gewalttätige Vernichtung anderer Religionen zur Folge hatte. Gerade die Anhänger polytheistischer Religionen seien häufig zutiefst gewalttätig: die Nationalsozialisten zum Beispiel, die der nordischen Götterwelt nahe standen; oder die nationalistische Hindu-Bewegung in Indien, die immer wieder für Gewaltexzesse verantwortlich gemacht wird. Daraus zu schließen, der jüdisch-christlich-islamische Glaube an den Einen Gott sei per se friedlich, sei aber auch falsch.

    Neben Christen wie Dietrich Bonhoeffer ... finden wir in den früheren Dreißigerjahren auch begeisterte Nationalsozialisten unter den Christen in Deutschland. Religionen sind wie politische und ökonomische Institutionen von Menschen gemachte Einrichtungen und sind offenbar nicht mehr und nicht weniger als andere Institutionen zu Großem wie zu Grausamem fähig.

    Trotz dieser Erfahrung nehme die Religiosität weltweit zu, stellt Schieder fest. Kaum ein Forscher vertrete heute noch die Säkularisierungstheorie, nach der Religionen ins Private abwandern. Verglichen mit den vergangenen Jahrhunderten, gebe es heute aber eine Besonderheit: Immer mehr Menschen entwickelten individuelle religiöse Formen.

    Die französische Religionssoziologin Daniéle Hervieu-Léger hält den 'Pilger' und den 'Konvertiten' für neue Ausdrucksformen einer individualisierten Religiosität. Pilger und Konvertiten wählen sich ihre Religion selbst aus. Religion ist nicht mehr ererbte Religion. ... Weil der Zusammenhang zwischen individueller Religiosität und religiöser Praxis zerbrochen sei, kann die Präsenz von Religion in Europa nicht durch das Zählen von Gottesdienstbesuchern oder durch Fragen nach der Rechtgläubigkeit der Menschen beantwortet werden.

    Eine solche "individualisierte Religiosität" biete aber auch Nischen für religiös motivierte Gewalt. Kulturell entwurzelt und sexuell frustriert fantasierten sich vor allem junge Männer in die Rolle von Weltrettern hinein, führt Schieder aus. Die Terrorgruppe um die Anschläge auf das World Trade Center zählt der Autor dazu, aber auch Anders Behring Breivik, der in Norwegen 77 zumeist junge Menschen erschoss und seine Morde mit einer kruden religiös-politischen Theorie begründet. Weil vor allem die Anhänger radikaler religiöser Gruppen sich durch einen Mangel religiöser Bildung auszeichneten, ist für Schieder "religiöse Bildung die beste Gewaltprävention", die gar nicht früh genug beginnen kann.

    Ein Kreuzberger Pfarrer berichtet von Vierzehnjährigen, die sich bei ihm danach erkundigen, wie sie denn möglichst schnell Christen werden können. Auf die Rückfrage, woher denn dieses dringende Bedürfnis stamme, antwortet einer: Die Türken auf dem Schulhof würden den Deutschen vorwerfen, sie hätten keinen Nationalstolz, keine Familienehre und keine Religion - das wolle man sich nicht länger gefallen lassen.
    In Anlehnung an die Zehn Gebote fasst Rolf Schieder in den "Hinweisen und Empfehlungen für eilige Leser" die "religionspolitischen Gebote in Zeiten religiöser Pluralität" zusammen. Das 10. Gebot ist das Credo des Theologen.

    Nicht in erster Linie der Staat soll den Religionsmarkt reglementieren, viel mehr sollen sich die friedenspflichtigen Religionsgemeinschaften untereinander als Konkurrenzpartner anerkennen, ...

    ... wobei die Betonung auf "friedenspflichtig" liegt, denn Schieders 5. religionspolitisches Gebot lautet:

    Mord aus religiösen Motiven ist Gotteslästerung.

    Ein wichtiges und lesenswertes Buch!

    Rolf Schieder
    Sind Religionen gefährlich? Religionspolitische Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Berlin University Press, 349 Seiten, 29,90 Euro
    ISBN: 978-3-862-80020-9