Samstag, 20. April 2024

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Zu spät für Amerika

"Niemegk" ist ein slawisches Wort. Es bedeutet "deutsch". Stefan Niemegk heißt der Held in "Zu spät für Amerika", und Manfred Flügge, der früher einmal Philologe war, hat seine Wahl wohl bedacht. Denn eigentlich spürt Niemegk nichts anderem hinterher als seinem Namen und dem, was sich dahinter verbirgt. "Niemegk" klingt auch ein bißchen wie "Niemand". Genau so fühlt sich Stefan Niemegk. Manfred Flügge dazu: "Er ist nicht besonders auffällig, er ist ziemlich mittelmäßig, er ist weder physisch noch geistig noch sonst irgendwie besonders auffällig. Er ist kein Held, aber auch kein Antiheld, er ist irgendwo in der Schwebe."

Maike Albath | 13.03.1998
    Stefan Niemegk geht sich selbst aus dem Weg und verpaßt darüber sein Leben. Als seine Freundin Marion an einem trüben Berliner Septembertag nach New York verschwindet, bemerkt er irritiert, daß seine Existenz wieder einmal zerbrochen ist. Eine gescheiterte Karriere als Wissenschaftler liegt hinter ihm, eine ganze Palette von Liebesbeziehungen auch, nun ist er fünfzig Jahre alt, hält sich mit Rundfunkbeiträgen über Wasser und taumelt weiter von einer Affäre in die nächste. Um seine Leere auszufüllen, sammelt er wie besessen die Geschichten anderer Menschen. Ein klassischer Verlierer-Roman, denkt man, aber gerade noch rechtzeitig stellt sich Stefan Niemegk der Vergangenheit. Er fängt an, sich zu erinnern. "Erinnerung", so Manfred Flügge, "das heißt ja in diesem Fall Erinnerung an das, was man gemacht hat, was eigentlich gewesen ist, auch was vor einem gewesen ist, und das, woran sich die anderen erinnern müßten, ist hier belastet. Erinnerung ist hier angstbesetzt, und deswegen weicht er auch aus auf andere Geschichten, foltert also sozusagen das Gedächtnis der anderen, weil sein eigenes belastet ist, weil er selber auf Unschuld und Ahnungslosigkeit festgelegt wird, weil er sein Leben Schuld verdankt, über die er nur phantasieren kann, die er niemals benennen kann, da bin ich mir selber im Unklaren, wie weit mein Held da kommt."

    Stefan Niemegk ist ein Kriegskind. Während der Vater, dessen Namen er trägt, an der Front kämpfte, betrog ihn seine Mutter mit einem anderen Mann. Sie wurde schwanger und brachte in einem dänischen Flüchtlingslager ihren Sohn Stefan zur Welt. Nach Kriegsende erfährt der Ehemann von dem unehelichen Kind und adoptiert es, aber aus Scham und Angst verheimlicht die Mutter Stefan Niemegk den Namen seines wirklichen Vaters. "Die durchbrochene Kontinuität und die damit fragwürdige Identität ist natürlich eine Situation dieser Nachkriegsgeneration", erläutert Flügge. "Die also zu Bewußtsein kommt, als schon das Wirtschaftswunder beginnt, die eine ganz vage Ahnung davon hat, daß irgend etwas Furchtbares vorher geschehen sein muß, das einen persönlich mehr oder weniger berührt, meinen Helden berührt es sehr existentiell, weil er sein Leben schlicht diesen Umständen verdankt, aber es ist eben die Nachwirkung der Geschichte auf dieser subjektiven Ebene."

    Manfred Flügge hat Sigmund Freud genau gelesen, und er weiß, gegen Verdrängung hilft nur Erinnerung. Also schickt er seinen Helden auf eine Erinnerungs-Reise, die den Gedächtnisraum der Kindheit wieder belebt. Es ist das Ruhrgebiet der fünfziger Jahre, das Stefan Niemegk mit seiner Recherche zurückerobert. Wie bei dem Klassiker der Erinnerungsliteratur "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust löst eine Sinnesempfindung den Rückschritt in die untergegangene Welt aus: Anders als Prousts Romanheld Swann spürt Stefan Niemegk allerdings nicht den süßen Geschmack eines Gebäckstücks - jener berühmten Madelaine - auf seiner Zunge, dafür fällt ihm ein, wie Negerküsse, Lakritzschnecken und Eukaliptusbonbons schmecken. Das ist die Eintrittskarte in die Vergangenheit, und auf einmal ist alles wieder da: das Barackenlager für Flüchtlingsfamilien, in dem Stefan Niemegk als kleiner Junge wohnte, die Kohlenzeche, Kinderreime, die Gesichter seiner Freunde, Fußballspiele mit dem Pastor, der VW-Käfer und Fernsehabende bei der Nachbarsfamilie. Nur eine Lücke gibt es: Die Erinnerung an seinen richtigen Vater. Nie wird Stefan Niemegk erfahren, wer sein wirklicher Vater war, nie wird er seinen Namen kennen. Als er das begreift, ist der Bann endlich gebrochen. Als Zuflucht bleibt ihm die Phantasie; erst jetzt kann er sich das ausmalen, was immer totgeschwiegen wurde: In einer der schönsten Passagen des Romans stellt sich Niemegk seine Zeugung vor. Über die Erinnerung findet Niemegk die Spur zurück in die Kindheit, durch die Phantasie kann er das Trauma der unerwünschten Geburt überwinden und vergessen. "Wenn man sich auf die Schmerzen einläßt, die damit verbunden sind, hat das auch etwas Heilendes", so Flügge. "Ich kokettiere auch mit dem Gegenteil, mit dem Vergessen. Man müßte auch mal ein bißchen über das Vergessen schreiben, das ist ja etwas ganz Alltägliches, was das Vergessen eigentlich anrichtet, was es bewirkt, und was es auch wiederum an Positivem und Negativem haben kann, also man kann nicht andauernd erinnern, das geht nicht. Aber ein gesundes Hin und Her, eine gesunde Dialektik von Erinnerung und Vergessen macht das Leben aus."

    Stefan Niemegk weiß das alles, und das ist ein Problem in Flügges Roman "Zu spät für Amerika". Niemegk ist ein kluger Held und erklärt sich dauernd selbst, da bleibt für die Gedanken des Lesers nur wenig Raum. Die Geschichte von der Flucht vor der eigenen Identität droht außerdem in einer Flut von Neben-Geschichten unterzugehen, die Manfred Flügge pausenlos in die Handlung einarbeitet. Das ist natürlich Absicht, denn Flügge will die Obsession seines Helden, der immer wieder auf das Leben anderer Leute ausweicht, in der Konstruktion des Romans spiegeln. Gewonnen wird dadurch nur wenig. Die Rückkehr in die Vergangenheit steigert sich zu einer schwindelerregenden Kindheitsrevue: Auf jede Episode folgt noch ein Episödchen, und jede Anekdote wird durch eine weitere ergänzt. Manche der Geschichten erstrecken sich über drei Seiten, viele sind schon nach einer halben zu Ende oder werden gar mit einem einzigen Satz abgehandelt. Die knapp umrissenen Schicksale der Freunde und Verwandten wirken oft sehr plastisch, aber kaum ist die Neugierde geweckt, verschwinden die Figuren auf Nimmerwiedersehen. Manfred Flügge erinnert mit seiner mäandernden Erzählweise und dem autobiographisch geprägten Stoff an den französischen Romancier Jean Roaud. Als Wissenschaftler beschäftigte sich Flügge viele Jahre mit zeitgenössischer französischer Literatur; sein eigenes Schreiben sieht er allerdings durch andere Lektüren beeinflußt: "Natürlich, ich habe jahrelang französische Autoren gelesen und habe die Franzosen um ihre Rhetorik beneidet, bei Camus, bestimmte Passagen, das geht alles in der deutschen Sprache nicht. Die deutsche Sprache mit ihren zyklischen Sätzen erlaubt bestimmte Dinge nicht. Ich muß aber sagen, in den letzten Jahren - meine französischen Freunde sind schon beunruhigt - habe ich mich immer mehr mit der englischen Sprache beschäftigt. Ich bin manchmal voll Bewunderung für die Einfachheit, Direktheit und die große Poesie, die das Englische haben kann. Es kann furchtbar, das weiß ich auch, aber es kann grandios sein. Da gibt es Dinge, die man im Deutschen auch nicht nachmachen kann, das ist furchtbar. Ich versuche, manchmal zu schummeln und eine Syntax zu nehmen, die im Deutschen gar nicht üblich ist. Diese zyklischen Thomas-Mann-Sätze, die zwar was Schönes haben, die ich auch bewundere, das geht nicht mehr, das geht im Jahr 2000 nicht mehr, so kann man nicht mehr schreiben."

    Für die Form seiner Prosa dienen ihm angelsächsische Erzähler als Vorbild, mit seinem Thema steckt Manfred Flügge tief in der deutschen Geschichte. "Zu spät für Amerika" erzählt von der Bundesrepublik der 50er Jahre und den Rissen, die der Krieg im Gedächtnis der Menschen hinterließ. Trotz allem ist es ein Entwicklungsroman, denn am Ende hat der Verlierer Niemegk eine Menge gewonnen. Sogar nach Amerika fährt er noch.