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Zürich-West
Vom Industrieviertel zum Trendquartier

Zürich-West ist ein Stadtteil im Aufbruch. Wie kein anderes Gebiet in der Stadt hat sich das ehemalige Industriequartier verändert: Wo einst Schiffe gebaut und Motoren zusammengeschraubt wurden, blüht heute die Subkultur.

Von Susanne von Schenck | 06.11.2016
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    Blick aus dem 35. Stock des "Prime Tower". Er ist das Wahrzeichen von Zürich-West. (picture alliance / dpa / Steffen Schmidt)
    Männer in gut sitzenden Anzügen, mit Aktenkoffer und Smartphone stehen an der Theke des Hotel Rivington. Schnell noch einen Café trinken, bevor es ins Büro geht. Der Barkeeper wirkt professionell reserviert, die Stühle sind trashig, der Café schmeckt.
    "Hotel Rivington and Bar, das ist kein Hotel, sondern eine Bar. Ein sehr hoher Raum, am Fuße des Prime Tower. Hier drinnen erinnert es an die Atmosphäre von New York in den 30er-Jahren, hoher Raum mit Wolkenvorhängen und Holztheke, Lampen, die schummerig leuchten, alte Leuchtschrift noch. Ein Teil der Einrichtung wurde aus New York importiert."
    Werner Huber ist Architekt, Redakteur der Schweizer Architekturzeitschrift "Hochparterre" und Mitherausgeber eines Themenheftes zu "Zürich-West". Das Wahrzeichen dieses in den letzten Jahren entstandenen Stadtteils ist der Prime Tower: 126 Meter hoch, 36 Etagen – Zürichs höchstes Gebäude. Vor vier Jahren wurde der schicke, schlanke Turm mit blau grüner Glasfassade fertig gestellt.
    Vor 30 Jahren entdeckten Künstler, Alternative und Intellektuelle das Gebiet
    Werner Huber möchte an die frische Luft und durch Zürich-West streifen, den Teil der "kleinen Weltstadt", dessen Entwicklung er seit langem verfolgt.
    "Zürich-West: also offiziell das Planungsgebiet fängt hier an bei der Hardtbrücke, beim Ende des inneren Stadtkreises 5, wo auch noch gewohnt wird. Von hier an nach außen Richtung Westen, da waren vor allem Industriebetriebe, die sich hier angesiedelt haben seit Anfang des 20. Jahrhunderts und von hier sind es ein, zwei Kilometer nach Westen, das ist Zürich-West, ein Teil des Stadtkreises 5, Stadtkreis 5 heißt bis heute Industriequartier."
    Die Hardtbrücke überwölbt den Escher-Wyss-Platz, der, kommt man von der Innenstadt, das Eingangstor zu Zürich-West ist, nicht gerade beschaulich, sondern laut, unbehaust, dicht befahren und von Kreuzungen und Tramlinien durchzogen.
    Hans Caspar Escher und Salomon von Wyss waren zwei Industriepioniere, die mit Textilproduktion anfingen und sich später auf Maschinen- und Turbinenbau konzentrierten. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert baute die Escher Wyss AG in dem damals noch als Acker und Weideland genutzten Areal von Zürich-West ihre Anlagen – bis der industrielle Niedergang einsetzte und das Gebiet verwaiste. Dann entdeckten es Künstler, Alternative und Intellektuelle vor gut 30 Jahren für sich.
    Wo früher Schiffe gebaut wurden, wird heute Theater gespielt
    Werner Huber: "Ein Quartier wie dieses, mit diesem Charakter und diesem Maßstab, das gab es bisher nicht. Das hätte man sich vor 30 Jahren nicht vorstellen können, dass es so eine Kraft entwickelt".
    Wo früher Schiffe gebaut wurden, wird heute Theater gespielt, wo einst die größte Molkereiverarbeitung Europas war, sind nun die Zürcher Hochschulen für Künste eingezogen. Die riesige Puls 5 Halle, der Turbinenplatz – alles ist in den letzten Jahren entstanden.
    "Zürich-West, das wird jetzt irgendwie vermarktet. Und was haben wir hier?", fragt sich Tom Rist, Ende vierzig, groß, braunes welliges Haar.
    "Wir haben neue Häuser, schöne und weniger schöne Häuser. Unten, wo die Menschen laufen, denke ich manchmal, da hat man etwas vergessen. Da ist nichts, es hat jetzt mehr Teer und Beton als früher, die Gestaltung des Raumes, wo die Menschen spazieren und rumgehen, ist für mich schon sehr fragwürdig. Aber das nennt man wohl auf eine Art Aufwertung. Aber kann das Aufwertung sein?"
    Tom Rist betreibt seit zwölf Jahren das "Helsinki". Der kultige Musikklub, eine ehemalige Garage, liegt in der Geroldstraße, nahe der großen Gleisanlage der Station Hardtbrücke. Günstige Eintrittspreise, junge Bands, durchmischtes Publikum und die weltoffene Atmosphäre machen seinen Charme aus.
    Während die Hardtstraße die Nord-Südverbindung von Zürich-West ist, durchschneidet die Pfingstweidstraße, eine weitere große Achse, den Stadtbezirk in Richtung Ost-West. Dort liegt "Les Halles", eines der Restaurants der ersten Stunde. Der frankophile Christoph Gysi eröffnete es vor 20 Jahren in einer alten Lagerhalle - mit rustikalen Holztischen und französischem Flair.
    Kreatives Trendquartier und wildes Partyviertel
    "Wir verkaufen pro Tag zwischen 50 und 80 Kilogramm Muscheln mit Pommes frites. Das ist der absolute Renner seit 20 Jahren. Moules et frites. Wir sind der Muschelkönig der Schweiz, wir sind der größte Muschelkonsument der Schweiz."
    Christoph Gysi, auch im Verein "Kulturmeile Zürich-West" aktiv, hat den einst heruntergekommenen Stadtteil als kreatives Trendquartier wie auch als exzessives wildes Partyviertel erlebt – mit allen Vor- und Nachteilen. Ihm gefällt es, wie sich das Quartier weiterentwickelt hat.
    "Der Löwenanteil kommt in Restaurant und Bars, zum Essen und zum Trinken, 37 Prozent der Besucher kommen wegen dem und die machen dann die Kombination Kultur und Absturz im Club. Man hat hier volle Kanne."
    Wohl kaum ein Gebäude in Zürich-West wird so oft fotografiert wie der Freitagturm - zehn leicht angerostete aufeinandergestapelte Container ragen in den Himmel, nicht weit vom Prime Tower entfernt. Hier werden die "Freitagtaschen" verkauft, Kultobjekte, die es inzwischen in die Designsammlung des New Yorker MoMA geschafft haben. Vor gut 20 Jahren starteten Markus und Daniel Freitag in ihrer Studentenbude an der Hardtbrücke mit den ersten selbstgenähten Taschen aus LKW-Planen. Heute werden jährlich gut 400.000 Stück davon hergestellt, erzählt Pascal Dulex, bei "Freitag" Head of Innovation.
    "Damals war die Idee, in Zürich das erste eigene Geschäft zu eröffnen, der Wunsch war es dann, das Prinzip des Wiederverwendens, wir nennen das Rekontextualisierung, auch auf ein Gebäude anzuwenden. Und so entstand die Idee, das gleiche mit den Modulen des Gebäudes zu machen, gebrauchte Container in Hamburg auszuwählen, nach Zürich zu schippern und da zu verbauen zu einem Turm von 26 Metern Höhe."
    Gefertigt werden die Taschen inzwischen in Oerlikon im Norden der Stadt. Weil die Mieten dort noch erschwinglich sind und es größere Flächen gibt, ist "Freitag" dorthin gezogen. Wie überhaupt die Kreativkarawane weiter nordwärts gewandert ist, nach Oerlikon oder Altstetten. In Zürich-West haben sich stattdessen vor allem die Etablierten ausgebreitet - mit moderner Kunst, gehobener Gastronomie und eleganter Architektur.