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Zufall und Paranoia

Attentate durchziehen die Weltgeschichte und bilden die Grundlage so mancher Verschwörungstheorie. Dahinter diagnostiziert Manfred Schneider in seinem jüngst erschienen Buch eine weitverbreitete Paranoia des Denkens.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 31.01.2011
    "Kritik der paranoischen Vernunft" lautet der Untertitel des umfänglichen Werkes von Manfred Schneider. Soll das etwa heißen, dass die Vernunft paranoisch ist? Oder ist nur ein Teil der Vernunft von solcherart Wahn befallen? Manfred Schneider antwortet auf meine Frage, die sich dabei als Erstes stellt: Was ist Paranoia?

    Schneider: "Paranoia versuche ich zu bestimmen als eine bestimmte Abart des Denkens. Im Kern ist sie eine Interpretation, eine bestimmte Lesart von alltäglichen, vor allem aber von historischen und politischen Übeln, die alle einem einzigen Grund zugeschrieben werden. Dieser Grund muss immer ein bestimmtes Format haben für die Paranoia. Es müssen also große Übeltäter sein. Das ist – könnte man sagen – eine milde oder kollektive Paranoia, die so denkt. Im Grunde denken wir alle in diese Richtung."

    Paranoia durchzieht also das Denken aller Menschen. Ist dann die Vernunft als solche paranoisch? Dann müssten jene, die sich besonders um die Vernunft bemühen, die Philosophen, von dieser Neigung besonders befallen sein. Manfred Schneider bestätigt diesen Verdacht zunächst:

    "Meine Deutung der Paranoia geht ja so weit, dass ich eine ganze Reihe prominenter Intellektueller auch zu dieser Familie der Interpreten rechne. Aber das sind ja nun extrem gut beleumdete Leute von Hegel über Marx bis zu Sigmund Freud und in ihren Werken ist ein großer Scharfsinn am Werk um ihre Deutung plausibel zu machen, das heißt sie arbeiten mit logischen Verfahren. Aber wie schon Kant bemerkte, verwandelt sich eben dieser Scharfsinn und diese Logik dann in eine rasende Vernunft wenn sie ihre weitgehenden Schlussfolgerungen mit falschen Ausgangsdaten bewerkstelligt."

    Das deutet darauf hin, dass nicht alle Philosophen gleichermaßen von der Paranoia betroffen sind. Somit ist auch nicht alle Vernunft paranoisch, sondern nur eine bestimmte, allerdings auch unter Philosophen weitverbreitete Form. Auch das dürfte auf manche Proteste stoßen, ist sich Manfred Schneider bewusst:

    "Wir würden ja die großen Theoretiker nie unter Wahnsinnsverdacht stellen. In den Bereich des Pathologischen gerät diese Form des Denkens, das Weltübel monokausal erklärt und sich dazu die Vorstellung gesellt, dass ich allein auserwählt, ausersehen bin, diese Übel zu beseitigen, indem ich eben die Macht ergreife, indem ich eine Revolution durchführe oder indem ich die Mächtigen töte. Dann nimmt die Paranoia einen dramatischen missionarischen, messianischen Zug an, von dem wir ja auch im 20. Jahrhundert genügend erlebt haben."

    Die philosophische Paranoia will die Welt möglichst einfach erklären und bezieht die richtige Erklärung nicht auf die sichtbare Oberfläche, sondern sucht hinter den Erscheinungen den wahren Grund: also Marx' Verdacht, dass sich hinter dem Schleier der bürgerlichen Ideologie die Wahrheit entbirgt oder das Unbewusste bei Freud. Das ist für Schneider zwar eine Form der Paranoia, aber noch kein pathologischer Wahnsinn. Dieser zeigt sich an anderer Stelle:

    "Wenn sie aber diese Sphäre des Theoretischen übersteigt, zu Handlungen übergeht, zur Revolution oder eben zu politischen Programmen, oder im Falle der Attentäter indem sie eben eines dieser Übel als Person oder als Symbol beseitigt, dann ist sie meistens von einem bestimmten Wahn erfasst, der eben soweit gehen kann, dass die Attentäter oder auch die Theoretiker sich selber für Gott halten."

    Eins verbindet allerdings die paranoische Vernunft und den paranoischen Wahn, das ist die Ablehnung des Zufalls. Alles hat einen tieferen Sinn. John Lennons Attentäter kauft die Mordwaffe bei einem Händler mit dem Namen Ono wie Lennons Freundin Yoko. Das kann für den Paranoiker doch kein Zufall sein. Er sucht die eine umfassende Gewissheit hinter der Vielzahl der Ereignisse, die oberflächlich betrachtet keinen Sinn ergeben. Aus solcher Kontingenz lässt sich aber auch keine notwendige und somit zwanghafte Handlung ableiten. Manfred Schneider stellt daher seinem Buch einen Satz von Nietzsche voraus: "Nicht der Zufall, die Gewissheit ist das, was wahnsinnig macht."

    Schneider: "Wenn wir die andere Variante der Erklärung wählen, so wie ich sie favorisiere, nämlich dass der große Teil der Ereignismassen in der Zeit und in der Geschichte nur unter Kontingenzbedingungen zu verstehen sind, dann haben wir eben keine interessante Geschichte, sondern wir haben so wie Nietzsche es ausdrückte, die schauerliche Herrschaft von Unsinn und Zufall und das ist extrem unbefriedigend."

    Daher spielen auch Zufall und Paranoia zusammen. Die moderne Welt verabschiedet zunehmend alle religiösen und ideologischen Welterklärungen, vermag aber selber keine einheitliche an deren Stelle zu setzen. Daher zerfällt die Welt in einen chaotischen Ereigniszusammenhang ohne inneren Sinn, sehen sich die Menschen zunehmend den Zufällen ausgesetzt. Der mittelalterliche Pilger fühlte sich von Gott behütet. Wenn wir heute in ein Flugzeug steigen, wissen wir, dass alle Sicherheitssysteme versagen können. Solche Verunsicherungen fördern das Bedürfnis nach einfachen Weltformeln.

    Just davor muss man sich hüten. Es fragt sich nur, wie?

    Was tun wir gegen die Paranoia. Sie schreiben es in Ihrem Buch: Die Geschichtsphilosophen helfen uns dabei nicht, jedenfalls nicht die, die wir unter Geschichtsphilosophen zählen. Sie selber kommen am Ende auch zum Thema Hermeneutik. Also wie machen wir das? Müssen wir besser verstehen?

    "Ja, in einem einfachen Sinn, wir müssen verstehen, dass unser eigener Verstand oder unsere eigene Vernunft eben diese Struktur hat, die Kant als die teleologische Urteilskraft bezeichnet hat, dass wir dazu tendieren, Ereignisklumpen oder Ereignissequenzen auf einen bestimmten, geheimen, uns verborgenen Sinn oder Zweck oder eben böse Absicht hin zu interpretieren. Das steckt in uns allen drin. Diese Tendenz des eigenen Denkens oder diese spezielle Kraft des eigenen Denkens müssen wir eben unter Kontrolle haben. Es gibt ja durchaus aus dem klinischen Bereich auch Erkenntnisse darüber, dass bestimmte Leute an bestimmten Symptomen leiden, Größenwahnanfälle, Stimmen hören, Verfolgungswahn und dergleichen, die aber in der Lage sind, das als den pathologischen Anteil der eigenen Person zu interpretieren und damit auch zurande zu kommen."

    Droht dabei nicht so etwas, dass wir uns selber soweit in Frage stellen, dass das selber schon etwas paranoisch anmuten könnte?

    "Natürlich kann jede Form der Selbstkontrolle zu einer Art Wahn auswachsen. Das will ich gerne zugestehen. Vergleicht man das aber mit einer Art von Gewissenserforschung und Selbstkontrolle, wie sie einsetzt in den radikal protestantischen Bewegungen der Puritaner oder der Pietisten, so geht es nicht mehr darum, fremde Kräfte, also bestimmte Dämonen oder Teufel in der eigenen Person zu identifizieren und gegebenenfalls zu bekämpfen, sondern es geht darum, die Struktur des eigenen Denkens, einen bestimmten Strukturierungszwang, den unser Denken für uns selber ausübt, in die Schranken zu weisen oder eben zu kritisieren. Imgrunde genommen ein Aufklärungsprojekt, bestimmte Neigungen der Affekte aber auch des Denkens selber zu kontrollieren, durch Kritik in eigene Bahnen zu lenken."

    Das ist möglich?

    "Das ist in der Tag möglich, ja."

    Was mir in Ihrem Buch aufgefallen ist, und was die Lektüre leichter macht und auch sehr angenehm, das sind lange Passagen, in denen sie detailreich beispielsweise das Attentat auf John Lennon, die Vorgeschichte erläutern. Mir nun als Theoretiker war das ein bisschen zu lang. Sind so viele Details eigentlich nötig?

    "Na ja, wenn Sie als Theoretiker gleich soviel Vertrauen haben zu meiner theoretischen Konzeption, vereinfacht das natürlich die Sache. Dieser Materialaufwand, den ich da betreibe, indem ich eben solche einzelnen Biografien sehr detailliert erkläre und erläutere, das ist ja eine Demonstration des Verfahrens. Eine solche Biografie, die sich eben aus Elementen und Zufällen zusammensetzt und am Ende in einer solchen Tat mündet, das ist dann – sage ich es mal etwas oberlehrerhaft – die Pädagogik der Entzifferung einer bestimmten Lebensgeschichte, also die nicht notwendigerweise in eine solche Tat einläuft."

    Manfred Schneiders Buch "Das Attentat" verbindet philosophische Theorie mit einer Vielzahl von Ereignissen. Das beginnt mit dem Attentat auf Julius Caesar, geht unter vielem anderen auf Thomas Becket, Jean-Paul Marat, Lincoln, natürlich auch auf Kennedy ein. Der 11. September 2001 kommt nicht zu kurz und detailliert erläutert Schneider auch die Amokläufer der letzten Jahrzehnte und deren Verlautbarungen. Doch besonders brillant sind die dazwischen eingestreuten Analysen paranoischer Denker, beispielsweise C.G. Jung. Auf wenigen Seiten erläutert Schneider galant den paranoischen Antisemitismus Carl Schmitts, der sich nach 1945 keineswegs gelegt hatte.

    Manfred Schneider: "Das Attentat – Kritik der paranoischen Vernunft".
    Matthes&Seitz, Berlin, gebunden, 768 S.