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Zugang zur Innerlichkeit des Islams

Kalligraphie ist weit mehr als die Kunst des schönen Schreibens: Yasmine Ghata zeigt auf, welch große Rolle sie gerade in der islamischen Welt spielt. Dort spiegelt der Buchstabe das Wort Gottes wider. Doch die Türkei zwischen den Weltkriegen, Schauplatz der Handlung, stellt mit ihren säkularen Reformen eine Bedrohung für die Schriftkunst dar.

Von Christoph Vormweg | 21.08.2007
    ""Gott benützt [die Kalligraphen], um sein Wort zu offenbaren"",

    heißt es auf Seite 56.

    ""Die Propheten tragen es vor, die Kalligraphen schreiben es auf.""

    Der wahre Kalligraph ist demnach ein "Magier", nicht bloß ein technisch versierter Schönschreiber. Er wird "erleuchtet" durch seine "Intuition". Rational lässt sich die islamische Kalligraphie also allenfalls im Ansatz verstehen. Doch ist Yasmine Ghatas Roman "Die Nacht der Kalligraphen" auch nur am Rande eine Einführung in die esoterische Komponente. In erster Linie zeichnet sie das Porträt einer ungewöhnlichen türkischen Frau des 20. Jahrhunderts.

    ""Alles nahm an dem Tag seinen Anfang, als ich mir im Louvre die Ausstellung des Sakip-Sabanci-Museums ansah. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits fünf Jahre islamische Kunstgeschichte studiert und entdeckte mit einem Mal, dass ich eine Großmutter hatte, die Kalligraphin war. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Ich hatte den Eindruck, meine Großmutter sei zu mir gekommen und ich müsse nun meinerseits auf sie zugehen. Durch Zufall zu erfahren, dass sie die letzte Kalligraphin der Türkei war, die diese Kunst unterrichtete, die ihr Wissen den nachfolgenden Generationen weitergab: Das war für mich - mit meiner Leidenschaft für die Kalligraphie - ein enormer Schock.""

    Yasmine Gathas Recherche über ihre 1986 verstorbene Großmutter Rikkat Kunt entpuppte sich als äußerst schwierig. Zwar gab es Material über ihr Wirken an der Kunstakademie in Istanbul, ihre Restaurationsarbeiten, ihr kalligraphisches Schaffen. Doch starb Rikkats zweiter Sohn, Yasmine Gathas Vater, schon früh - als sie erst sechs Jahre alt war; und ihre französische Mutter konnte nur Eckdaten ihres Lebenslaufs beisteuern. Doch wollte Yasmine Ghata auch keine Biografie über ihre Großmutter schreiben, sondern sich ihr vor allem gefühlsmäßig nähern.

    ""Das Buch war meine Art und Weise, mir dieses Erbe zu erschaffen, diese Abstammung von ihr, die sonst abstrakt geblieben wäre. Ich war die Enkeltochter von Rikkat Kunt, gut, aber ich hatte sie eben nicht gekannt, die Abstammung war einzig und allein genetisch. Ich wollte ihr das Buch gleichsam in die Hand drücken, damit sie es mir überreiche. Es gelang mir also, ein ganzes Paket mit Dokumenten zusammen zu stellen: mit genauen Daten, mit ihren Vorlesungen, ihren Ausätzen über Kalligraphie. Doch je mehr ich ihr über Fakten näher kommen wollte, desto fremder wurde sie mir. Also habe ich irgend wann aufgehört zu recherchieren und einfach angefangen zu schreiben.""
    Yasmine Gatha lässt Rikkat ihr Leben erzählen, als sie gerade gestorben ist: gleichsam als Botschaft aus dem Jenseits. Zwei Männer, zwei Scheidungen, zwei Söhne: Es ist die Geschichte einer Frau, die nicht bereit ist, ihre Arbeit als Kalligraphin der Familie zu opfern. Kalligraphen seien "undurchschaubare", "zwitterhafte Wesen", heißt es an einer Stelle. Sie stünden außerhalb der Zeit, wenn sie Allahs Wort erhörten und zu Papier brächten, beim Schreiben würden ihre Werkzeuge zu Teilen ihres Körpers. Und Rikkats Hand entpuppt sich als unbezähmbar. Das macht sie zu einer Kalligraphin, die in der angestammten Männerdomäne neue, moderne Akzente setzt.

    ""Meine Schüler ahnten nichts von dem Leben, das in jedem meiner Werkzeuge steckte, und betrachteten die Szene wie ein Stilleben. Anfangs unterwürfig, hatten meine Schreibgeräte die akademischsten Übungen akzeptiert: verschlungene Blumenspiralen, mit Gold illuminierte Ränder. Dann wurden sie zu Komplizen meiner Kühnheit. Ich begann die Buchstaben zu quälen, verbannte sie in die obere Ecke der Seite, drängte sie zusammen, bis sie erstickten. Die Wörter überlappten sich, brachten sich gegenseitig um. Ein kunstvolles und methodisches Massaker, ein virtuoser Kampf. Ich wagte, was meine Vorgänger sich nie hätten vorstellen können. Eines Tages bekam ich Lust, die Buchstaben zu dehnen und damit dem Gesetz der Schwerkraft zu trotzen. Der Name Allahs, in monumentalen Buchstaben geschrieben, warf mir einen schwarzen Blick zu, der mich vor Schreck erstarren ließ.""

    Yasmine Gathas Prosa ist eindringlich, rhythmisch sicher, detailversessen, feinfühlig. Sie weiht uns nicht nur in Rikkats Werdegang und die Arbeit der Kalligraphen ein, sondern auch – daher der Romantitel – in ihre "Nacht". Denn zu den familiären Dramen kommt in der Türkei zwischen den Weltkriegen die grundsätzliche Bedrohung der islamischen Kalligraphie: durch die einschneidenden Reformen Atatürks, der die arabische Schrift ächtet und das lateinische Alphabet einführt. Die alten Meister der Kalligraphie sind mit einem Mal nicht mehr gefragt. Rikkat dient ihnen und erlernt so die Feinheiten ihrer Kunst: die technische Seite genauso wie die übernatürliche der Intuition.

    "Die Nacht der Kalligraphen" ist ein Roman, der uns in eine islamische Welt der Innerlichkeit entführt, die nichts mit den gegenwärtigen weltpolitischen Hysterien zu tun hat. Er transportiert ein bei uns weitgehend unbekanntes Wissen, er spiegelt wichtige Etappen der türkischen Geschichte und er berührt: sei es in der Beschreibung der Wiederbegegnung von Rikkat und ihrem zweiten Sohn nach jahrelanger Trennung oder in der Beschreibung von Abriss und Neubau ihres Hauses am Ufer des Bosporus: Ereignisse, die sich stets unmittelbar in der kalligraphischen Arbeit niederschlagen.

    Dass Yasmine Gatha, die als Expertin für islamische Kunst arbeitet, ihr großes schriftstellerischer Talent erprobt hat, ist dem Zufall zu verdanken. Der Reiz des Schreibens ist geblieben. Ihr zweiter Roman erscheint im Herbst in Paris. Allerdings vermag nur die orientalische Welt Yasmine Gatha zu inspirieren:

    "Thema ist die Geschichte eines Musikers im Iran, der das Instrument seines Vaters erbt: eine Art Sitar mit fünf Saiten. Mit diesem Instrument unternimmt er eine Entdeckungsreise, bei der er auf eine alte Geschichte stößt, die ihm die Augen öffnet."

    Yasmine Ghata: Die Nacht der Kalligraphen
    Roman. Aus dem Französischen von Andrea Spingler.
    Ammann Verlag, Zürich 2007.
    154 Seiten, 17,90 Euro.