Donnerstag, 28. März 2024

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Zukunft der EU
"Wir haben schon unterschiedliche Europas"

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat in seinem Weißbuch zur Zukunft der EU fünf mögliche Szenarien beschrieben. Der Politikwissenschaftler Wichard Woyke sagte im DLF, diese Modelle könne man bereits in Lehrbüchern von vor 20 Jahren nachlesen. Die Entwicklung werde weiter in Richtung eines Europas verschiedener Geschwindigkeiten gehen.

Wichard Woyke im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 02.03.2017
    Im Bundeskanzleramt hängt die Fahne Europas über einem Ständer.
    Die EU-Flagge hängt über einem Ständer. (dpa)
    Jürgen Zurheide: Das Weißbuch von Juncker – wir wollen über dieses Thema reden und wollen uns fragen: Was hat der Kommissionspräsident wirklich gesagt und wie hat er es gesagt? Darüber wollen wir reden mit dem Politikwissenschaftler Wichard Woyke, den ich jetzt am Telefon begrüße. Zunächst einmal: Schönen guten Abend, Herr Woyke!
    Wichard Woyke: Guten Abend, Herr Zurheide.
    Zurheide: Beginnen wir vielleicht mit Jean-Claude Juncker. Wie hat er auf Sie gewirkt? Der eine oder andere sagt, einigermaßen müde, kein Feuer mehr für Europa. Wie hat er auf Sie gewirkt?
    Woyke: Juncker ist natürlich nicht mehr derjenige, der strahlend vorangeht, wie er das in seiner Zeit noch als Premierminister in Luxemburg lange Zeit gemacht hat. Und die Ankündigung, dass er auch eine neue Kandidatur für das Präsidentenamt nicht mehr anstrebt, zeigt ja auch, dass er seine europäische Aufgabe beenden will.
    Zurheide: Dann hat es noch eine weitere Kritik aus unterschiedlichen Ebenen und Kreisen gegeben, unter der anderen Überschrift: Das ist nur eine Zettelsammlung. Er selbst hat einigermaßen empört darauf reagiert und hat gesagt: Ja was wollt ihr denn? Ihr wollt mitdiskutieren und dann muss man ja unterschiedliche Szenarien aufmachen. Wozu neigen Sie?
    Woyke: Ich denke, dass Juncker da eher recht hat. Denn die Entwicklung der Europäischen Union hat sich ja in den letzten 20, 30 Jahren dahingehend verändert, dass die Nationalstaaten doch stärkeres Mitspracherecht und stärkeres Durchsetzungsrecht für sich beansprucht haben. Und die Konsequenz daraus hat Juncker jetzt gezogen, indem er dieses Weißbuch vorgelegt hat, wo er die Szenarien für eine zukünftige Entwicklung aufgezeigt hat und gesagt hat zu den Staaten, nun könnt ihr sehen, was ihr davon haltet, und diskutiert mal darüber, in welche Richtung das laufen soll.
    Ein europäischer Bundesstaat ist nicht erkennbar
    Zurheide: Dann lassen Sie uns jetzt genauer diese Szenarien beleuchten. Ich weiß nicht, ob Sie mir zustimmen. Die beiden Extremen sind weniger relevant: Nur der Binnenmarkt und mehr nicht auf der einen Seite und vielleicht alles zusammen und noch viel mehr ist bisher wohl auch nicht. Wenn Sie da zustimmen, müssten wir vielleicht die drei anderen wägen. Ist diese Einschätzung erst mal eine zutreffende?
    Woyke: Ja, zumindest im Augenblick. Denn dass die Staaten die europäische Integration befürworten, sowohl mehrheitlich in den Bevölkerungen als auch in den politischen Eliten, die regieren, das ist ja ohne Zweifel. Und auch das zweite Extremmodell, das den europäischen, sagen wir, Bundesstaat anstrebt, ist ja nicht realisierbar. Das war mal eine große Hoffnung in den 50er- und 60er-Jahren. Die ist aber im Augenblick passé. Aber das heißt nicht, dass es nicht eine Situation geben könnte, in der von der Gesellschaft stärker Europa nachgefragt wird und wir uns in diese Richtung bewegen könnten. Erkennbar ist sie aber im Augenblick nicht.
    Zurheide: Die andere Frage, dieses Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten - wobei man könnte hinzufügen: Genau das haben wir ja - den Euro machen manche mit, andere nicht, oder verbirgt sich hinter dieser Chiffre noch irgendetwas anderes?
    Woyke: Ja und nein. Sie haben recht, wenn Sie sagen, wir haben ja schon das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Wir haben auch von der Wissenschaft schon seit 20 Jahren darauf hingewiesen, dass wir das haben. Sie haben den Euro angesprochen. Wir können aber auch weitergehen: Wir können den Schengen-Raum ansprechen und wir können die europäische Zollunion mit ansprechen, wo die Türkei ja noch Mitglied ist. Wir hatten oder haben schon unterschiedliche Europas mit unterschiedlichen Mitgliedsstaaten, mit unterschiedlichen Kompetenzen, und meines Erachtens wird es auch in Zukunft in diese Richtung weitergehen. Aber Juncker sammelt hier mal ganz neu, aber das ist auch nichts Neues, denn auch das kann man bereits in Lehrbüchern über die europäische Integration von vor über 20 Jahren nachlesen, wenn es um die Zukunft der europäischen Integration geht, wenn die unterschiedlichen Modelle aufgeführt werden, von denen Juncker heute einige aufgenommen hat.
    Wo Integration vertieft wird, hängt von Nachfrage in Gesellschaften ab
    Zurheide: Wir lernen daraus: Die Wissenschaft gibt doch das eine oder andere vor. Die spannende Frage, Herr Woyke, wird dann natürlich sein: Welche Bereiche sind das, wo man möglicherweise weiter integriert? Der deutsche und der französische Außenminister haben heute gesagt: Sicherheit, Migration, Arbeitsplätze als drei Bereiche. Sind das die, wo am ehesten noch etwas in Richtung weitere Integration passieren wird? Geben Sie mir Ihre Einschätzung.
    Woyke: Ich denke, das ist abhängig von der Nachfrage in den Gesellschaften der Europäischen Union. Wir erkennen ja immer, wenn irgendwelcher Druck auf die europäischen Gesellschaften ausgeübt wird, dass dann auch die Bereitschaft zu mehr Integration, um diesem Druck zu begegnen, größer wird. Und diese drei Bereiche, die Sie jetzt genannt haben, sind ja tatsächlich Politiken, die alle Länder in der EU betreffen, und da könnte ich mir durchaus vorstellen, dass dort auf Dauer eine stärkere Integration durchgeführt wird.
    Zurheide: Aber das Ganze vermutlich nicht unbedingt am 25. 3. jetzt in Rom, sondern wahrscheinlich erst nach den Wahlen, die in den Niederlanden, dann in Frankreich und dann hier in Deutschland stattfinden werden. Die These ist vermutlich die richtige.
    Woyke: Ja. Das ist sicher ein kurzfristiges Programm jetzt, was zum 60-jährigen Jubiläum der Römischen Verträge durchgeführt werden soll, sondern das ist erst der Beginn eines Diskussionsprozesses, der in den europäischen Ländern laufen soll. Und vor allen Dingen denke ich auch, dass er eine Antwort sein soll auf die Entwicklung, die Sie angesprochen haben mit den Wahlen in den Niederlanden und auch in Frankreich und in der Bundesrepublik, wenn alles gut geht – und mit gut geht meine ich, dass keine Populisten in die Regierungen kommen in diesen Ländern -, dass dann tatsächlich ein neuer Schub für die europäische Integration ausgenutzt werden soll, um den Integrationsprozess voranzubringen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.