Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Zukunft der Kirche
"Das Wichtigste ist die Verkündigung des Evangeliums"

Der Münchner Erzbischof, Reinhard Kardinal Marx, beklagt eine zu starke Fixierung auf die Institution Kirche. "Nicht die Kirche soll attraktiv sein, sondern das Evangelium soll attraktiv sein", sagte Marx im Deutschlandfunk. Nur so könne Christus in der Gesellschaft lebendig bleiben.

20.04.2014
    Kardinal Reinhard Marx lächelt, vor ihm ein Mikrofon, hinter ihm auf einem Gebäude der Schriftzug "Bischöfliches Priesterseminar Borromäum"
    Reinhard Kardinal Marx ist Erzbischof von München und Freising sowie Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. (dpa / Rolf Vennenbernd)
    Matthias Gierth: Herr Kardinal Marx, die Christen begehen das Fest der Auferstehung Jesu. Weihnachten wird bei uns relativ breit gefeiert - Ostern dagegen scheint für weite Teile der Bevölkerung eher zu einem verlängerten Wochenende mutiert zu sein. Warum kann Ostern einer multireligiösen, in weiten Teilen säkularen Gesellschaft offensichtlich nur mehr so wenig sagen?
    Kardinal Marx: Na ja, zunächst einmal habe ich mich sehr gefreut, dass fast 80 Prozent bei einer Umfrage in Deutschland gesagt haben: "Ostern, das hat etwas zu tun mit der Auferstehung Jesu Christi." Gut, das heißt noch nicht, wie man es dann selber praktiziert. Natürlich haben sich die Lebensverhältnisse verändert. Wir haben Osterferien. Und ich glaube, dass bei vielen jungen Familien auch wieder das Interesse da ist, Rituale miteinander zu feiern. Das kann nicht so sein, wie es vielleicht in früheren Jahrzehnten in einer mehr geschlossenen Gesellschaft gewesen ist, aber ich bin da nicht pessimistisch. Es gibt sehr, sehr viele, die sich wieder auf den Weg machen, auch die Karwoche mitfeiern. Ich habe die Erfahrung, immer gut besuchter Gottesdienste. Es ist nicht so, als würde ich vor leeren Bänken predigen. Und das gilt ja für die Pfarreien auch in der Regel.
    Gierth: Jetzt weisen Sie auf quantitative Untersuchungen hin. Wenn man allerdings qualitative Untersuchungen anschaut, dann zeigt sich doch, dass auch Christen Schwierigkeiten mit diesem Fest haben. Denn viele Gläubige können doch mit der Lehre von der Auferstehung immer weniger anfangen. Welche Zukunft hat eine Religion, deren innerster Kern offensichtlich doch nicht mehr so verstanden wird?
    Kardinal Marx: Auch das ist eine Frage auch an die Vergangenheit, ob das wirklich alles so verstanden wurde. Wir haben eine normale, selbstverständliche Praxis gehabt des Glaubens, aber wenn Sie vor 50 oder 80 oder 100 Jahren jemanden gefragt hätte: "Können Sie etwas anfangen mit der Dreifaltigkeit Gottes?" Hätte er vielleicht den Katechismus auswendig sagen können. Aber ist es zu einer inneren Überzeugung geworden? Wir stehen jetzt vor der Herausforderung, den Glauben ganz neu zur Sprache zu bringen, anziehend zu machen. Sodass Menschen nicht einfach nur mitgehen, weil es immer so Tradition war, sondern innerlich sagen: "Es ist eine anziehende Botschaft, die sagt mir etwas, dass der Tod nicht das letzte Wort hat und dass mein Leiden und mein Sterben einen Sinn hat, ein Ziel hat." Das gilt auch für die vielen Menschen, die in ungerechter Weise vergewaltigt und umgebracht werden.
    Gierth: Sie sprechen die Themen "Leid" und "Tod" an – das Christentum ist eine sehr leidsensible Religion. Wenn Sie einmal auf Deutschland schauen, wo ist unsere Gesellschaft, wo sind aber vielleicht auch die Kirchen zu wenig leidsensibel?
    Einsamkeit im Alter nimmt zu
    Kardinal Marx: Ostern ist nicht einfach nur das Happy End nach einer schrecklichen Geschichte, sondern Ostern nimmt das Leid der Menschen ernst. Und es kann keinen christlichen Glauben geben, der sich abwendet vor Leid, Tod, Hunger. Und möglicherweise haben wir uns in einer wohlbestallten Wohlstandsgesellschaft auch gewöhnt daran, das zu übersehen. Aber ich glaube, gerade eine christlich geprägte Gesellschaft hat immer noch den Blick auch für das Leiden. Wenn ich etwa an die konkrete Herausforderung denke bei den Flüchtlingen, das nimmt ja an Zahl zu. Ich bin eigentlich erstaunt - auch wieder positiv -, ich habe den Eindruck, dass gerade in unseren Pfarreien viel sensibler damit umgegangen wird als vor einigen Jahrzehnten. Und die Leute engagieren sich auch. Sie möchten auch helfen, sie möchten nicht wegschauen. Ich bin da nicht so pessimistisch.
    Gierth: Noch mal die Frage: Wo sehen Sie Wunden unserer Gesellschaft, die gären, die auch zu wenig in den Blick genommen werden?
    Kardinal Marx: Ja, einmal das, was ich genannt habe. Ein anderer Punkt ist tatsächlich die Einsamkeit im Alter. Wir werden viele demente Menschen auch haben. Das wird eine bedrückende Situation und manche Familien werden die Last auch nicht tragen können. Da brauchen wir eine solidarische, eben in diesem Sinne leidsensible Gesellschaft. Wir werden auch eine starke Altersarmut bekommen - da hilft auch der Mindestlohn noch nicht. Und das sind natürlich Bereiche, wo eine Gesellschaft noch mal den Testfall erlebt, ob sie leidsensibel ist oder nicht, ob sie armutsfeste Verhältnisse aufbaut oder mit Armut einfach leben will. Und wir haben bis jetzt den Konsens gehabt: Wir wollen eine Gesellschaft, in der Armut bekämpft wird.
    Gierth: Sehen Sie den schwinden, den Konsens?
    Kardinal Marx: Ich bin jedenfalls vorsichtig. Ich passe auf. Es gab eine Tendenz - jedenfalls in der Vergangenheit, vielleicht hat sich das etwas gebessert –, gerade in einer Zeit, als wir so einen ausgeuferten Kapitalismus zelebriert haben, einen Kasino-Kapitalismus, seit den Neunzigerjahren, da war schon so ein bisschen das Gefühl da: "Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht, jeder soll mal für sich selber sorgen, das ist die beste Vorsorge." Das ist auch nicht hundert Prozent verkehrt, jeder ist auch verantwortlich für sein eigenes Leben, aber man kann nur Verantwortung für sich übernehmen in Gemeinschaft mit anderen. Wir sind nicht alleine auf der Welt und für uns alleine verantwortlich! Wir leben immer in Beziehungen, auf andere zu und mit anderen zusammen!
    Über Reinhard Kardinal Marx
    Reinhard Marx wurde 1953 in Geseke geboren. Er studierte Theologie und Philosophie in Paderborn, Paris, Münster und Bochum und promovierte 1989 zum Doktor der Theologie. 1979 wurde Marx in Paderborn zum Priester geweiht, 1996 folgte die Bischofsweihe. Nach seiner Tätigkeit als Weihbischof im Erzbistum Paderborn wurde er 2001 zum Bischof von Trier ernannt. 2008 wurde der aus Westfalen stammende Marx Erzbischof von München-Freising. 2010 nahm ihn Papst Benedikt XVI. ins Kardinalskollegium auf. Seit März 2014 ist er Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.
    Gierth: Eine Frage, die Deutschland zurzeit umtreibt, ist die Diskussion um die Sterbehilfe. Die katholische Kirche sagt zu allen Formen der Selbsttötung Nein, warum?
    Kardinal Marx: Ja, weil das Leben ein Geschenk ist. Aber auch hier an diesem Punkt - erst mal ist es sehr schwierig, die einzelnen Situationen immer wieder anzuschauen, in welcher Schwierigkeit ein einzelner Mensch steht, der sich diese Frage stellt: "Ist mein Leben noch etwas wert?" Aber der Ausgangspunkt entspricht dem, was wir eben diskutiert haben. Es geht letztlich um Beziehungen. Es geht darum, ob Menschen in den Beziehungen erfahren: "Mein Leben ist sinnvoll, ich bin angenommen und geliebt." Es kann nicht darum gehen, dass wir uns jetzt überlegen: "Wie können wir Menschen helfen, dass sie sich selber töten?" Sondern: "Wie können wir Menschen vermitteln, dass sie auch in der Stunde, wo es schwer ist, den Eindruck haben: Ich bin geliebt und angenommen." Deswegen sind wir als Kirche ja sehr stark für die Palliativmedizin, die Hospizbewegung, das ist auch - Gott sei Dank – sehr stark eine ökumenische Bewegung. Aber auch viele Menschen, die nicht Christen sind, engagieren sich dort, um Menschen zu helfen, menschenwürdig zu sterben, aber nicht aktiv sozusagen die Selbsttötung von Menschen zu befördern – organisiert oder erst recht nicht dann auch noch wettbewerbsorientiert. Also im Grunde ist die Botschaft der Kirche nicht ein Nein, sondern ein positives Ja zu einer Begleitung von Menschen in schwierigen Situationen und im Sterben. Aber ein Nein dazu, dass eine Gesellschaft sich jetzt aufmacht, sozusagen Selbsttötungen zu erleichtern und Menschen dann beim Töten zu helfen, sondern während des Sterbens dabei zu sein, das ist die Botschaft, die wir bringen müssen.
    Gierth: Jetzt weisen Mediziner ja darauf hin, dass mit der Palliativmedizin zwar in vielen Fällen geholfen werden kann, dass es aber trotzdem Situationen gibt, in denen Schmerzlinderung nicht mehr erreicht werden kann. Wo liegen eigentlich die Grenzen einer normativen Ethik, die - Verbot von Suizid - allgemeingültige Aussagen für alle treffen will?
    Kardinal Marx: Zunächst einmal sagen die Mediziner schon, soweit ich es wahrnehme, dass das doch eine Ausnahme ist.
    Gierth: Eine Ausnahme, aber die es gibt.
    Kardinal Marx: Eine Ausnahme, die es gibt. Und ich glaube, man muss in dieser Überlegung: Wie kann man menschenwürdig sterben tatsächlich - und das ist eine Diskussion, die schon seit Jahrzehnten geht - versuchen, die schmerzlindernden Mittel auch dann, wenn sie sogar das Sterben befördern, anzuwenden. Das ist eine lange Lehre der Kirche. Eine direkte Tötung des Menschen ist nicht möglich - das gilt für keine Situation. Wer will das verantworten?
    Gierth: Wobei es hier ja um möglicherweise den selbstbestimmten Wunsch eines Menschen geht, zu sterben?
    Kardinal Marx: Ich glaube, in den Extremsituationen sollte man auch wirklich in einer guten Diskussion auf den Einzelfall schauen können. Das ist also eine theoretische Konstruktion eines extremen Falles. Man muss dann wirklich, wenn man die Philosophie und den Glauben hat, Menschen nicht aktiv zu töten oder ihnen zu helfen, sich selber umzubringen, muss man alles tun, was auch in einer Möglichkeit ist. Und dann miteinander sprechen auch darüber. Das würde ganz verkehrt sein, von einem Extremfall her möglicherweise generelle Regeln dann aufzustellen.
    Gierth: Der Bundestag plant bis zum Herbst eine Neuregelung der Sterbehilfe, nachdem die schwarz-gelbe Koalition sich dazu nicht in der Lage gesehen hatte. Welche Folgen hätte aus Ihrer Sicht eine Lockerung des Sterbehilfeverbotes?
    Lockerung des Sterbehilfeverbotes ist flasches Signal
    Kardinal Marx: Ja, es ist also mal ein Signal, das in die falsche Richtung geht: dass wir uns zurückziehen können, menschenwürdig sterben auch in unserer Gesellschaft zu ermöglichen, und wir die Impulse schwächen, eben in diese Richtung: Hospizarbeit und Palliativmedizin. Übrigens bin ich sehr froh darüber, dass die Große Koalition offensichtlich da eine breite Debatte auch im Parlament will: Menschenwürdig sterben. Und ich hoffe, dass daraus eine gesellschaftliche Debatte wird, denn das wird ein großes Thema für die Zukunft werden. Und wenn wir es diskutieren unter dem Motto: "Na ja, im Grunde gibt es auch Wege, sich zu verabschieden" und wir erleichtern das, das gibt ja den alten Menschen einen ungeheuren Druck auch. Viele empfinden ja, das sie überflüssig sind, dass sie den Eindruck haben: "Ich falle ja anderen zur Last – ich möchte anderen nicht zur Last fallen." Also im Grunde genommen wird der Druck auf die Menschen erhöht durch eine Erleichterung, durch das Signal: "Man kann sich ja auch selber aus dem Verkehr ziehen und andere helfen dabei." Unerträglich! Ich halte das für ein völlig falsches Signal in eine menschenunwürdige Gesellschaft. Und wir als Kirche haben die Verpflichtung dann, eben auch durch unsere Hospizgruppen, durch die Palliativarbeit, durch das, was in den Pfarreien passiert, zu sagen: "Wir wollen nicht nur sagen, was nicht geht, wir wollen das Angebot machen: Wie kann man Menschen auch wirklich begleiten im Sterben." Und wir haben die Erfahrung in den Hospizen, dass der Wunsch zur Selbsttötung verschwindet, wenn Menschen den Eindruck haben: "Ich werde begleitet, Menschen sind da, die mir wohlwollen, die zu mir stehen." Und das ist doch geradezu ein großer Auftrag, gerade der Christen heute.
    Im Krankenhaus hält eine Krankenschwester in der einen Hand eine Spritze, die andere Hand ist an einem Tropf.
    Marx: "Wir wollen Menschen wirklich begleiten im Sterben." (picture alliance / dpa / Foto: Sami Belloumi)
    Gierth: Trotzdem spricht ja aus den meisten Umfragen, die es zu diesem Thema gibt, immer wieder der Wunsch der Menschen, selbstbestimmt sein eigenes Leben zu führen und dann eben auch zu beenden. Warum erreicht die Kirche die Gesellschaft mit ihrer Position da nur so schwer?
    Kardinal Marx: Na ja, alle sind sicher nicht der Meinung. Außerdem ist das ja auch eine gewisse egoistische Haltung. Es ist genau wieder im Grunde der Endpunkt der Entwicklung, die wir am Anfang diskutiert haben. Das ist mein Leben! - Stimmt das? Ich meine, auch für einen nichtgläubigen Menschen. Das ist nicht mein Leben, mein Leben ist immer verflochten mit anderen. Ich bin vielleicht Vater/Mutter geworden, habe Freunde/Freundinnen, Kinder, Angehörige. Mein Leben? Und darüber muss ich ganz alleine bestimmen?! Das ist doch nicht richtig! Das ist doch ein Egoismus ganz eigener Art, der eine Fortsetzung ist des anderen Egoismus! Und das ist natürlich ein Trend in der Gesellschaft, dass man im Grunde genommen individualistisch um sich selber kreist. Aber das ist doch nicht unser Leben! Das ist doch ein Irrtum! Mein Leben gehört nicht nur mir - mein Leben gehört auch denen, mit denen ich zusammenlebe, für die ich Verantwortung übernommen habe, mit denen ich verbunden bin, die mich lieben, die mich hassen - was weiß ich! Mein Leben ist nicht mein Leben, sondern das gehört in einen großen Kontext hinein.
    Gierth: Eine andere Frage, bei der die Positionen der eigenen Gläubigen und der Kirche durchaus auseinandergehen, ist die Ehe- und Sexualmoral. Die durch den Vatikan angestoßene Befragung hat das gezeigt. Immerhin bei der Frage des Umgangs mit wieder verheiratet Geschiedenen scheint Bewegung in die Debatte gekommen zu sein. Welche Lösungen sehen und wünschen Sie sich selbst?
    Kardinal Marx: Wir sind dafür, dass zwei Menschen, die einander das Ja-Wort sagen, es in einer verbindlichen Weise tun - und die Menschen wollen das auch.
    Gierth: Aber sie erreichen das Ziel eben nicht mehr, zumindest ein Drittel?
    Wunsch nach lebenslanger Partnerschaft
    Kardinal Marx: Ja, aber sie wollen es. Also man kann nicht sagen: Die Lehre der Kirche kommt nicht mehr an, sondern die meisten Menschen, mit denen wir zu tun haben, wollen bei der Hochzeit nicht wechselnde Partner, sondern sie wollen mit dem Partner, und zwar für immer zusammen sein. Jetzt geht es darum: Wie können wir ihnen helfen, dieses Ziel zu erreichen und nicht ...
    Gierth: Meine Frage war dorthin gehend: Wie gehen Sie mit denen um, die es nicht erreichen?
    Kardinal Marx: Ja, aber nun zunächst einmal muss man doch das Erste deutlich machen: Leben die Leute im Widerspruch zur Lehre der Kirche oder scheitern sie an dem Ziel, was sie selber auch haben? Das ist etwas anderes. Das heißt, ich glaube nicht, dass der Unterschied einfach ist zwischen dem, was im Evangelium steht und was die Lehre der Kirche entfaltet und dem, was die Leute eigentlich auch wollen, sondern sie möchte eigentlich schon, sie möchten auch Hilfen, dass sie es erreichen. Sie sagen sich dann: "Was mache ich, wenn ich das Ziel nicht erreiche, wenn ich scheitere in meinem Leben?" Wie geht die Kirche, wie gehen wir als Glaubensgemeinschaft damit um?
    Gierth: Genau. Und da sagt die Kirche bisher: "Dann darfst du nicht mehr an den Sakramenten teilnehmen, dann darfst du nicht mehr bei uns arbeiten, wenn du beispielsweise wieder heiratest und Kindergärtnerin bist."
    Kardinal Marx: Ja, es gibt gewisse Spannungen dann zusagen: Kann ich dann noch in der vollen Weise in einer führende Position da sein? Es heißt nicht, dass jeder entlassen wird. Das ist ja auch heute nicht der Fall. Es gibt keinen Automatismus in diesem Bereich. Aber es gibt eine Frage, an der wir auch arbeiten müssen: Wo müssen wir dieses Zeugnis des ganzen Lebens dann in gewisser Weise auch im Arbeitsverhältnis abbilden? Etwa, wenn einer Leiter einer katholischen Schule ist oder wenn einer Pastoralreferent/Pastoralreferentin ist und so weiter.
    Gierth: Welche Lösung wünschen Sie sich?
    Scheitern des Ja-Worts ist "etwas Gewaltiges"
    Kardinal Marx: Aber jetzt, daran muss man arbeiten - aber nicht im Sinne von: "Na ja, das Ziel ist ja sowieso verkehrt", - also Unauflöslichkeit der Ehe - "Wer glaubt denn daran noch?! Das lassen wir mal alles beiseite. Das räumen wir mal ab." Das kann ja nicht die Lösung sein. Sondern wir müssen doch diese Verheißung Jesu, die ja nicht ein Oktroy ist, das den Leuten aufgezwungen wird, sondern wo Jesus eine Verheißung ausspricht: Das Ja-Wort, das ihr einander gebt, das Ja-Wort wird durch das Ja-Wort Gottes bestätigt und ratifiziert. Und wenn das jetzt scheitert, dann ist das nicht irgendeine Kleinigkeit, das ist schon etwas Gewaltiges – und so empfinden das die Leute ja auch. Es wäre verheerend, wenn wir darüber hinweggehen und sagen: "Na ja, kein Problem, dann machen wir eben mit der zweiten oder dritten Ehe weiter." Das ist eben ein Nicht-Ernstnehmen. Und die Diskussion, die im Augenblick geführt wird, ist da manchmal in der Gefahr. Aber Sie haben Recht, die Christen, die in einer schwierigen Situation sind im Einzelfall - man muss auf die einzelnen Fälle schauen, es gibt keine generellen Lösungen -, da muss es pastorale Neuanfänge geben. Und darüber wird ja auch nachgedacht, und das ist eine breite Diskussion nicht erst jetzt, sondern seit vielen Jahren in der pastoralen Praxis. Da habe ich immer schon auch die Pfarrer ermutigt, den pastoralen Einzelfall auch zu gewichten und mit den Menschen zu sprechen. Das muss man tun. Aber zu meinen, es gäbe hier generelle Lösungen, wo wir einfach sagen können: "Die Kirche hat keine Probleme mit der zweiten oder dritten Ehe", das kann man sicher so nicht sagen. Sie wird immer schauen: Wie ist der Weg des Einzelnen gegangen. Und da darf es nicht das Empfinden geben - so habe ich es immer formuliert -, dass Menschen, die sich wirklich mühen und manchmal einen schwierigen Weg hinter sich haben, das Empfinden haben: "Jetzt sind wir Christen zweiter Klasse" - das darf nicht sein.
    Goldene Eheringe liegen in einer blumengeschmückten Schale auf dem Tisch des Standesbeamten im Trauzimmer im Rathaus in Freiburg.
    Das Ja-Wort wird durch das Ja-Wort Gottes bestätigt und ratifiziert (AP)
    Gierth: Einzelfalllösungen, sagen Sie, das hat letztlich auch Kardinal Kasper in Rom bei seinem Referat zu diesem Thema ausgeführt. Er ist dafür von etlichen Kardinälen scharf kritisiert worden. Nicht zuletzt der Präfekt der Glaubenskongregation lehnt Veränderungen kategorisch ab. Der Papst hat Kasper ausdrücklich gelobt. Als wie groß nehmen Sie den Riss war, der in dieser Frage, wie auch in anderen Reformfragen, durch die Leitungsgremien der katholischen Kirche geht?
    Kardinal Marx: Ja, es ist nicht eine belanglose Frage, um die es geht eben. Es geht schon darum: Kann veränderte Praxis auch dazu führen, dass das von Jesus so stark – siebenmal in Neuen Testament - unterstrichene Scheidungsverbot, kann das geschmälert werden, dieser Anspruch der Unauflöslichkeit der Ehe? Und das will natürlich niemand – da sind die Kardinäle und auch die Theologen sich einig. Und da sehe ich schon, das kann schon zu einer intensiven Debatte führen - würde ich mal vorsichtig sagen. Das geschieht ja auch und der Papst will das der Synode überantworten. Und deswegen ist es, glaube ich, nicht gut, in einem solchen Prozess zu sagen: "Da bewegt sich niemals etwas" oder "Das wird auf jeden Fall so kommen" und so weiter - sonst brauchen wir ja keine Synode, kein Gespräch. Ich habe eigentlich nichts dagegen und der Papst - so ist mein Eindruck - ermutigt das, dass auch eine solche schwierige Auseinandersetzung offen geführt wird. Ich wünsche mir nur sehr, dass es hier nicht zu Diskussionen kommt im Sinne: Wer ist der bessere Katholik? Sondern wirklich zu einer geschwisterlichen, geistlich tiefen, theologisch verantwortbaren Diskussion, die notwendig ist und die auch natürlich ein Beispiel ist vielleicht für andere Diskussionen, die wir führen über die Zukunft der Kirche.
    Gierth: Sie erleben den Papst als Mitglied seines Beratergremiums ja aus nächster Nähe. Ist von diesem Papst zu erwarten, dass er die katholische Kirche nicht nur in Stilfragen, sondern auch inhaltlich nachhaltig verändern wird?
    Kardinal Marx: Ja, das ist es sicher. Aber es ist ein Papst eben, der nicht einfach alleine entscheidet, sondern er wird versuchen, möglichst einen breiten Prozess zu gehen. Aber er ist kein Papst des Stillstandes. Das ist er sicher nicht. Und er möchte schon, dass wir uns den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen, dass das Evangelium neu zum Klingen kommt.
    Gierth: Ein Grund für Ihre Wahl zum Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz war, dass Bischöfe auf Sie gesetzt haben als denjenigen, der direkten Zugang zum Papst und damit in gewisser Weise Einfluss hat. Wofür wollen Sie Ihren Einfluss nutzen?
    Kardinal Marx: Natürlich bin ich auch in gewisser Weise auch in Rom Sprecher der deutschen Bischöfe, aber nicht nur. Ich bin ja in den Kardinalsrat nicht gekommen als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, sondern aus anderen Gründen offensichtlich. Das muss man ein wenig trennen. Ich bin jetzt nicht permanent der Vertreter nur deutscher Interessen, sondern als Kardinal ist man auch auf die Weltkirche bezogen. Aber ich denke, im Sinne dessen, was auch in der Deutschen Bischofskonferenz diskutiert wird, fühle ich mich schon verpflichtet, dann die Sorgen und Nöte, die gerade hier in unserer offenen, säkularen, pluralistischen Gesellschaft da sind, für die Verkündigung des Evangeliums, dass ich diese Sorgen auch weitergeben kann.
    Gierth: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Heute mit Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Herr Kardinal, Sie haben nach Ihrer Wahl zum Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz davon gesprochen, dass die katholische Kirche in Deutschland aus der Defensive kommen müsse. In der Tat haben ja zuletzt Limburg, vorher der Streit um die Pius-Brüder und natürlich vor allem der Missbrauchsskandal zu einer enormen Glaubwürdigkeitskrise der katholischen Kirche geführt. Wie wollen Sie konkret einer Gesellschaft, die doch in vielen Teilen wenig mehr von der Kirche erwartet, eben diese Kirche attraktiv machen?
    Verkündigung des Glaubens ist wichtig
    Kardinal Marx: Nicht die Kirche soll attraktiv sein, sondern das Evangelium soll attraktiv sein. Die Kirche ist ein Instrument. Vielleicht ist tatsächlich zu stark die Kirche im Mittelpunkt. Es geht immer um die Zukunft der Kirche - die Zukunft der Kirche ist doch nicht das Thema. Die Zukunft des christlichen Glaubens in unserem Land ist das Thema! Also zu meinen: "Aha, die katholische Kirche hat da ein gewisses Problem", greift ja viel zu kurz. Das betrifft uns ökumenisch, alle miteinander, auch die evangelische Kirche. Also die paar Skandale - es wird immer mal wieder etwas geben, was in der Kirche nicht richtig läuft und das ist schlimm genug. Und es ärgert mich natürlich maßlos, dass dann dadurch das Eigentliche, wozu Kirche da sein soll, verstellt wird aus eigener Schuld, die wir selber dann verbockt haben sozusagen. Und deswegen muss erst mal deutlich werden: Können wir das Evangelium neu zur Sprache bringen, nicht die Kirche! Das müssen wir vielleicht erst mal selber lernen: Wozu sind wir als Kirche unterwegs? Nicht zur Selbsterhaltung, auch in einer gewissen Häuserkampfmentalität: Was können wir alles noch erhalten? Wie können wir unsere Mauern sichern gegen die Angriffe der Feinde? Das ist alles ein Denken, was mir sehr, sehr fremd ist. Sondern die Kirche hat ja als Einziges den Auftrag, das Evangelium zu verkünden. Das kann sicher besser werden. Deswegen wundert mich nicht, dass der Papst einen großen Schwerpunkt legt auf die Predigt, dass Menschen rausgehen aus der Kirche nachher und sagen: 'Ich habe hier ein Wort mitgenommen, was mich aufrichtet, was mich neugierig macht, was mich auf Christus ausrichtet. Dann, von der Haltung, die ich eben auch genannt habe: Die Kirche sollte nicht ständig erscheinen als eine, die am Wegesrand steht und immer sagt, was alles nicht geht, wogegen wir sind. Das wissen viele dann sehr schnell, wogegen die katholische Kirche ist. Wofür sind wir denn? Auch im moralischen Sinne, auch im Sinne des Zusammenlebens der Menschen? Also mir kann doch niemand erzählen, das Evangelium wäre unattraktiv. Also wir müssen uns da schon selber überlegen, wie wir das verbessern und wie wir da bessere Wege gehen. Das kann ich als Vorsitzender natürlich nicht, ich bin nicht der Papst von Deutschland, das ist Aufgabe der Bischöfe, der Priester, aller Verantwortlichen. Aber ich verstehe mich als ein Sprecher, als ein Moderator auch, aber auch als einer, der auf einer bundesweiten Ebene auch inspirieren und Mut machen kann dazu.
    Gierth: Trotzdem fehlen ja die Prediger vielfach in den katholischen Gemeinden. Jede andere Organisation würde sich vor diesem Hintergrund dringendst Gedanken darüber machen, ob sie nicht etwa durch den Einsatz von Frauen - Diakoninnen, um gar nicht das Wort Priesterinnen in den Mund zu nehmen - und bewährten verheirateten Priestern, die Not ihrer Gläubigen lindern könnte?
    Kardinal Marx: Na ja, die Not ist ja vielschichtig, sagen wir mal. Wenn man natürlich sagt: "Ich interessiere mich eigentlich nur für Religion, wenn das alles genau zu der Zeit stattfindet und an dem Ort stattfindet, wo ich lebe", dann wird das sicher auch schwierig sein, eine flächendeckende Pastorale zu haben, wie wir sie uns vielleicht seit den 150 Jahren erst möglich gemacht haben.
    Gierth: Also es gibt gar keinen...
    Kardinal Marx: Aber wir haben ja nicht zu wenige Prediger, das glaube ich nicht. Wir haben also viele Pastoralreferenten. Es predigen schon sehr, sehr viele. Und...
    Gierth: Aber wir haben zu wenige Priester?
    Kardinal Marx: Zu wenig – zu viel. Natürlich haben wir zu wenige. Aber es geht doch darum, ob die, die Predigen, wirklich brennen. Es geht doch nicht um die Menge der Prediger! Es geht doch nicht um die Menge der Gläubigen! Es geht doch darum, ob genügend da sind, die brennen - burning persons - die gerne katholisch sind! Wir denken in dem System. Wir möchten das System, was da ist, eigentlich erhalten und das kann ich auch verstehen. Aber wir müssen uns, glaube ich, auch in der jetzigen Situation der Kirche fragen: Wie muss sich das Gesamtsystem auch neu einstellen auf eine Situation, die anders ist als vor 50 oder 100 Jahren? Und da brauchen wir eine neue Sammlung des Gottesvolkes, wir brauchen eine Qualifizierung, wir brauchen eine Mitarbeit aller. Alle Getauft und Gefirmten sind eingeladen, am Glauben und Leben der Kirche teilzunehmen und auch das zu bezeugen. Wir haben eine Vielfalt von Laienberufen - Gott sein Dank. Wir haben Diakone. Wir haben Männer und Frauen als Gemeindereferenten/Pastoralreferenten. Wir haben auch viele gute Priester.
    Gierth: Aber Diakoninnen darf es trotzdem nicht geben?
    Kardinal Marx: Das ist nicht endgültig geregelt, aber es ist nicht in der kirchlichen Ordnung vorgesehen - bei Priestern ja auch nicht. Also das ist ja nicht das Thema. Also man muss nicht immer sagen oder man muss nicht immer Lösungen suchen, wo es jetzt nicht geht. Man sucht immer die Punkte, die jetzt nicht gehen oder auch nicht denkbar sind und sagt: "Aha, weil das nicht geht, ist die Lösung nicht da." Sondern man soll doch erst mal anfangen bei dem, was auch wirklich möglich ist und nicht sagen: "Aha, wenn das nicht passiert, dann kann das nicht gut gehen. Und wenn wir keine Priesterinnen bekommen, dann ist es vorbei." Das kann doch nicht sein.
    Gierth: Sie haben das Stichwort Ökumene angesprochen, das Miteinander von evangelischer und katholischer Kirche in Deutschland. Müssten beide Kirchen vor dem Hintergrund, den Sie jetzt auch skizziert haben, eigentlich nicht viel häufiger zusammen in der Öffentlichkeit auftreten?
    Kardinal Marx: Ja, das tun wir ja schon jetzt mit der Ökumenischen Sozialinitiative.
    Gierth: Aber das war seit Langem mal wieder ein gemeinsamer Gang in die Öffentlichkeit - das hat es lange nicht gegeben?
    Kardinal Marx: Das stimmt. Also ich bin immer dafür, wo es möglich ist, das auch zu tun, wenn es geht. In manchen Fragen sind wir eher wieder auseinandergeraten, was die Ehe- und Familienfragen angeht, und das ist natürlich bedauerlich. Man muss sich bemühen, da, wo wir gemeinsame Positionen haben, sie auch gemeinsam zu verkünden. Und da sage ich noch einmal: Es sind nicht nur die moralischen Fragen, es geht um die Verkündigung des Glaubens. Das müssen wir gemeinsam bezeugen erst mal ökumenisch und nicht ständig reduziert werden sozusagen: Die Kirchen sind dazu da, dass dieser moralische Kitt der Gesellschaft noch funktioniert - das ist doch nicht das Erste und Wichtigste. Das Wichtigste ist die Verkündigung des Evangeliums. Und das Evangelium ist nicht ein Moral zuerst - auch, aber nicht das Erste -, sondern ein Ereignis, eine Person, der wir begegnen, mit der wir in Kontakt treten. Und das ist eine ökumenische Aufgabe, dass Christus lebendig bleibt in dieser Gesellschaft.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.