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Zum 80. Geburtstag von Hans Magnus Enzensberger

Hans Magnus Enzensberger, zweifellos einer der großen zeitgenössischen Intellektuellen, der sich in vielen literarischen Genres Verdienste erworben hat, beschäftigt sich dabei auch immer mit unterschiedlichen aktuellen Themen. Jetzt veröffentlicht der Suhrkamp Verlag in der neuen Edition Unseld zwei Aufsätze, die sich mit Mathematik und Wahrscheinlichkeitsrechnungen beschäftigen.

Eine Rezension von Hans-Martin Schönherr-Mann | 11.11.2009
    Stellen Sie sich vor, Sie lassen vom Arzt einen Test machen, ob Sie eine bestimmte Krebserkrankung bedroht. Das Verfahren hat bisher zu 79 Prozent zu richtigen Prognosen geführt, in 21 Prozent der Fälle hat es sich als unzuverlässig erwiesen. Jetzt stellen Sie sich noch mal vor, der Arzt verkündet Ihnen, dass Sie in der Tat mit einer Erkrankung gegebenenfalls rechnen dürfen. Mit welcher Wahrscheinlichkeit werden Sie dann an Krebs erkranken? Etwa mit 79 Prozent, wie Sie jetzt vorschnell fürchten werden? Das unterstellt Ihnen jedenfalls Enzensberger, um sie dann zu beruhigen: Nein, nur mit 4,6 Prozent. Wieso, werden Sie überrascht fragen. Nun, Sie kennen wohl das Theorem von Bayes nicht!

    Oder stellen Sie sich vor, Ihre DNA stimme mit der eines Sexualverbrechers überein. Sie sind derselbige, wird folglich der Richter urteilen. Molekulargenetiker versichern, dass es bei einer DNA-Analyse nur in einem von einer Milliarde von Fällen zu einem Fehler kommt. Mit so einem Justizirrtum muss man nun mal leben, um die vielen anderen Fälle aufklären zu können, auch wenn ausgerechnet Sie dafür das Opfer bringen müssen. Es dient einem guten Zweck.

    Und warum hat niemand - hier wird Enzensberger hochaktuell - die Finanzkrise vorausgesehen? Nun, das liegt daran, dass die Wirtschaftswissenschaften ihre Prognosen regelmäßig auf die Gauß'sche Normalverteilung stützen, die eigentlich von Abraham de Moivre aus dem 18. Jahrhundert stammt. Gemäß einer Glockenkurve kommen die Ausnahmesituationen nur äußerst selten vor und werden daher statistisch nicht beachtet, obwohl sie zumeist große Folgen nach sich ziehen: man denke an einen Meteoriteneinschlag, der nur alle zwei bis drei Millionen Jahre einen großen Krater erzeugt. Trotzdem ist es wahrscheinlicher daran zu sterben, als den Jackpot zu knacken.

    Allerdings darf man Enzensberger entgegnen, dass seit Jahren auf die faulen Kredite in den Medien hingewiesen wurde. Doch das Problem des recht dünnen Büchleins ist weniger, dass es etwas aktualitätsheischend und den Absatz fördernd im längeren der beiden kleinen Texte Paradoxien oder Schwächen der Wahrscheinlichkeitsberechnung auf die überall besungene Weltwirtschaftskrise bezieht. Das könnte man verzeihen.

    Vielleicht hätte es die Edition Unseld im andere Fall nicht gedruckt! Denn ansonsten muss man vor diesen Texten eines ja recht erfahrenen Autors nur warnen. Sie sind beide an sehr vielen Stellen höchstens Fachleuten verständlich. Oder kennen Sie etwa das Theorem von Bayes?

    Verstehen Sie etwa das folgende Zitat, mit dem Enzensberger belegen möchte, dass die Entdeckung der komplexen Zahlen durch Wessel und Gauß um 1800 - was diese sind, versucht das Büchlein nicht näher zu umschreiben - später zu diversen Anwendungen führte:

    "Ohne die Gruppentheorie, die auf Pionierarbeiten von Galois, Abel, Lagrange, Cauchy, Lie und andere zurückgeht, gäbe es keine Quantenmechanik. Das Feynmansche Pfadintegral, eine präzisere Reformulierung von Schrödingers Wellengleichungen, wäre ohne die komplexen Zahlen nicht darstellbar; und die Symmetrie der Eichinvarianz geht auf die Gleichungen Maxwells aus dem Jahr 1865 zurück, der natürlich von der Quantentheorie keine Ahnung haben konnte."

    Ja, nicht nur dass Enzensberger en passant ständig Begriffe einfließen läßt, die er nicht erläutert! Er betreibt gar nicht selten ein ziemliches Namedropping, das den Verdacht erweckt, er habe es in der Tat nötig, Kompetenz zu heucheln. Bei der eingangs erwähnten Krebsdiagnostik bedeutet nebenbei gesagt 79 Prozent Zuverlässigkeit auch nicht, dass dann bei 21 Prozent der Untersuchungen falscher Alarm ausgelöst wird, wie er meint. Aber er hält es für angebracht zu erläutern, dass bei medizinischen Untersuchungen ein positives Ergebnis regelmäßig negativ ist - eine Angelegenheit, die spätestens seit Aids, wenn nicht gar aus eigener Erfahrung mit dem Gesundheitswesen doch den meisten bekannt sein dürfte.

    Enzensberger möchte im ersten Text "Fortuna und Kalkül" zeigen, dass man heute gerne, wiewohl vergebens versucht, eine ungewisse Zukunft, genauer den Zufall mittels Mathematik und Statistik vorauszuberechnen. Dagegen demonstriert er im zweiten Text mit dem Titel "Von den metaphysischen Mucken der Mathematik" einen ziemlich naiven Glauben an die Anwendbarkeit der Mathematik, betrachtet er die Technik als Umsetzung mathematischer Theorien. Doch dass diese Theorien just ohne Technologien vom simplen Experiment über Großrechner bis zum Quantenbeschleuniger nicht hätten entwickelt werden können, das scheint ihm entgangen zu sein. Da hätte er mal Martin Heideggers technikphilosophische Aufsätze zu Rate ziehen sollen, die dies schon Mitte des letzten Jahrhunderts vorführen.

    Hans Magnus Enzensberger: "Fortuna und Kalkül. Zwei mathematische Belustigungen", Edition Unseld, Frankfurt am Main 2009, 72 Seiten. 10 Euro.