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Zum 80. Geburtstag von Rainer M. Gerhardt

Einen Tag, bevor der Lyriker, Verleger und Übersetzer Rainer M. Gerhardt 80 Jahre geworden wäre, wurde in der Berliner Akademie der Künste die eine Ausgabe seines Gesamtwerks vorgestellt. Herausgegeben vom Germanisten Uwe Pörksen, der sich seit Jahren mit Gerhardts Werk beschäftigt, kann man anhand von Gedichten, Essays, Radio- und Theater-Texten einen lange zu unrecht vergessenen Autor entdecken.

Von Matthias Kußmann | 08.02.2007
    Freiburg, Ende der 40er Jahre. Die Stadt ist vom Krieg zerstört, nur das Münster steht noch. Rainer M. Gerhardt und seine Frau Renate sind gerade Anfang 20 - und besessen von der zeitgenössischen modernen Literatur, die man nun, nach Ende der Nazi-Zeit, endlich lesen darf. Regelmäßig stellen sie die "fragmente" zusammen, kleine, mit Matrize abgezogene Hefte. Darin stehen Texte von Pound oder William Carlos Williams, die sie selbst übersetzen - und Gedichte von Freunden, wie Klaus Bremer und Hans Magnus Enzensberger:

    " Es muss eine große Anziehungskraft gegeben haben bei diesem Gerhardt. Ein starkes Selbstbewusstsein; manchmal so sehr, dass es andere störte. Aber auch (...) ein enormes frühes Wissen, und dann war er absolut besessen von dem Wunsch, die Weltsprache der Moderne nach Deutschland hereinzuholen und sie seiner Generation zugänglich zu machen und ihr klar zu machen, dass es neuer Sprache und neuer Formen bedürfe, in diesem oft als Vakuum empfundenen Land, nach 45/46. Das war tatsächlich ein Programm, von dem er völlig erfüllt war. "

    Der Germanist Uwe Pörksen beschäftigt sich seit Jahren mit Gerhardts Werk. Ihm gelang es, den lange zu unrecht Vergessenen doch noch mit einer Werkausgabe zu ehren. Sie enthält Gedichte, Essays, Radio- und Theater-Texte; und sie präsentiert den ambitionierten Übersetzer und Verleger. - Als die Nachfrage nach den "fragmenten" wächst, gründet Gerhardt den gleichnamigen Verlag. Von nun an sollen sie gedruckt erscheinen; auch ein Buchprogramm ist geplant - und was für eins! Gerhardt entwirft ein Programm, das zu dieser Zeit einmalig ist. Während das "Kahlschlag"-Programm der Gruppe 47 die deutsche Literatur prägt, setzt er auf Pound, Henry Miller, Max Ernst, Michaux. Die meisten Autoren kennt er persönlich:

    " Sie hatten Verbindung mit einer Gruppe, die bei uns in Deutschland erst in den 60er Jahren richtig durchdrang, das war das "Black Mountain College". Das waren die Lyriker Charles Olson und Robert Creeley. Die kannte er persönlich. Creeley hat ihn besucht, hat bei ihm übernachtet. Die Gerhardts stiegen aus ihrem gemeinsamen Bett, ließen ihn dort schlafen und legten sich auf eine Matte. (Lacht.) Und sie hatten bereits zwei kleine Söhnchen, darüber hat er berichtet, Creeley. Das war eine außerordentlich intensive, durchaus streitbare Verbindung zwischen Gerhardt und seinen amerikanischen Freunden, aber eine sehr fruchtbare. "

    Die Gedichte und Briefe der Freunde sind in der Werkausgabe enthalten - es ist der erste (und bis heute fast einzige) transatlantische Dialog über moderne Lyrik, zwischen Deutschland und den USA. Gerhardts Gedichte lösen sich, wie die der Amerikaner, vom Metrum; er gliedert die Verse in Atemeinheiten, ordnet sie auf dem Blatt um gedachte Achsen, arbeitet mit Montage, Variation und Permutation - ein Vorläufer der "konkreten Poesie". 1953 kommt er einige Minuten im Rundfunk zu Wort. Es ist die einzige erhaltene Aufnahme seiner Stimme:

    " Ich glaube, dass es in Deutschland keine literarische Tradition, ich meine eine lebendig wirksame Tradition, gibt. Aber es gibt eine Tradition des Konformismus. Gewisse Leute verwechseln diese Geschichte mit der Literaturgeschichte. Alle Versuche, nach dem Krieg unternommen in Deutschland, Verständnis und Kontakt zur (...) zeitgenössischen Dichtung der fremdsprachigen Literaturen herzustellen, blieben unzureichend. Und dies, da die Funktionäre der Literatur, damals in Deutschland eingesetzt, selbst weder Wissen noch Willen hatten, die Dinge zu ändern. (...) In anderen Ländern sind die Leistungen der Modernisten nach verhältnismäßig kurzer Zeit für eine Literatur repräsentativ und verbindlich. So sehr sich auch die offizielle Kritik dagegen stemmen möchte: Sie müssen langsam einsehen, dass 20 Jahre später die Literaturgeschichte fast ausschließlich eine Geschichte der Moderne ist! "

    Aber Gerhardt kommt zu früh, die Zeit ist noch nicht reif für seine Ideen. Nur Ernst Robert Curtius erkennt sein Potential und wirbt nachdrücklich für ihn. Und zunächst auch Gottfried Benn. Er ist um 1950 der Repräsentant moderner deutscher Lyrik. Über gemeinsame Bekannte bekommt er ein "fragmente"-Heft in die Hand und ist begeistert. Als ihn der junge Verleger um Mitarbeit bittet, sagt er zu. Aber dann macht Gerhardt einen entscheidenden Fehler. Obwohl er Benn verehrt, wagt er es, öffentlich an dessen Thron zu rütteln. In den "fragmenten" nimmt er sich Benns Gedicht "Quartär" vor:

    Quartär

    Die Welten trinken und tränken
    sich Rausch zu neuem Raum.
    Und die letzten Quartäre versenken
    den ptolemäischen Traum.
    Verfall, Verflammen, Verfehlen,
    in toxischen Sphären, kalt,
    noch einige stygische Seelen,
    einsame, hoch und alt.


    Gottfried Benn sollte sich die gedichte von James Joyce anschauen, da könnte er seinen eigenen vers wiedersehen - nur bescheidener, und schöner. Benn lehnt rückgriffe und sentiment ab. Wir müssen ihm aber bescheinigen, dass seine gedichte rückgriffe und sentiment sind. Sie sind ein sichgehenlassen in gefühlen, in stimmungen, aufgebauscht mit dem technischen können eines mannes, dem es möglich wäre, bei mehr härte und disziplin gegenüber der sprache und gegenüber dem gedicht, wesentliches hervorzubringen. (P 17f.)


    Gerhardts Frau Renate erinnert sich:

    " Wenn Sie mich fragen, war da eine Lust (...), sich mit dem Meister anzulegen - aber immer in dem Vertrauen, dass der kapiert, dass das ein Akt von Sympathie ist. "He Alter, es kommt mir zwar nicht zu, aber: Mach mal voran, wir brauchen weitere Vorbilder, wir brauchen nicht, dass du wiederholst, was du schon gemacht hast!" (Denn das war ja sein Vorwurf eigentlich.) "Sondern wir möchten, dass du weitermachst!" Und der Benn hat das nun ganz falsch ... also wirklich, auf die Leber ist ihm das gegangen! "

    Dann schlägt Benn zurück - in seiner berühmten Rede "Probleme der Lyrik":

    " In der allerletzten Zeit stößt man bei uns auf verlegerische und redaktionelle Versuche, eine Art Neutönerei in der Lyrik durchzusetzen, eine Art rezidivierenden Dadaismus, bei dem in einem Gedicht etwa 16 mal das Wort "wirksam" am Anfang der Zeile steht, dem aber auch nichts eindrucksvolles folgt, kombiniert mit den letzten Lauten der Pygmäen und Andamanesen - das soll wohl sehr global sein, aber für den, der vierzig Jahre Lyrik übersieht, wirkt es wie die Wiederaufnahme der Methode von August Stramm und dem Sturmkreis, oder wie eine Repetition der Merz-Gedichte von Schwitters... "

    Nicht nur Benn ist beleidigt - auch sein Verleger Niedermayer. Und genau mit dem verhandelt Gerhardt über einen Band mit Pound-Übersetzungen. Er verliert den Auftrag, mit dem er und seine Frau sich wohl als Übersetzer etabliert hätten:

    " Heute lesen sich diese Übersetzungen erstaunlich frisch, muss man sagen. Das ist ein interessanter Fall. Die Übersetzerin Eva Hesse, die dann gewählt wurde (...), mit Pound in Verbindung stand und ja auch eine enorme Übersetzungsleistung vollbracht hat, wirkt heute demgegenüber angestaubt. Weniger wörtlich, mehr der Bildungssprache jener Zeit und dem damaligen Lyrik-Bewusstsein eingemeindet. Die Gerhardts befremden durch ihre Übersetzung - das ist von heute gesehen ihre Stärke. "

    Gerhardt gerät in Geldnot, verliert auch noch die Wohnung. Die Familie lebt monatelang in einem Zelt. Deshalb ist bis heute zu lesen, er sei "gescheitert". Aber das ist Unsinn. 1953 findet seine Frau in Karlsruhe eine Stelle - und eine neue Wohnung. Und Gerhardt erhält vom Nordwestdeutschen Rundfunk Aufträge für eine Reihe Radio-Features. Doch seit einiger Zeit wechseln bei ihm manische und schwer depressive Phasen, in denen er nicht arbeiten kann:

    " Es gab überall große Fans unserer Produktion, die warteten nur darauf, dass wieder etwas kommt. Es ging nur darum, dass wir beide uns produktionsfähig erhielten! Wenn dann der produktivste Teil des Teams gelegentlich monatelang Arbeitsausfälle hat, wird das schwierig, dann kommt das ins Stocken. Aber das war kein Grund für den Untergang! Die Lage des Verlags (...) war eigentlich in trockenen Tüchern, als er sich entschloss, aus dem Leben zu gehen. Es gab keinen Grund, den man mit dem Begriff "Scheitern" hätte bezeichnen können. Man soll wirklich jemandem erlauben, dass die Krankheit ihn überwältigt... "

    Im Sommer 1954 nimmt sich Rainer M. Gerhardt das Leben, er ist 27 Jahre alt. Fünf Jahre später machen Enzensberger und Walter Höllerer die internationale lyrische Moderne in Deutschland bekannt. Jetzt ist die Zeit reif und das Aufsehen groß. An Gerhardt, der das gleiche versuchte, denkt fast keiner mehr. - Im Lauf der Zeit scheitern gleich drei Versuche, seine Texte zu publizieren. Irgendwie scheinen Gerhardt und sein Werk vom Pech verfolgt - jedenfalls bisher. Denn nun, mit der Werkausgabe, wird eine Lücke in der deutschen Nachkriegs-Literatur geschlossen.

    " Die größte Stärke war sein Wille, seine geistige Leidenschaft, seine Aufgeschlossenheit, auch sein absolut sicheres, verblüffend sicheres Urteil, was Qualität angeht. Das drückt sich aus in seinen Aufsätzen, die ich für hervorragend halte. Es gibt nicht allzu viele, aber gerade die konzentrierten Teile etwa in der ersten Zeitschriftennummer sind hervorragend. Es drückt sich aus in den gemeinsamen Übersetzungen. Es drückt sich aus in seinem Verlagsprogramm. Und dass er diesen Sensus hatte, das kann man auch seinen Gedichten ansehen. "

    Rainer M. Gerhardt: Umkreisung. Das Gesamtwerk. Hg. Von Uwe Pörksen unter Mitarbeit von Franz Josef Knape und Yong-Mi Quester. Wallstein Verlag, 544 Seiten.