Freitag, 29. März 2024

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Zum Tod des Autors Willi Fährmann
Menschen schildern, keine Ideologien

"Ich bin überzeugt davon, dass manche Geschichten authentisch nur von den Zeitzeugen erzählt werden können", sagte der Autor Willi Fährmann. Er schilderte in seinen Kinder- und Jugendbüchern - wie "Das Glück ist nicht vorbei gegangen" - eigene und zeitgeschichtliche Erlebnisse. Fährmann ist nun im Alter von 87 Jahren verstorben.

Von Tanya Lieske | 27.05.2017
    Der Untergang der Wilhelm Gustloff wird in Willi Fährmanns Büchern geschildert.
    Der Untergang der Wilhelm Gustloff wird in Willi Fährmanns Büchern geschildert. ( imago/teutopress)
    "Also ich gehöre ja zu den zeitgeschichtlichen Dinosauriern! Sie sterben dahin und ich bin überzeugt davon, dass manche Geschichten authentisch nur von den Zeitgenossen erzählt werden können. Selbst Wissenschaftler kommen zu vorschnellen Urteilen. Das ist uns heute einfach unbegreiflich, was das für eine Zeit war!"

    Willi Fährmann sitzt in seinem Arbeitszimmer in Xanten. Eine ruhige Seitenstraße, ein einfaches Klinkerhaus, doch am Tag meines Besuchs geht es etwas belebter zu als sonst: Das Telefon klingelt, es schellt an der Tür, seine Frau Elisabeth hat Namenstag, und an der Zahl der Gratulanten kann man erkennen, wie sehr das Ehepaar Fährmann geschätzt wird in Xanten am Niederrhein, dort sind sie fast ein halbes Jahrhundert ansässig. Die Siegfried-Stadt Xanten, sagt Fährmann, war ein Glücksfall.

    "Ich war Lehrer in Ruhrort und habe mich hier auf eine Rektorenstelle 1963 beworben, und zu meiner Überraschung habe ich sie dann auch bekommen, denn ich war noch relativ jung, 33 Jahre, große Schule, aber der Jahrgang 1929 war der letzte Jahrgang, der nicht schrecklich ausgedünnt worden ist durch den Krieg. Die Männer waren also rar und Frauen wurden in der Regel noch keine Rektorinnen damals, also kam ich hier hin. Wir kamen ja aus der Großstadt. Wir hatten drei Kinder und uns war klar, dass wir nicht in Duisburg bleiben wollten, zumal wir nicht in einem besonders schönen Stadtteil gewohnt haben. Also haben wir die Gelegenheit genützt. Wir haben ausgemacht, nach einem Jahr werden wir überlegen, ob wir hier bleiben können, eine Kleinstadt hatte ja etwas Anrüchiges. Nach einem Jahr haben wir ein Haus gebaut, wir waren so begeistert."

    Jahrgang 1929 - 80 Jahre alt wird Willi Fährmann in diesem Monat. Er wurde in einfachen Verhältnissen in Duisburg geboren, sein Vater war Schlosser, seine Mutter Schneiderin. Es ist ein Milieu, das von viel Arbeit, engen Familienbanden und einer großen Fürsorge geprägt ist. Eine Bescheidenheit geht damit einher, auch eine Warmherzigkeit, die man sofort spürt, wenn man Willi Fährmann trifft. Sein Lebenswerk ist das des Lehrers, Rektors, Schulrats - und Schriftstellers. Wie bei anderen großen Jugendbuchautoren, etwa bei Otfried Preußler, gehen bei Willi Fährmann der Beruf des Lehrens und des Schreibens eine besonders fruchtbare Verbindung ein. Dabei war es gar nicht so einfach, den Beruf zu finden, denn die Jahre seiner Berufswahl waren die Nachkriegsjahre. Es gab viel zu tun, Deutschland musste wieder aufgebaut werden, andererseits war das Land voll von Heimkehrern und Aussiedlern. Fährmann, der die Natur sehr liebt, wäre am liebsten Förster geworden. In seinen jüngst erschienenen Lebenserinnerungen "Das Glück ist nicht vorbei gegangen" beschreibt Fährmann, wie dieser Jugendtraum zerplatzte, an einem Vormittag des Jahres 1946 im Düsseldorfer Regierungspräsidium.

    Ich packte aus meinem zu einer Tasche umgearbeiteten Schultornister, der mich vom ersten Lebensjahr an begleitet hatte, das Abschlusszeugnis aus und legte es auf einen Schreibtisch. Der Beamte setzte seine Nickelbrille auf, las und sagte: "Nicht schlecht, also was gibt's." - "Ich möchte mich um eine Stelle als Forsteleve bewerben."

    Er legte seine Brille auf den Schreibtisch und sah mich mitleidig an. Sozusagen waidwund, wenn ich es in der Sprache des angestrebten Berufsbildes ausdrücken soll. Er stand schwerfällig auf, ging zu einem Aktenregal, nahm einen Stoß von etwa 20 Heftern heraus und legte ihn vorsichtig vor mich hin.

    "Schau die den Stapel an", sagte er. "Alle in dieser Woche eingegangen. Lauter Revierförster und Oberförster. Sie kommen aus der Kriegsgefangenschaft. Andere sind aus den Ostgebieten vor den Russen geflohen. Sind alle Beamte. Die müssen wir einstellen. Wir können im Rheinland neben jeden zweiten Baum einen Förster stellen."


    "Bergmann und Maurer geht immer, sagte mein Vater, denn die Städte mussten ja wieder aufgebaut werden. Er hätte es gerne gesehen, wenn ich Bergmann geworden wäre, denn es gab ja Fresspakete, Sachen aus Amerika, die man hier gar nicht kannte. Wir hatten ja alle Hunger. Aber meine Mutter sagte, guck mal, der ist ja 1,90, der stößt sich da unten überall den Kopf. Das geht doch nicht. Also Maurer - und nach zwei Jahren durfte ich schon meine Gesellenprüfung machen, weil ich theoretisch ganz gut war. Ich ging zur Bauschule, da gab es eine Enttäuschung. Es kamen so viele Leute aus der russischen Gefangenschaft, die sind gleich nach dem Notabitur eingestellt worden. Auf vier Jahre ist das zu. Da stand ich da."

    Maurer, das muss an dieser Stelle deutlich gesagt werden, war eine Schnapsidee - ein Blick auf Fährmanns Hände genügt, um festzustellen, dass es Lehrerhände sind, Rektorenhände, Schriftstellerhände - aber eben keine Maurerhände. Nun, das Leben hat seine eigene Art, elterliche Fehlentscheidungen oder eigene Fehleinschätzungen zu korrigieren. Fährmann war bei zwei älteren Damen zum Tee geladen, die hießen sehr trefflich Tante Lucy und Tante Cilly, waren alleinstehend und werden von ihm als "Herkulinen" beschrieben. Die beiden Damen beobachteten den jungen Fährmann und empfahlen ihm, Lehrer zu werden. Die Idee nistete sich ein. Fährmann besuchte das Abendgymnasium, die Pädagogische Hochschule, 1954 trat er seine erste Stelle als Volksschullehrer in Duisburg an.

    "Es war der Beruf meines Lebens!"

    Es sind die Fährnisse, die Unwägbarkeiten, die scheinbaren Zufälle, die einem Leben die Kontur geben. Genau das meint Willi Fährmann, wenn er seinen Erinnerungen den Titel gibt: "Das Glück ist nicht vorbei gegangen". Es hätte vorbei gehen können, aber das Glück ist auch immer da - die Aufmerksamkeit macht den Unterschied. Es ist eine sehr lesenswerte Biografie, denn sie löst ein, was Fährmann sich für sein Gesamtwerk vorgenommen hat. Er schreibt für Jugendliche. Bedeutsam sind seine Texte auch für Erwachsene. Noch mal zurück zum Düsseldorfer Regierungspräsidium, 1946:

    Er zog die Schultern hoch, als ob ihn friere, und sagte leise: "Das wird nichts Fährmann. Auf Jahre hin ist es für junge Leute aussichtslos, in diesem Beruf eine Stelle zu finden." Ich spürte plötzlich ein scharfes Stechen in der Magengegend. "Ist dir nicht gut?", fragte er. Ich nickte. "Hast du eigentlich heute schon etwas gegessen?" - "Nur heute Morgen um sieben die übliche dünne Scheibe Brot mit Rübenkraut."

    Er kramte in seiner Schreibtischschublade und schob mir eine Essensmarke zu. "Geh ins Kellergeschoss in unsere Kantine. Für diese Marke bekommst du ein Mittagessen. Es gibt heute", er schaute auf einen Speiseplan für die betreffende Woche, grinste und fuhr fort, "es gibt heute 'Falschen Hasen'".

    Wer konnte im Frühjahr 1946 schon eine Essensmarke verschenken? Ganz Deutschland hungerte. Ich war schon seit Monaten nicht ein einziges Mal satt vom Tisch aufgestanden.


    Willi Fährmann ist ein Meister des realistischen Erzählens, der Chronist einer Epoche. Ähnlich wie bei Walter Kempowski könnte man nach seinem Werk, nach der Fink-Saga oder der Bienmann-Tetralogie irgendwann einmal das Alltagsleben des deutschen 20. Jahrhunderts rekonstruieren. Es ersteht in seiner schwärzesten Zeit, dem Zweiten Weltkrieg, mit allen Ereignissen, die darauf hinführten, mit allem, was folgte. Man findet in Fährmanns Werk viele Gesten einfacher Menschlichkeit, aber es gibt den Menschen auch schwach und fehlerhaft. Ein differenzierter Blick auf seine Figuren und die Genauigkeit im Detail, das macht Willi Fährmanns Romane aus. Seine Recherchen sind lang und aufwendig.

    "Wenn ich einen Roman plane, dann ist es immer ein äußerer Anlass, der mich aufmerksam macht, den hätte jeder sehen können, aber ich habe ihn gesehen. Dann geht ein mächtiges Recherchieren los, manchmal über Jahre. Und es kristallisiert sich dann heraus, was unbedingt in das Buch muss, eingeschlagene Pfähle, historische Fakten, bestimmte Ereignisse. Wenn ich dann meinen Zettelkatalog endlich fertig habe, dann passiert das, was die Alten so gesagt haben: Man wird von der Muse geküsst. Ich weiß nicht, was das ist, auf einen fällt etwas ein, aus dem eigenen Leben aber auch Erfundenes. Es war nicht geplant und oft sind das die besten Kapitel. Es gehört zu den ganz wenigen Malen, dass ich dann das Schild aufhänge: Bitte nicht stören. Aber dann wird es auch von meiner Frau und den Kindern respektiert. Denn wird man in einem solchen Kapitel unterbrochen, dann ist das Fluidum weg und man kann sehr schlecht wieder daran anknüpfen."

    Mehr als 50 Bücher, Romane, Erzählungen, auch Sagen sind von Willi Fährmann seit den 60er-Jahren erschienen, und er hat alle großen Preise dafür bekommen. Sein Debüt gibt er Mitte der 50er-Jahre. Seinen ersten großen Erfolg hat er 1962 mit dem Roman "Das Jahr der Wölfe". Der Roman schildert die Flucht einer Familie aus Ostpreußen. Willi Fährmann ist 32 Jahre alt.

    Nach Gdingen wälzte sich der Treck. Je näher sie der Stadt kamen, desto wilder wurden die Gerüchte. Viele hofften auf ein Schiff und waren bereit, Pferd und Gut und Wagen zurückzulassen für einen Platz auf dem Oberdeck oder auch in den Lagerräumen. Es hieß, die Weichsel sei an vielen Stellen von den Russen überschritten worden. Sie rumpelten schon fast eine Stunde über eine breit gepflasterte Stadtstraße. Die war vollgestopft von Pferden und Autos, Fußgängern und Handkarren. Es gab Geschrei und Geschimpfe. Doch davon drehte sich kein Rad schneller. Vater bog in eine Seitenstraße ein und fragte ein halbwüchsiges Mädchen nach dem Weg zum Hafen.

    "Lassen Sie den Wagen am besten hier stehen und gehen Sie zu Fuß", riet das Mädchen. "Es sind nur zehn Minuten Weg. Die 'Wilhelm Gustloff' liegt noch am Kai."
    "Ein Schiff?", rief Hedwig. "Ein ganz großes Schiff", bestätigte das Kind. "Aber gehen Sie erst zum Büro. Dort gibt es die Karten. Ohne Karten darf niemand an Bord."

    Vater und Konrad eilten dem Hafen zu. Das Schiff schien unter Dampf zu stehen. Hoch ragte seine Bordwand über den Kai. Kopf an Kopf drängten sich die Menschen an Deck. Über das Fallreep jedoch lief niemand mehr.

    Sie kamen gerade an das Fallreep, als die Männer und Frauen des Büros zum Schiff hinübergingen. Die meisten waren uniformiert. Alle schleppten schwere Koffer. Die Menge vor dem Haus hatte sich zerstreut. Bienmanns traten heran. Ein Matrose versperrte ihnen den Weg.

    "Was wollt ihr? Das Schiff ist besetzt." Vater zeigte den Schein. "Passieren lassen", rief Olbrischt von der Reling her. Da gab der Matrose den Steg frei. Die Schiffssirene tutete laut und lang. Mutter betrat als Erste den Landungssteg. Plötzlich drehte sie sich um. Ihre Augen waren dunkel vor Angst. "Verzeih' mir, Johannes, aber ich kann nicht. Ich kann nicht auf das Schiff."


    In den frühen 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts war das ein gewagter Stoff. Es würde noch lange dauern, bis die Erinnerung an Flucht und Vertreibung wieder an die Oberfläche kommen würde, bis sie Zeitschriften und Fernsehmagazine füllen würde. War das Jahr der Wölfe ein Tabubruch?

    "Ich glaube schon. Es ist nicht gleich jubelnd empfangen worden. Ich hatte Sowjetmenschen geschildert, die keine Teufel waren. Es gab die ganze Skala menschlicher Verhaltensweisen. Angeregt worden ist das durch die Geschichte meines Freundes. Er hat mit mir in einer langen Berliner Nacht gesessen, er hat mir erzählt, wie er mit seiner Familie als 12-Jähriger über das Eis des Haffs gezogen ist. Ich habe anderthalb Jahre recherchiert, 1441 Karteikarten, 13 Familien habe ich ausfindig gemacht, die mit ihrem Pferdewagen alle über das Eis gezogen waren, und dann habe ich begonnen zu schreiben. Das war die Zeit des Kalten Kriegs, da war das nicht in. Meine Frau hat mich dazu gebracht. Als ich ihr alles erzählte, sagte sie, das musst du aufschreiben, sonst ist das in 30 oder in 50 Jahren alles vergessen. Eine späte Genugtuung habe ich erhalten, als im 'Spiegel' ganz groß das Schicksal von Grass aufgefächert wurde, und dann schrieb der 'Spiegel'-Redakteur: Das hat Willi Fährmann schon 1963 geschrieben."

    Was mit der Wilhelm Gustloff weiterhin geschah, ist seit 2002 hinreichend bekannt, damals erschien Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang". Man weiß seither von dem schrecklichen Untergang des Schiffes, und auch von vielen Menschen, die eigentlich mitfahren wollten, die dann aber doch keinen Platz an Bord bekamen. Rettungen, unerwartete Begegnungen und Fügungen, auch das ist ein wichtiger Bestandteil des Fährmannschen Erzählkosmos. Was er für sich selbst in Anspruch nimmt, das gilt auch für seine Figuren, die er durch schwere Zeiten führt - "Das Glück ist nicht vorbei gegangen". Man muss sich darunter keine Wunder vorstellen und schon gar keine Fantastik, alles kommt aus einer persönlichen Begegnung. Fährmann ist seit seinen Jugendtagen ein bekennender und praktizierender Katholik. Er nennt die Fügungen seines Lebens, zum Beispiel seine Berufswahl, ein "Antippen Gottes". Und er legt großen Wert auf die Feststellung, dass der Mensch frei ist, seines Glückes Schmied und verantwortlich für seine Taten.

    "Also, ich glaube, dass die Freiheit der Menschen sehr, sehr groß ist und dass es sicher so was gibt wie ein Antippen Gottes. Aber ich glaube, die meisten Entscheidungen sind in unsere Freiheit gestellt, deswegen können wir Gott nicht für alles verantwortlich machen. Das ist keine Entladestation für Misslungenes."

    Eine Begegnung mit einer katholischen Jugendgruppe in den Nachkriegsjahren gab den Ausschlag für dieses Weltbewusstsein. Dort fand Fährmann eine geistige Heimat. Diese positive Prägung durchzieht sein ganzes Werk. Immer wieder trifft man in seinen Romanen Geistliche, die in dunklen Stunden aufrecht bleiben und die den Entrechteten die Hand reichen. Die anderen, die Duckmäuser, die Hetzer und die Anpasser, gibt es auch.

    "Es entspricht auch meiner Erfahrung. Ich habe gute Kaplane kennengelernt. Mein Leben ist von solchen Leuten auch gelenkt und geprägt worden und das habe ich nicht vergessen. Aber es stieße mir ganz sauer auf, wenn ich etwas in die Reihe von Apologeten eingereiht wurde. Ich zeige ja ein sehr breit gefächertes Bild von Katholizismus."

    Gefragt, welches seiner Bücher Willi Fährmann besonders mag, sagt er spontan: "Unter der Asche die Glut". Dieses Buch gehört zu dem Christian-Fink-Zyklus, es ist der mittlere Teil einer großen Adoleszenztrilogie, die vom Land ins Ruhrgebiet führt und von dort aus weiter ins Exil nach Kolumbien. In diesem Buch beschreibt er, wie Christian Fink 1935 mit einer katholischen Jugendgruppe zu Fuß nach Rom pilgert, ein Marsch, der wirklich stattgefunden hat, der fast in Vergessenheit geraten ist.

    Die Jugendlichen fanden sich damals zu einer großen Ostermesse ein, und "La Stampa" schrieb später, die katholische deutsche Jugend habe gegen Hitler demonstriert. Bei Fährmann erscheint die Pilgerfahrt nicht als ein Akt des Widerstands, vielmehr finden sich auf dem Weg nach Rom Suchende und Irrende. Auch Christian Fink ist eine solche Figur. Er hat den inneren Kompass, doch auch er strauchelt wenigstens ein Mal, als er sich angesichts einer Horde von SA-Männern von seiner Freundin Elfie distanziert, deren Vater Jude ist.

    "Das Scheitern in bestimmten Situationen bleibt keinem Menschen erspart. Menschen machen manchmal tolle Sachen, aber sie machen auch schlimme Sachen und diese Differenzierung, dass man in jedem Menschen Gutes und Böses entdecken kann, auch in sich selbst, das will ich zeigen, dass nicht wie in vielen Jugendbüchern die Welt in schlechte und gute eingeteilt ist, sondern dass es in jedem Einzelnen wohnt. Die fantastische Literatur kennt dieses Problem nur andeutungsweise. Da gibt es die Guten und die Bösen, man weiß schon von vorneherein, die Guten werden Siegen!"

    Auch Willi Fährmanns jüngster Roman widmet sich der Zeitgeschichte. "So weit die Wolken ziehen" heißt dieser Roman, es geht um die Kinderlandverschickung. Ein Thema, das in Fährmanns Jahrgang bei Klassentreffen immer frivol behandelt wurde, es sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen, versicherten Fährmanns Klassenkameraden so lange, bis dem Autor die Hutschnur platzte, und er nach dem Hunger fragte, den ausbleibenden Briefen von zu Hause, den herannahenden feindlichen Truppen. Dann brachen alte Erinnerungen auf und die waren wieder der Ausgangspunkt einer langen Recherche. Ein Auszug aus dem gleichnamigen Hörbuch, "So weit die Wolken ziehen", Sprecher ist Bernd Stephan:

    Der Lärm der Geschütze verstummte nicht mehr. Im Ort gab es kaum ein Haus, das nicht die weiße Fahne zeigte. Gegen elf Uhr öffnete Doktor Scholten die Tür zur Straße hin. Flüchtlinge aus Ungarn zogen vorbei. Eine alte Frau half einer jüngeren, die schwerfällig vom Karren kletterte. Die beiden blieben vor der untersten Stufe der Freitreppe stehen. Sie war hochschwanger. "Muss bleiben, Jesus, Maria, Josef", sagte die alte Frau.

    Aus der Halle drang ein gedämpftes Gemurmel. Anna ging hin und erstarrte. In der Tür standen vier amerikanische Soldaten. Die beiden größten waren Schwarze. Sie hielten Maschinenpistolen in den Händen. Der Offizier sagte leise ein paar Sätze. Der Dolmetscher übersetzte: "Der Captain möchte wissen, wer die Bewohner des Hauses sind." Doktor Scholten antwortete: "Unser Lehrerkollegium, eine Rotkreuzschwester und 52 Mädchen einer Mädchenoberschule." - "Keine deutschen Soldaten?" - "Nein."


    Neben dem engagierten Realisten gibt es auch jenen Willi Fährmann, der Märchen, Sagen und Legenden liebt. Fährmann hat die Siegfried-Sage, die ja ihren Ursprung in Xanten nimmt, für junge Leser neu erzählt, mit ihr die deutschen Heldensagen. Er hat Heiligenlegenden wie die des Franziskus für jüngste Leser geschrieben und wenigstens ein Märchen, das in jede Vorweihnachtszeit gehört: Roter König - weißer Stern. Es handelt von dem Indianerkönig Silbermond, der war so lange unterwegs, dass er erst zu Hochzeit von Kanaa im Heiligen Land erscheint. Unterwegs hat der gute König Silbermond all seine Schätze verschenkt, denn er ist vielen bedürftigen Menschen begegnet.

    Er trat vor die Hütte. Es war Nacht geworden. Er schaute auf zu dem weißen Stern. Er war müde, aber schlafen konnte er nicht. "Bin ich nicht ausgezogen, um den König der Könige zu suchen?", sprach er leise zu sich.

    Er trat vor die Hütte. Es war Nacht geworden. Er schaute auf zu dem weißen Stern. Doch der schimmerte nur noch matt und zog seinen flimmernden Schweif wie einen Goldhauch hinter sich her. Wer weiß, dachte Silbermond, wenn der Stern verschwindet, dann werde ich den Weg wohl kaum finden. Ich sollte lieber bleiben. Und wieder griff er nach seinem Halsschmuck und tastete nach der Perle. Da besann er sich und es tat ihm leid, dass er daran gedacht hatte, seinen Weg aufzugeben. Er sagte zu sich: "Der den Stern gelenkt hat, der ist treu. Er wird mich führen."


    Willi Fährmann, der Realist - und Willi Fährmann, der Märchenautor. Das ist kein Widerspruch, denn hinter beidem liegt eine große Zuneigung zu Kindern und Jugendlichen - und eine Lust am Erzählen. Wollte man Fährmanns Werk auf einen Punkt bringen, dann könnte man auch sagen: Wider dem Zeitgeist, denn er hat stets das getan, woran er glaubte.