Dienstag, 19. März 2024

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Zum Tod des Kulturtheoretikers Mark Fisher
"Nicht nur ein persönlicher, sondern ein politischer Skandal"

Der Kulturwissenschaftler Mark Fisher hat sich das Leben genommen. Fishers Grundidee sei gewesen, die Pest der psychischen Krankheiten in kapitalistischen Gesellschaften zu überwinden, sagte der österreichische Philosoph Armen Avanessian im DLF.

Armen Avanessian im Gespräch mit Jan Drees | 16.01.2017
    Plakat an einem Berliner Haus: "Markt oder Mensch?"
    Für den Kulturtheoretiker Mark Fisher war die Depolitisierung von Depression oder die Privatisierung von psychischen Krankheiten im Kapitalismus ein gesellschaftliches Problem. (dpa/picture alliance/Paul Zinken)
    Mark Fisher: Es geht um die Privatisierung von Stress: Hohes Arbeitsaufkommen, Zunahme der Unsicherheit, Gehaltskürzung – all diese Dinge machen depressiv, und wir müssen immer häufiger alleine mit ihnen fertig werden. Im Zeitalter der Kollektivität gab es noch Mediatoren wie Gewerkschaften, die dir dabei geholfen haben, aber heute wirst du zu keiner Gewerkschaft geschickt, sondern zu einem Therapeuten, oder nimm doch einfach Antidepressiva. Das ist die Geschichte der letzten 30 Jahre.
    "Er hat rein persönliche Phänomene wie Depressionen auch als politische verstanden"
    Jan Drees: Hier spricht also ein Depressiver über Depressionen – das ist an sich ja schon geradezu makaber. In welcher Weise, Herr Avanessian, ist denn das, was wir gerade gehört haben, einzuordnen in das Denken von Mark Fisher?
    Armen Avanessian: Ich denke, ganz grundsätzlich, was ihn zu einem markanten Denker gemacht hat, war, dass er diese anscheinend oder angeblich rein persönlichen Phänomene wie Depressionen, psychische Krankheiten, eben auch als gesellschaftliche, politische verstanden hat. Mark Fisher hat ganz stark auch zeitpolitisch gedacht und ausgehend von der Hypothese, dass wir möglicherweise noch gar keine wirkliche intellektuelle oder politische Kultur haben, die wirklich dem 21. Jahrhundert und der neuen Politik dieses Jahrhunderts zugehörig ist.
    Der berühmte Spruch, dass es in unserer neoliberalen Gesellschaft leichter ist, sich den Untergang der Welt vorzustellen als denjenigen des Kapitalismus – Beispiel die dystopischen Hollywoodfilme –, ist für ihn ein Zeichen gewesen dafür, dass uns wirklich ein Bewusstsein fehlt, ein genaues Verständnis dessen fehlt, was – mit dem Titel seines berühmtesten oder bekanntesten Buchs gesprochen – der "Capitalist Realism" eigentlich ist. Und von daher kam bei ihm diese Suche nach neuen Denkformen, nach Strategien, sich von dem kritischen oder ironischen Gestus des 20. Jahrhunderts zu unterscheiden.
    "Der Kapitalismus als ein System, das krank macht"
    Das betrifft seine bekannten Analysen zur Musik – Blur, Oasis oder was er Pastiche-Rock mal genannt hat –, aber auch zu intellektuellen Produktionen. Das war nie nur eine inhaltliche Frage, sondern stets auch formal, wie zu schreiben ist, wie zu denken ist, wobei das bei ihm nie negativ oder nur ressentimentgeladen war, sondern er war stets auch ein Begleiter oder Stichwortgeber zeitgenössischer Musiker oder intellektueller Strömungen, also Burial, Code 9, den Akzelerationismus, die es einfach ohne ihn nicht gebe.
    Man könnte das zusammenfassen, dass er ein Streiter oder ein Kämpfer war gegen eine verheerende Formel in unseren Köpfen, dass die Moderne gleich kapitalistisch, gleich fortschrittlich, gleich eine der Beschleunigung ist, und er hat sich immer dagegen verwehrt, die Moderne mit dem Kapitalismus zu identifizieren, geschweige denn, den Kapitalismus als fortschrittliches System zu verstehen, sondern eher als eines, das uns krank macht.
    "Er war Teil eines ganz wichtigen Kollektivs in den 90er-Jahren in Warwick"
    Drees: Und eine dieser Krankheiten des Kapitalismus, so hat er es ja dann beschrieben in dem O-Ton, den wir vorhin gehört haben, ist dann tatsächlich die Depression, unter der er ja dann auch selber gelitten hat. Er hat es auch hier und dort immer wieder geschrieben, dass er als Depressiver dann auch wieder aufgefangen wird vom kapitalistischen System: Er bekommt nämlich dann die Medikamente, die von Pharmariesen hergestellt werden, also man verdient quasi auch noch an der Heilung jener Krankheit, die verursacht wird durch den Kapitalismus. So war seine Art zu denken, so war seine Art zu argumentieren.
    Sie sagten gerade, der Akzelerationismus sei ohne ihn nicht denkbar. Das ist eine relativ neue, immer noch relativ neue philosophische Strömung. Wie ist diese denn – Sie sind ja einer der Vordenker des Akzelerationismus, Herr Avanessian – zu beschreiben?
    Avanessian: Vielleicht muss man mal sagen ein bisschen was zum intellektuellen Hintergrund auch. Er war sozusagen Teil eines ganz wichtigen Kollektivs in den 90er-Jahren in Warwick, das sich mit kulturellen, populärkulturellen Phänomenen auseinandergesetzt hat, und die haben eine ganze Batterie an neuen Gedanken, neuen Begriffen, aber auch neuen intellektuellen Strömungen oder Bewegungen getriggert.
    So viele gibt es ja noch nicht im 21. Jahrhundert und fast alle, die meisten sozusagen, kommen aus diesem Kontext, und Mark Fisher war, auch wenn das weniger bekannt war und er nicht namentlich da firmiert, weil vieles auch anonym oder im Kollektiven geschrieben wurde … da kamen Strömungen wie der spekulative Realismus, der von Ihnen genannte Akzelerationismus, bis hinein in die feministische Theorie, so etwas wie ein akzelerationistischer Technofeminismus oder Xenofeminismus, und die haben alle sozusagen ihren Hintergrund in dieser Arbeit, dieser CCRU, dieses Kollektivs, von denen einer der wichtigsten Mitglieder Mark Fisher war.
    Die Grundidee ist ein bisschen, dass wir den gegebenen technologischen Stand beziehungsweise denjenigen der Wissenschaften nutzen können und sollten, den Kapitalismus zu überwinden, indem man die vorhandenen emanzipatorischen, progressiven Tendenzen aufnimmt und steigert, eben nicht sozusagen bremst, nicht entschleunigt, nicht sich versteckt, sondern für Mark Fisher war immer bedeutend, dass man eine Faszination für Technologie, für Populärkultur und dieser starke Drang, dieses Begehren, diese Diskurse, diese Technologien, auch diese Erlebniswelten in das Schreiben, in das Nachdenken, in die Philosophie zu integrieren.
    Aufsätze, die sich mit Schwarzenegger und Kant beschäftigen oder mit "Terminator" und "Avatar", und zugleich zeitgenössische Philosophie machen, das war der Spirit, mit dem Mark Fisher gedacht und geschrieben und gelebt hat.
    "Er war kein deterministischer Denker"
    Drees: Mit "Terminator versus Avatar" sprechen Sie etwas sehr Wichtiges an, Herr Avanessian: Das, was Sie gerade eben beschrieben haben, klingt ja vor allen Dingen erst mal sehr positiv. Weshalb hat denn dann Mark Fisher Depressionen zu seinem Lebensthema gemacht, wenn er doch auch ebenso zum Beispiel über Schopenhauers "Willen zum Leben" spricht in besagtem Aufsatz "Terminator versus Avatar"?
    Also er hätte sich ja diesem Hedonistischen des Dasein und der Popkultur im Speziellen ja auch auf total positive Art und Weise hin öffnen können. Weshalb hat er sich dann doch immer wieder aufs Neue so sehr mit der Depression beschäftigt, etwas, was er ja gemeinsam hat mit anderen popkulturell interessierten Denkern? Denken wir auf der einen Seite vielleicht an seinen Namensvetter Mark Fischer aus Deutschland oder an David Foster Wallace.
    Avanessian: Also in Ihrer Beschreibung klingt das ein bisschen so, als ob er sich von diesen persönlichen Problemen und so weiter nicht lösen könnte, als ob das so eine Art von self-fulfilling prophecy gewesen wäre, diese Beschäftigung mit der Depression und auch sein Tod. Ich möchte mich einfach dagegen weigern, das so negativ oder so deterministisch zu sehen, aus zwei Gründen: Einer ist ein abstrakt, philosophisch, der andere ist ein persönlicher Grund.
    Also philosophisch, denke ich, war er kein deterministischer Denker. Mark hat stets die Zukunft nicht als eine automatisierte, also eine verengte, also determinierte verstanden, sondern er hat versucht, aus der Zukunft zu denken. Er hat so etwas wie eine spekulative Temporalität wirklich gelebt. Er hat verstanden, was J. G. Ballard mal gesagt hat, dass Science Fiction nicht nur das realistischere Denken ist, sondern auch notwendig ist, um die Gegenwart zu verstehen.
    "Er hat wirklich Science-Fiction-Denken praktiziert"
    Das ist lange bevor alle über Algorithmen, fake truth, Postfaktisches geredet haben, hat er wirklich Science-Fiction-Denken praktiziert, den Begriff der "hyperstition" geprägt und mitgeprägt, das heißt Fiktionen, die sich selbst realisieren und zwar aus der Zukunft.
    Der zweite Grund, warum ich mich weigern will, seinen Tod und sein Denken als limitiert sozusagen auf seine Person zu sehen, sind eher wirklich persönliche Gründe. Also sein Tod ist nicht nur ein persönlicher, sondern ein politischer Skandal in Zeiten von Brexit und Trump, von zunehmender Xenophobie, Rassismus und den dafür stark verantwortlichen oder mitverantwortlichen Austeritätsprogrammen, kann man das Persönliche – und das hat er uns gelehrt – nicht vom Politischen trennen.
    Er hat immens offen über seine Krankheit geschrieben, über die Depressionen und auch darüber, wie dagegen zu kämpfen wäre, nicht nur auf einer persönlichen, subjektiven und individuellen Ebene. Das war immer seine, bei aller auch Wertschätzung seiner Kritik oder seiner Problematisierung von individualpsychologischen oder psychoanalytischen Ansätzen, er hat immer drauf hingewiesen, dass wir vor einem allgemeinen gesellschaftlichen Problem stehen, was er genannt hat die Depolitisierung von Depression oder die Privatisierung von Stress, von psychischen Krankheiten, die Pest der psychischen Krankheiten, wie er das genannt hat in kapitalistischen Gesellschaften.
    "Eines seiner großen Ziele war, ein neues Klassenbewusstsein wieder hervorzubringen"
    Er hat es immer vermocht, das auch sehr persönlich zu schildern anhand von alltäglichen Erfahrungen oder Gefühlen: die Schuldgefühle, die man hat, wenn man keinen Job hat, die man sich selber zuschreibt, statt sie sozusagen als ein politisches Problem zu erkennen, was auch dazu führt, dass man sich nicht politisch organisiert, was eins seiner großen Ziele und Arbeitsfelder war: ein neues, wirkliches Klassenbewusstsein wieder hervorzubringen.
    Drees: Vor zwei Wochen ist ja die aktuelle Schrift von Fisher noch erschienen. In welcher Weise wird Mark Fisher denn bestimmte akademische oder popkulturelle Diskurse Ihrer Meinung nach in der nahen Zukunft beeinflussen?
    Avanessian: Ich denke, das ist ein doppelter Einfluss. Also für alle, die ihn kannten, war es irgendwie beglückend zu sehen, dass sein "Capitalist Realism"-Buch so einen großen Erfolg hatte. Das heißt ein Independent-Verlag, ohne Werbung, ohne mafiöse Seilschaften zu den offiziellen Medien, diverse Dinge, die er hasste, dass das so stark rezipiert wurde, dass seine Texte wahrgenommen wurden, auch seine popkulturellen Texte, und dasselbe hoffe ich auch für das neue Buch.
    Eine andere Art und Weise, wie er wirken wird, denke ich, ist – und das ist vielleicht bezeichnend für so einen bescheidenen oder undergroundigen, untergründig wirkenden Mensch wie Mark Fisher – durch die Art und Weise seines Arbeitens, durch die von ihm geprägten Begriffe, capitalist realism, accelerationism, hyperstition. Er hat mir im Gespräch selbst gesagt – das geht, denke ich, auch aus seinen Texten hervor –, dass Suizid keine Lösung ist und dass es eher eine Aufgabe ist, gegen die Depression zu kämpfen, anders zu arbeiten, und dieser Imperativ, denke ich, wird auch weiterwirken.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Denken Sie daran, sich das Leben zu nehmen? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Es gibt Hilfsangebote in vermeintlich ausweglosen Lebenslagen: Die Telefonseelsorge bietet Gespräche per Telefon, Chat oder E-Mail. Geistliche Vertreter, Psychologen oder andere Vertrauenspersonen können in persönlichen Gesprächen helfen.
    Buchinfos:

    Armen Avanessian: "Miamification"
    Merve Verlag, 2017. 136 Seiten, 12,00 Euro.

    Mark Fisher: "The Weird and the Eerie"
    Repeater Verlag 2017, 300 Seiten, 10,99 Euro.

    Mark Fisher: "Gespenster meines Lebens. Depressionen, Hauntology und die verlorene Zukunft"
    edition TIAMAT, 2015. 256 Seiten, 20,00 Euro.

    Mark Fisher: "Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?"
    VSA Verlag, 2011. 96, Seiten, 12,80 Euro.