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Zum Tod von Dieter Wellershoff
Verhängnis-Erforscher der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft

Der ganz große Erfolg kam spät für den Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff. Erst im Jahr 2000, mit fast 75 Jahren, landete er mit dem Roman "Der Liebeswunsch" einen Bestseller. Nun ist er im Alter von 92 Jahren gestorben.

Von Gisa Funck | 15.06.2018
    Der Schriftsteller Dieter Wellershoff steht in seiner Wohnung in Köln.
    Der Schriftsteller Dieter Wellershoff ist tot (picture-alliance/ dpa / Horst Ossinger)
    "Also wenn ich an all’ die Soldaten denke, da an dem Tag, als ich verwundet worden bin, die ich da rumliegen gesehen habe, all’ die Toten, und ich bin da rausgekommen unter den schwierigsten Umständen! Ist ja ein irrer Zufall, nicht! Das ist das Gefühl, zufällig am Leben geblieben zu sein: Davon bin ich tief geprägt, ja! Tief geprägt!"
    Wie viele Angehörige seiner, vom Soziologen Helmut Schelsky als "skeptisch" bezeichneten Generation war auch der Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff, geboren am 3. November 1925, nachhaltig durch seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg geprägt. Mit siebzehn Jahren meldete sich der Sohn eines Luftwaffen-Majors freiwillig zur Panzerdivision "Hermann Göring". Kurz darauf wurde er zum sogenannten Endkampf an die Ostfront eingezogen, wo der Rekrut miterleben musste, wie Kameraden direkt neben ihm - manchmal nur eine Handbreit entfernt - von einer Granate zerfetzt oder erschossen wurden.
    Eine Erfahrung, die Dieter Wellershoff nie wieder losgelassen hat. Und die ihn dauerhaft misstrauisch werden ließ gegenüber jeder Form von gesellschaftlichen Sinn-Angeboten: Seien es die Trostbotschaften der Religion, des bürgerlichen Wertekodex oder einer politischen Ideologie:
    "Nachher bin ich sozusagen auf das nackte Ich gestoßen worden, was ich war. Auf ein Ich, das noch am Leben war. Es ist eigentlich sehr deutlich von der Existenzphilosophie formuliert worden: Du bist frei, aber dazu bist du frei, deine eigene Notwendigkeit zu finden. Die musst du hervorbringen. Das ist ein schöpferischer Akt. Das Leben ist ein schöpferischer Akt, und jeder macht sein eigenes Spiel."
    Misstrauen gegenüber sozialen Heilsversprechungen
    Zurückgekehrt ins Rheinland, studierte Wellershoff nach dem Krieg Germanistik, Kunstgeschichte und Psychologie, um sich danach erst einmal als Literaturwissenschaftler einen Namen zu machen. Er promovierte über Gottfried Benn, brachte eine Werkausgabe des Dichters heraus – und veröffentlichte auf Grundlage seiner Dissertation 1958 die Benn-Studie "Phänotyp dieser Stunde". Ein Buch, das die Genie-Pose und den Genie-Kult um den kurz zuvor verstorbenen Lyriker kritisch hinterfragte – und das die Literaturwelt aufhorchen ließ: Meldete sich hier doch erstmals ein junger Germanist zu Wort, der weitgehend ohne die damals üblichen Verweise auf den Traditionskanon auskam und Benns Werk stattdessen vor allem soziologisch, geschichtsphilosophisch und psychologisch interpretierte:
    "Dann war das der Anfang, dass dieses Buch einen Erfolg hatte und eines Tages der Verleger Witsch zu mir anreiste, wir wohnten damals auf dem Land in einer Schrottbude, kann man sagen. // Dann bekam ich eben das Angebot, Lektor zu werden. "Ach, hier wohnen Sie?" sagte er. "Na, dann kommen Sie zu mir! Und dann bauen Sie eine wissenschaftliche Abteilung auf! Hier bei mir. Ich möchte expandieren, ich möchte auch gern einen Wissenschaftszweig haben."
    Profilierung als Benn-Experte und Literaturwissenschaftler
    1959 trat Dieter Wellershoff dann seinen Dienst als Sachbuch-Lektor beim Kölner Kiepenheuer & Witsch Verlag an. Und begründete hier die "Neue Wissenschaftliche Bibliothek": Eine Reihe von Sammelbänden mit Aufsätzen aus der Soziologie, Literaturwissenschaft, Geschichte und Psychologie, für die er namhafte Herausgeber wie Jürgen Habermas oder Hans-Ulrich Wehler gewinnen konnte. Wenig später betraute ihn Caspar Witsch außerdem mit der Aufgabe, sich als Lektor auch um die jüngere Gegenwartsliteratur zu kümmern. Was Wellershoff Gelegenheit gab, Autoren wie Rolf-Dieter Brinkmann, Nicolas Born oder Günter Herburger zu entdecken und zu fördern. Für diese junge Riege von KiWi-Autoren erfand er die werbeträchtige Schreibparole eines "Neuen Realismus." Womit sich Wellershoff klar gegen die, bis in die 70er Jahre dominierende Nachkriegsliteratur des moralischen Fingerzeigs positionierte. Denn ganz anders als seine Generationskollegen Günter Grass, Siegfried Lenz oder auch (der von ihm zeitweise betreute) Heinrich Böll leitete Dieter Wellershoff aus seiner Kriegserfahrung nie eine ethische Verpflichtung ab:
    "Wenn ich mir zum Beispiel so eine Novelle 'Wanderer kommst du nach Spa' von Heinrich Böll ansehe: Da liegt jemand im Lazarett, das ist ausgerechnet die Aula seiner eigenen Schule. Der möchte gerne eine Zigarette rauchen, und man gibt ihm eine, schiebt sie ihm in den Mund. Und dann erfährt man: Er hat nicht nur einen Arm verloren, er hat beide Arme verloren! Und dann erfährt man aber auch, dass er beide Beine abhat! Und da muss ich sagen: Diese Verwundung hat es nicht gegeben! Wie soll die zustande gekommen sein? Das ist moralische Exemplifizierung, wie schrecklich der Krieg ist! Das ist doch Effekthascherei! Wenn man den Leuten sagen will, wie es gewesen ist, dann muss man sich die Sache genauer angucken."
    Autor ohne moralischen Fingerzeig
    Sehr viel interessanter als die politisierte und mitunter auch recht moralinsaure BRD-Literatur erschien Wellershoff die französische Literaturströmung des Nouveau Roman. Ihn nahm er sich zum Vorbild, als er in den 60er Jahren schließlich selbst begann, Romane zu schreiben. Darin zeigte der Spätberufene durchaus verstörend, welche Risiken und Abgründe eine westdeutsche Bürgerexistenz bergen konnte. Und Wellershoff entwickelte früh ein Faible für Außenseiter- und Verliererfiguren. Oder genauer gesagt: Für die Gescheiterten und Fußlahmen des Wirtschaftswunders.
    Entsprechend erweist sich schon das scheinbare Idyll in seinem allerersten Roman "Ein schöner Tag" von 1966 als trügerisch. Hier wird eine Kleinfamilie - in Anlehnung als Sartres "Geschlossene Gesellschaft" - als Hort verdrängter Traumata und unausgelebter Bedürfnisse enttarnt.
    Eine erste Verhängnis-Erzählung von vielen nachfolgenden des literarischen "Verhängnis-Forschers" Dieter Wellershoff. Ein Happy End kam in seinen Geschichten so gut wie nie vor. Und ähnlich wie im klassischen Bildungsroman spielt in seiner Prosa der Konflikt zwischen Herz und Kopf, zwischen Leidenschaft und Vernunft eine große Rolle. Ständig sind seine Helden und Heldinnen hin- und hergerissen: einerseits zwischen dem Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung und andererseits dem Sehnsuchtsruf ihres Herzens. Was die Protagonisten bei Wellershoff dann regelmäßig in die schwere Sinnkrise stürzt, nicht selten mit tödlich-fatalem Ausgang:
    Literatur als Probebühne des Lebens
    "Die Literatur ist die Fortsetzung der alten Menschenopfer. Und ich habe gesagt: Das machen wir eigentlich immer noch. Die fiktiven Figuren sind unsere Sündenböcke in der Literatur. Die werden dafür bestraft, dass sie etwas falsch machen. Und wir können uns das ansehen und können sehen, was die Konsequenzen des Lebens, was der Preis des Lebens ist."
    Stark beeinflusst vom französischen Existenzialismus zeigte Wellershoff den Menschen in seinen Geschichten als ein zwar mit Wahlfreiheit gesegnetes, aber zugleich auch für Fehlentscheidungen alleinverantwortliches Individuum. Damit sind seine Figuren auffallend oft überfordert. Gibt es für sie im Wellershoff‘schen Erzählkosmos doch keinerlei metaphysischen Trost mehr.
    Völlig verzweifelt wird da der Studienversager Klaus Jung aus "Die Schönheit des Schimpansen" von 1977 zum Mörder und Selbstmörder. Der Bankrotteur Ulrich Vogtmann aus dem 1983 erschienenen "Der Sieger nimmt alles" erleidet, ebenfalls untröstlich gekränkt, einen Herzinfarkt. Und auch im Bruder-Konkurrenz–Roman "Blick auf einen fernen Berg" von 1991 endet der geplatzte Aufsteigertraum einmal mehr autoaggressiv: In der tödlich verlaufenden Leukämie-Erkrankung des Bruders.
    Die Suche nach Glück und Selbstverwirklichung, sie führt im Erzählwerk von Dieter Wellershoff zumeist in die Selbstzerstörung. So auch in seinem wohl berühmtesten Roman "Der Liebeswunsch" aus dem Jahr 2000. Darin heiratet die labile Germanistikstudentin Anja den deutlich älteren Richter Leonhard, um gesellschaftlich abgesichert zu sein. Eigentlich eine gute Partie. Doch dann trifft Anja den jüngeren, ebenfalls verheirateten Arzt Paul, der für sie exakt jenes andere Leben voller Leidenschaft verkörpert, das die junge Frau bei Leonhard nicht finden kann:
    "Die Anja verkennt das! Für sie wäre es die Lösung gewesen. Aber die Unreife dieser Sicht ist, dass sie nicht sieht, dass da ja auch noch ein anderer Mensch drin verwickelt ist. Für den sieht das völlig anders aus. Anja will das alles auswischen und neu anfangen und dann soll es das Totale sein. Das ist eine Verkennung."
    Späte Anerkennung
    Es dauerte lange, bis der Romancier Wellershoff bei den Kritikern dieselbe Anerkennung fand wie der Essayist Wellershoff. Doch mit dem "Liebeswunsch" kam für den 75-jährigen schließlich doch noch der ganz große Erfolg. Der Roman wurde zum Bestseller, und er wurde 2006 fürs Kino verfilmt. Und endlich würdigte man den vorher immer etwas übersehenen Dieter Wellershoff als einen Autor, der es meisterhaft verstand, den Verdrückungen der deutschen Nachkriegsgesellschaft erzählerisch auf die Spur zu kommen.
    Wie präsent die Schreckenserfahrung des Krieges offenbar für ihn selbst zeitlebens blieb, das konnte man in seinem autobiografischen Bericht "Der Ernstfall" 1995 nachlesen. Ein ungeheuer eindringliches Buch über den Zweiten Weltkrieg und die letzten Tage vor der Kapitulation. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Wellershoff hier - anders als manch‘ anderer Autor seiner Generation - wohltuend auf jede sentimentale Rechtfertigung und jeden Gräuel-Kitsch verzichtete.
    "Ich bin natürlich dadurch geprägt, dass ich diesen schwierigen Weg gegangen bin, es ganz und gar als meine eigene Sache, auch gegen alle Widerstände betrieben habe, im Bündnis mit meiner Frau, die das alles mitgemacht hat. Jedenfalls war der Wunsch zu schreiben sehr groß und stark in mir, aber irgendwie durch Krieg und Nachkriegszeit waren sehr viele Verzögerungen dabei, so dass ich mir deshalb vorgenommen habe, ein bisschen älter zu werden."