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Zum Tod von Wolfgang Leonhard
Vom Kaderkind zum Stalinismuskritiker

Vom begeisterten Kommunisten wurde er zum Kritiker der Sowjetunion. Sein Buch "Die Revolution entlässt ihre Kinder" wurde ein Bestseller. Wer in den frühen Sechzigerjahren ein westdeutsches Gymnasium besuchte, kannte diesen Mann - nun ist Wolfgang Leonhard im Alter von 93 Jahren gestorben.

Von Wolfgang Stenke | 17.08.2014
    Wolfgang Leonhard, Politologe und Publizist, Kommentator für Probleme der Sowjetunion und des internationalen Kommunismus während einer Diskussion in Stralsund am 28.11.1995
    Wolfgang Leonhard während einer Diskussion im Frühjahr 1995 (picture alliance / dpa / Stefan Sauer)
    "Der Flug von Moskau nach Deutschland war auf einem amerikanischen Flugzeug. Es waren 10 Personen da, die sog. Gruppe Ulbricht. Und der Leiter der Sache war Ulbricht."
    Wolfgang Leonhard, Historiker, Publizist, Sowjetexperte. Als 24jähriger Politfunktionär kam er Ende April 1945 in den von der Roten Armee besetzten Teil Deutschlands: ein in der Sowjetunion geschultes Kind deutscher Emigranten, das helfen wollte, in dem besiegten Land eine antifaschistische Demokratie aufzubauen. Vier Jahre später, im März 1949, floh er, enttäuscht von der stalinistischen Praxis in der Sowjetischen Besatzungszone, über Prag ins blockfreie Jugoslawien. Wenig später ging er in die Bundesrepublik.
    Kronzeuge der Totalitarismustheorie
    Wer in den frühen 1960er Jahren ein westdeutsches Gymnasium besuchte, der kannte diesen Mann: Er wurde im Unterricht zitiert als Kronzeuge der Totalitarismustheorie. Sein Bestseller "Die Revolution entlässt ihre Kinder" stand in der Schulbibliothek, der nach diesem Buch gedrehte Fernsehdreiteiler war 1962 ein Straßenfeger, der in der Geschichtsstunde besprochen wurde. Die Zeitungen zitierten diesen Wolfgang Leonhard als Kremlastrologen. Dass er nicht nur Zeitzeuge war, der spannend über die Verhältnisse unter Stalin zu berichten wusste, ging damals unter. Doch Leonhard war nach dem Studium in Oxford ein umfassend informierter Osteuropahistoriker, der an amerikanischen Eliteuniversitäten Columbia und Yale lehrte. Die Auseinandersetzung mit dem orthodoxen Kommunismus blieb sein Lebensthema, das er in zahlreichen Publikationen abhandelte. Auch über die DDR hat er geforscht. Die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten sah er kritisch. Wolfgang Leonhard:
    "Die Wende seit September 1989 habe ich bewusst erlebt, mit riesigen Hoffnungen. Damals gab es wirklich einen Neubeginn. Bis zum 3. Oktober 1990 sind viele dieser Hoffnungen verflogen und an Stelle eines völlig neuen Systems, einer neuen Gesellschaft, bekamen wir dann die vorschnelle Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik, die ich zutiefst bedauert habe. Sie war zu schnell und zu einseitig, um wirklich etwas Neues zu beginnen."
    Kritik an DDR-Nostalgie
    Ebenso kritisch wandte Wolfgang Leonhard sich gegen Tendenzen, die DDR nostalgisch zu überhöhen. Die Verklärung des DDR-Alltags – Spreewaldgurken und Rotkäppchensekt als Kultobjekte – lehnte er ab.
    "Ich bin seit Anfang gegen Pauschalverurteilungen, dass alles nur Verbrecher waren, das habe ich nie gemacht. Aber auch gegen die Verharmlosung, die in zunehmendem Maße jetzt um sich greift, dass man weggeht vom diktatorischen System, von der Unterdrückung. Ich habe nichts gegen das einfache Leben, das muss auch geschildert werden, aber es ist eine Flucht aus der Darstellung der ernsten Situation, die es 40 Jahre lang in der DDR gegeben hat."
    Als Beobachter der OSZE begleitete Wolfgang Leonhard nach der Auflösung der Sowjetunion Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Russland. Der staatssozialistischen Utopie hatte er nach seinen Erfahrungen mit dem Sowjetsystem abgeschworen.
    "Ich glaube, der Begriff Sozialismus ist tot, aber die Wünsche, das Bestreben nach einem System, das etwas besser ist, etwas gerechter ist als unser gegenwärtiges System, die sind da."
    Heute Morgen ist Wolfgang Leonhard im Alter von 93 Jahren nach schwerer Krankheit gestorben.