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Zum Tod von Yaşar Kemal
Kurdisch-türkischer Dichter, Rebell und Volksheld

Yasar Kemal war einer der bedeutendsten türkischen Autoren. Er meldete sich immer wieder zu brennenden Fragen seiner Nation, wie Umwelt, Menschenrechte und Kurden, kritisch zu Wort - und wurde so zu einer Instanz des menschlichen und gesellschaftlichen Gewissens. Ein Nachruf des Schriftstellers Yüksel Pazarkaya.

Von Yüksel Pazarkaya | 01.03.2015
    Yaşar Kemal
    1997 erhielt Yaşar Kemal den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. (picture alliance/dpa/Tolga Bozoglu)
    In türkischen Autorenlexika wird Yaşar Kemals Geburtsjahr mit 1922 angegeben, im deutschen Sprachraum mit 1923. Auf der Pressekonferenz zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1997 sprach Kemal von sich als einem 73-jährigen Autor, demnach wäre er also 1924 zur Welt gekommen. Wie bei vielen älteren ländlichen Türken ließ sich das Geburtsdatum auch bei ihm nicht mehr genau feststellen.
    Sicher ist jedoch, dass er in der südtürkischen Provinz Adana, im Dorf Göğceli als Sohn einer kurdisch-türkischen Familie geboren wurde. Sein eigentlicher Name ist Kemal Sadık Göğceli. Sein Vater kam während des Ersten Weltkriegs aus dem russisch besetzten ostanatolischen Van nach Göğceli und lebte dort als einziger Kurde in dem türkischen Dorf. Mit fünf Jahren verlor Kemal nicht nur seinen geliebten Vater durch Meuchelmord, sondern auch infolge eines Unfalls mit einem fehlgeleiteten Messer beim Opferfest ein Auge.
    Es ist phänomenal, wie sich der Dorfjunge, der nach acht Jahren von der Schule abging, zum renommiertesten Romancier der türkischen Sprache seiner Generation entwickelte und früh zu internationalem Ruhm gelangte. Den Durchbruch schaffte er 1955 mit dem Roman "Ince Memed", "Memed mein Falke", der als erster türkischer Roman nach dem Zweiten Weltkrieg in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, so 1960 auch ins Deutsche. Kemal kam sehr früh intensiv mit der mündlichen Erzähltradition seiner anatolischen Heimat in Berührung.
    "Ich war in meiner Jugend ein Erzähler von Volksepen. Ich hatte einen Drang dazu. Ein Junge von 16 Jahren geht in die Dörfer und hängt sich den Frauen an den Rockzipfel und bittet sie: Schwester, sag mir ein Klagelied auf. Alle unsere Frauen können aus dem Stand Klagelieder singen. Aber sie beachten mich nicht - einen Jungen in enger Pluderhose, die Taschen voll mit gelben Zetteln, mit Heften, der Klagelieder aufschreibt."
    Bevor Kemal seinen ersten Roman schrieb, sammelte er Oden und Volksgeschichten mit mythischen Helden. Dann ging er nach Istanbul und übte sich als Publizist in langen Zeitungsreportagen über das Leben der einfachen Leute.
    Für seine Romane schöpfte er einerseits aus der reichhaltigen Quelle der mündlichen Tradition der Volksepen, Märchen und Lieder, durchsetzt von Mythen und Legenden, auf der anderen Seite aus intensiver Lektüre des russischen und französischen Romans des 19. Jahrhunderts sowie der Moderne weltweit, soweit sie ins Türkische übersetzt war.
    "Zum Beispiel meine frühe Novelle: Der Granatapfelbaum auf dem Hügel. Sie basiert bis zur Hälfte auf Volksliedern, dann geht sie nach der Hälfte in einen modernen Roman über."
    Zeitdokumente und moderne Epen
    Diese Vermischung und Symbiose samt einer ebenso realistischen wie mythenhaften Beschreibung der Landschaft und der Menschen zeichnen Yaşar Kemals Romane aus. Wie viele bedeutende Autoren ist er in seinen Romanen einer besonderen Landschaft und ihren Menschen verpflichtet: der Landschaft Çukurova, der Tiefebene zwischen Taurus und Mittelmeer. Früh schon erfuhr er dort die Verschandelung der Natur sowie die Unterdrückung und Ausbeutung der Bauern durch Großgrundbesitzer. Die Zeit der Verwandlung einer Naturlandschaft durch den Einbruch von tausenden Traktoren in sumpfige Reisfelder und vergiftete Baumwollplantagen, der Abgesang auf die traditionelle Nomadenkultur im Taurusgebirge durch die Arbeitswanderung in diese Plantagen und in die Städte finden als prägnante Umwälzungsprozesse Eingang in seine Romane.
    So sind sie nicht nur moderne Epen, sondern zugleich Zeitdokumente epochaler Verwandlungen in Natur und Gesellschaft. Neben der Memed-Tetralogie, die den Kampf des mythisch verklärten Anti-Helden Ince Memed gegen das Unrecht durch den Großgrundbesitzer episch ausbreitet, zählt Kemal selbst die Romane "Der Wind aus der Ebene" und "Eisenerde, Kupferhimmel" zu seinen wichtigsten. Im Ersteren wird die mühselige Wanderung der dörflichen Saisonarbeiter auf die Baumwollfelder und die Schikanen des Großgrundbesitzers erzählt, im letzteren die Verelendung derselben Ausgebeuteten im strengen Winter.
    Zu einem seiner eindrucksvollsten Werke gehört auch "Das Lied der Tausend Stiere", der tragische Abgesang auf die Kultur der Taurus-Nomaden, die ersatzlos der maschinellen Zivilisation zum Opfer fällt. Yaşar Kemal wurde durch sein Werk und dadurch, dass er sich immer wieder zu brennenden Fragen der Zeit, wie Umwelt, Menschenrechte und Kurden, kritisch zu Wort meldete, zu einer Instanz des menschlichen und gesellschaftlichen Gewissens. Da Türken, Kurden, alle ihm Gehör schenkten, sah sich zuletzt auch der Staat genötigt, ihn als eine solche vermittelnde Instanz zu akzeptieren.
    Fast alle seiner über 30 Romane erschienen auch auf Deutsch. Das Verdienst dafür gebührt insbesondere seinem großartigen Übersetzer Cornelius Bischoff.