Freitag, 29. März 2024

Archiv

Zur Bedeutung des Massivs
Mythos Gotthard

Nach 17 Jahren Bauzeit wurde gerade der neue Gotthard-Basistunnel für den Probebetrieb freigegeben. Alle Welt sprach vom Gotthard. Er ist kein Berg, sondern ein Massiv mit vielen Gipfeln, umgeben von anderen Gebirgen. Seine Bedeutung liegt in der zentralen Lage - und er ist dazu bestimmt Gegensätze zu verbinden.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 05.06.2016
    Blick in den Gotthard-Basistunnel - aufgenommen während der Bauarbeiten im September 2010
    Blick in den Gotthard-Basistunnel - aufgenommen während der Bauarbeiten im September 2010 (picture alliance / dpa - Keystone)
    Einen Berg namens Gotthard gibt es gar nicht. Das, was alle Welt als Gotthard kennt, ist ein Massiv mit vielen Gipfeln. Nichts Spektakuläres, keine unverwechselbare Form wie das Matterhorn, kein atemberaubendes Panorama. Ein Gebirge, umgeben von anderen Gebirgen. In dieser zentralen Lage besteht seine Bedeutung. Wer Gotthard sagt, meint Mitte: Mitte der Schweiz, Mitte der Alpen, Mitte Europas. Von hier fließt das Wasser in alle Richtungen ab: die Rhône, die sich ins Mittelmeer ergießt, und der Junge Rhein, der zur Nordsee strömt.
    "Also man spricht vom Wasserschloss Europas. Das wird natürlich auch mythisch überhöht, dass man im Jungen Rhein die Füße baden kann. Das haben die Dichter und Denker als existenzielles Erlebnis aufgefasst."
    Der Historiker Helmut Stalder hat ein Buch über die Kulturgeschichte des Gotthard geschrieben.
    "Goethe ist einer der berühmtesten Gotthard-Wanderer, er war dreimal oben, er hat es dreimal nicht geschafft, auf der anderen Seite herunter zugehen, zweimal wegen einer Weibergeschichte und einmal wegen politischer Umstände. Aber er hat das stark reflektiert; dieser Übergang über den Pass ist für ihn ein existentieller Vorgang, ein Abschied, ein Neubeginn, eine Verwandlung, eine sehr dialektische Angelegenheit."
    Süd-Sehnsucht nördlich der Alpen
    Die ewige Süd-Sehnsucht des nördlich der Alpen lebenden Menschen – der Gotthard symbolisiert diese Sehnsucht mehr als jeder andere Pass. Er ist das mediterrane Versprechen schlechthin, er verkörpert die Möglichkeit des ganz anderen, sonnigeren Lebens.
    "Man darf übrigens nicht immer nur vom Norden mit der Sehnsucht nach dem Süden reden. Der Ursprung unserer Zivilisation war umgekehrt. Die großen Alpenpässe waren der Weg, über den die Mittelmeerkultur, die römische Kultur, die antike Kultur in den Norden kam. Die Germanen haben ja nichts produziert. Die Germanen haben die Hosen erfunden und das Bier – und sonst gar nichts", sagt der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt, der natürlich seinen Goethe kennt und darauf hinweist, dass dessen berühmtes Gedicht über das Land, wo die Zitronen blüh’n, dieser vollendete Ausdruck einer romantisch-europäischen Paradiesvorstellung, auch eine genaue Beschreibung des Gotthardpasses enthält.
    Der Tunnelbau verweist aber nicht nur auf die kurze Geschichte der letzten paar Jahrhunderte oder Jahrtausende, sondern die Arbeit am Felsgestein evoziert auch urzeitliche Perspektiven. 2.500 Meter unter dem Berg sind die Wände und die Luft 43 Grad warm; die Eisenbahnpassagiere merken davon in ihren klimatisierten Wagen nichts, aber die Kühlung der Lokomotiven ist unter diesen Bedingungen eine technische Herausforderung. Unvorstellbare Erdkräfte sprechen durch die Hitze zu den Menschen; 15 Millionen Jahre alte Mineralien haben die Strahler, so heißen hier die Bergkristallsucher, begutachtet und eingesammelt, wenn die Bohrmaschinen still standen – Steine, die noch keines Menschen Hand berührt hatte.
    Gegensätze werden hier verbunden
    Technische Rationalität und alter Mythenglaube finden beim Gotthard zusammen wie Nord und Süd, wie Wasser und Gestein, wie Geschichte und Gegenwart. Der Gotthard ist dazu bestimmt, Gegensätze zu verbinden; er selbst ist ja ein Monument des Durch- und Übergangs. Doch er war auch ein Widerstandssymbol der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Hier sollte nach den Plänen von General Guisan das letzte Rückzugsgebiet der Eidgenossenschaft, das "Réduit", sein, falls Hitler das Land angegriffen hätte.
    Praktisch jeder, der in der Schweiz aufwächst, hat den Gotthard in seiner Biografie – irgendwie: als Wanderer, als Wehrpflichtiger oder als "Wolkensammler" wie der Künstler Jean Odermatt, der jahrzehntelang das Wetter am Gotthard fotografierte. Die Gotthardsymbolik spielte in der Landesgeschichte vor allem nach 1848 eine große Rolle, als der Bundesstaat nach einem kleinen Bürgerkrieg entstanden war und die gerade noch verfeindeten Gebiete integrieren musste.
    "Die Schweiz ist ja eigentlich ein unmögliches Land mit vier Sprachen, keiner gemeinsamen Konfession, mit Alemannen und Romanen und vielen relativ isolierten Tälern, also ein Vielvölkerstaat, zusammengewürfelt auf einem Territorium, also ein sehr prekäres Land, und darum war der Bedarf nach Integration immer sehr hoch, weil diese Fermente, die sonst fürs ‚Nation Building’ wesentlich waren, die fehlten eben in der Schweiz."
    Mentale Geografie der Schweiz verschoben
    Auch da wird der neue Gotthardtunnel einen Beitrag leisten. Wenn die Fahrt von Zürich nach Lugano nur noch eine Stunde und 20 Minuten dauert, verschiebt sich die ganze mentale Geografie der Schweiz. Das ist der Zug der Zeit: Entfernungen werden zu Erinnerungen.
    Vielleicht jedoch nicht in dem Maße, wie viele glauben. Der Europatunnel unter dem Ärmelkanal hatte bei seiner Eröffnung ähnliche Kommentare ausgelöst, aber England ist kein bisschen kontinentaler geworden. Das Meer ist noch da, und der Berg wird ebenfalls bestehen bleiben: der Berg des guten Herzens – was die wörtliche Bedeutung von "Gotthard" ist.