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"Zurück auf Los“

"Zurück auf Los” ist ein in jedem Sinne programmatischer Titel. Martina Hefter hat mit diesem Buch auch eine Art Selbstvergewisserung als Autorin exerziert, die nochmals an den Anfang allen Schreibens zurück gegangen ist: zur Sprache, um sie als Material für sich und für uns neu zu entdecken.

Von Claudia Kramatschek | 25.05.2005
    "Die Rezeption eines Hotels ist ein unentschiedener Ort, ohne rechte Bestimmung. Gäste betreten ihn und holen sich die Zimmerschlüssel. Sie melden sich und teilen kurz mit, dass sie am Leben sind. Für ein zwei Minuten treten sie in ein anderes Leben ein, wühlen das Leben des an der Rezeption Diensthabenden auf, bevor sie den Schlüssel in die Jackentasche verschwinden lassen und aus dem schnell angetasteten Dasein eines anderen wieder herausgehen, mit einem leisen Schritt zur Seite. Stören Sie mich nicht, das ist es, was meine Haltung hinter dem Rezeptionstresen mitteilt, nehmen Sie den Schlüssel und hauen Sie ab."

    Hauen Sie ab – das denkt die junge Frau hinter dem Tresen, die an diesem Abend Dienst hat im Hotel ihrer Mutter, einem Hotel, das im Allgäu liegt. Es wird eine lange – und eine besondere Nacht, in der dieser Roman spielt: Denn am anderen Ende des Tals liegt, nun nächtlich erleuchtet, das Haus der jungen Frau – und dort packt ihr Freund sein Hab und Gut, um sie und das Haus am nächsten Morgen zu verlassen.

    "Morgen wird Raimund aus meinem Haus ausziehen. Obwohl er die ganzen Jahre über seine eigene Wohnung besessen hat, sagen wir beide: Er zieht bei mir aus. Immerhin steht in der Stube ein Sessel, den wir gemeinsam bei einem Möbeldiscounter in der Kreisstadt gekauft haben, außerdem im Schlafzimmer ein Computer, der vorher in Raimunds Arbeitszimmer gestanden hat. Raimund brachte ihn im letzten Januar zu mir, weil mein Laptop für einige Zeit nicht funktioniert hatte, ein sehr alter Computer, die Kabel waren ineinander verdreht und ihre Enden schleiften im Schnee, als Raimund das Gerät über den Vorplatz ins Haus trug. Ein wahrer Strom aus Kabeln ist es gewesen, weshalb fällt mir das jetzt wieder ein?"

    Am Morgen nach dieser Nacht wird übrigens gar nicht mehr so klar sein, wer eigentlich wen verlässt oder gehen lässt. Weggehen und Ankommen, weggehen, um anzukommen – das war übrigens schon ein Thema in Hefters Debütroman "Junge Hunde”. Und wie in "Junge Hunde” erzählt Hefter erneut von einer Vergewisserung des Selbst – und das im Gewand der Liebe, leise und tastend, im Takt eines zögerlichen Krebsganges von Tanz und Distanz.

    "Beziehungen oder ja Liebesbeziehungen basieren ganz oft auf diesem Spiel zwischen Nähe und Distanz. (..) Aber mir schien, dass ich das nicht anders ausdrücken kann als (..) eine Art sprachliche Abbildung zu geben dieses: Man bewegt sich aufeinander zu, man kann oft gar nicht miteinander kommunizieren, es gibt Dinge, die sind einfach in einer Beziehung nicht sagbar. Und ja, (..) für mich ist das dann in der Sprache eine Möglichkeit, so damit umzugehen, dass man das nachbilden kann oder (..) in einer anderen Form darlegen, wie diese Kommunikation abläuft."

    Sprache aber – und die Frage, wie sich unser Selbst daraus qua Erzählen konstituiert: das scheint die eigentliche Hauptfigur, die der Roman umkreist. Denn Hefter hat ein wunderbares und wunderbar zartes Gewebe aus Worten erschaffen, das die verwickelten Lebensfäden sichtbar macht, an denen sich – Stromkabeln gleich, die sich ineinander verwirren – jede Existenz aufhängt und sie zugleich verknüpft mit Zeit und Raum. Das Koordinatennetz von Zeit und Raum öffnet sich nämlich ins Unendliche, je länger die Nacht dauert, in der die Erzählerin ihr Leben wie mit einem Echolot befragt:

    Noch sind wir im Allgäu, in tiefster Provinz, und Marlen, die Ich-Erzählerin erinnert sich an das, was war zwischen Anfang und möglichem Ende ihrer Liebe mit Raimund: An ihre erste Begegnung in einem Supermarkt; an die Bücher, die Raimund in ihrer Wohnung wie Wegmarken verstreut; an die imaginären Aufkleber, mit denen sie eines Morgens ihr Leben in markigen Sprüchen benennen. Doch bald schon werfen die Erinnerungen ein Netz aus in die Nacht, ziehen immer weitere Kreise und ergeben wie Kaskaden ein um das andere Bild, das sich verfängt in diesem Nacht- und Satznylon, wie Hefter selbst diesen Wortstoff nennt. Da ist etwa die Geschichte der Familie: Männer, die wie der Vater und der Großvater, eines Tages verschwinden; ein Familienurlaub im Jahre 1992 in Quasow, wo es einen See gibt, in dem vielleicht die eigene Großmutter schon geschwommen ist, und dann das Jahr 1937, in dem die Großmutter – Stichwort "Kraft durch Freude” – einen Urlaub im Allgäu macht und dort den Großvater kennen lernt.

    Hefter aber interessiert die Gegenströmung dieser erzählten Zeit: Denn im gleichen Maße, wie sich die Gegenwart zur Vergangenheit hin öffnet und das Private hin zum Politischen, fängt sie ein, dass der Anfang einer jeden Geschichte eigentlich ohne Anfang ist und sich dem Erzählen beharrlich entzieht:

    "Es ist unmöglich, alles der Reihe nach auszusprechen. Wie die verschlungenen Kabel auf der Rückseite des Computers, die man nicht mehr auseinander halten kann, die sich von einem Kabelverhau in den nächsten fortzusetzen scheinen, enthalten die Sätze immer schon die anderen Sätze und bilden die anderen Sätze, wachsen in die anderen Sätze hinein, man kann nur versuchen, ein Bild davon zu geben, von den Verkleinerungen, Vergrößerungen, vom Makroskopischen im Mikroskopischen, ein Wimperntierchen, das an die Innenseite des Wals geschmiegt liegt, und ein Wal, der an die Innenseite des Wimperntierchens geschmiegt liegt."

    Ein ironischer Seufzer durchkreuzt daher immer wieder wie ein Motto diesen inneren Monolog: Wenn es nur einen einzigen Satz gäbe, der alle anderen enthielte... als könnte man die Dinge klar umreißen mit einem Satz. Ein sinnloses Unterfangen, weiß die Autorin Hefter. Doch zugleich schlägt ihre Sprache genau daraus Funken, denn:

    "Gleichzeitig ist es für mich sogar letztlich auch eine ästhetische Forderung: dass man die Sprache so verwenden muss, dass sie daneben liegt! (..) Es ist gar nicht möglich, irgend etwas ganz genau zu sagen, man kann es nie so ganz richtig erzählen. Auch wenn man eine Begebenheit erzählen möchte. (..) dann ist es durch die fortgeschrittene Zeit schon wieder verfälscht, dann hat man ein Detail vergessen. (..) Gleichzeitig ist das ein Problem, was ich sehr fruchtbar finde fürs Schreiben."

    Nur scheinbar verfranst sich daher das Erzählgefüge in seinen weitesten Ausläufern bis nach Toronto, wohin die Lebensgeschichte eines Hotelgastes führt. Doch dieses Spiel trügt. Denn Hefter – übrigens eine Bewunderin von Landschaftsmalerei - beherrscht gekonnt die Koordinaten und führt ihre Erzählung immer wieder zum Epizentrum ihrer Erzählerin zurück. Der Blick aber dieser Erzählerin ist wunderbar hellsichtig für die Physis von Ding und Natur, mit der sich unsere Lebenserzählung so unweigerlich wie unmerklich verknüpft. Kreise und Kreisläufe kehren daher als Bilder immer wieder – und sei es der Verweis auf die Wolken, die einst dem See das Wasser spendeten, in dessen Wellen schon die Großmutter schwamm.

    "Vergangene Begebenheiten strömen in den Blutkreislauf, mischen sich ins das Material der Augäpfel; und nicht nur die Zaudernden und Zögernden wie der Eiskäufer im Kaufmarkt, nicht nur die diskreten Touristen, sondern auch die Wiesenbewohner, die Insekten und seltenen Pflanzen werden aus den Beobachtungen heraus genommen werden, weil sie ja bereits im Körper sind, Sedimente."

    Es sind genau diese Sedimente – die unsichtbaren feinstofflichen Ablagerungen im Erzählstoff eines Lebens – auf die Hefter mit "Zurück auf Los” ihr Augenmerk gerichtet hat. Das verleiht ihrer eigenen Sprache wiederum eine organische Qualität, die in der deutschen Gegenwartsliteratur derzeit seinesgleichen wohl sucht.

    "(..) Es gibt eine dänische Lyrikerin, Inger Christensen (..) der ich mich sehr verbunden fühle und die das ja auch in ihren Gedichten so schön immer eigentlich zur Sprache bringt, (..) .. dass das Gedicht zum Beispiel das Wachsen ist einer Pflanze, und das Gedicht wächst so aus einem heraus. Man muss natürlich vorsichtig sein mit solchen Formulierungen, irgendwann klingt das dann einfach sehr esoterisch und es ist natürlich auch absolutes Handwerk und Technik. (..) Inger Christensen sagt aber glaube ich, dass auch das Wachsen der Pflanze auch Handwerk und Technik ist."

    "Zurück auf Los” ist somit ein in jedem Sinne programmatischer Titel. Denn Hefter hat mit diesem Buch auch eine Art Selbstvergewisserung als Autorin exerziert, die nochmals an den Anfang alles Schreibens zurück gegangen ist: zur Sprache, um sie als Material für sich und für uns neu zu entdecken.

    "Zurück auf Los"
    Von Martina Hefter
    (Wallstein Verlag)