Mittwoch, 24. April 2024

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Zuwanderungsdebatte
Roth: "Das ist der Sound des antieuropäischen Populismus'"

Die stellvertretende Bundestagspräsidentin Claudia Roth (Grüne) hat die CSU in der aktuellen Zuwanderungsdebatte scharf kritisiert. Mit Sätzen wie "Wer betrügt, der fliegt" schüre die Partei Ängste und antieuropäischen Populismus, sagte Roth im Deutschlandfunk.

Claudia Roth im Gespräch mit Jasper Barenberg | 02.01.2014
    Claudia Roth, stellvertretende Bundestagspräsidentin
    Roth: Es dürfen keine neuen Mauern errichtet werden. (picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini)
    Jasper Barenberg: Schon die ersten Bundestagssitzungen haben einen Eindruck davon vermittelt, wie es im Bundestag in Berlin in den nächsten vier Jahren zugehen könnte: Minister versenken ihre Köpfe in Akten, der Plenarsaal leert sich, die Pressetribüne leer gefegt, weil Politiker der Koalition Selbstgespräche führen, denn ihre kurze Redezeit haben die Oppositionspolitiker längst aufgebraucht. Das Gesetz über die Rentenbeiträge peitschen Union und SPD in Rekordzeit durch, erklären es vorab schon für gültig – rechtlich zumindest zweifelhaft.
    Ist das die neue parlamentarische Wirklichkeit in der Zeiten der riesengroßen Koalition? Diese Frage muss auch Claudia Roth als neue Bundestags-Vizepräsidentin umtreiben. Sie ist jetzt am Telefon, schönen guten Morgen!
    Claudia Roth: Schönen guten Morgen, Herr Barenberg!
    Barenberg: Frau Roth, Schlafwagen Parlamentarismus statt Schlagabtausch? War das jetzt schon mal ein Vorgeschmack kurz vor Weihnachten auf das, was uns in den nächsten vier Jahren blüht?
    Roth: Na ja, vielleicht war das ein gutes Beispiel, wie es nicht sein darf in einer starken, parlamentarischen Demokratie, denn auch eine große Koalition darf ja nicht zur Käseglocke verkommen, die alles erstickt, sondern gerade eine große Koalition braucht auch eine starke Opposition mit Rederechten, mit Rechten, Normenkontroll-, Klage-, Untersuchungsausschüsse, mit der Möglichkeit, tatsächlich diesen parlamentarischen Raum zu einem Raum der Kontroverse und der Debatte werden zu lassen. Und da ist noch einiges zu tun, denn demokratische Rechte der Opposition sind ja nicht Rechte nach Gutsherrenart, sondern die müssen fest verankert sein. Das ist der Geist unserer Verfassung. Da hat der Bundestagspräsident sicher recht, wenn er sagt, er ist auf der Seite dieser Rechte, auf der Seite der Opposition, nur dann muss man sie auch wirklich richtig fest verankern. Das wird eine der wichtigsten und notwendigsten Aufgaben sein jetzt am Anfang des neuen Jahres.
    Barenberg: Und wenn Sie sagen, fest verankern, dann meinen Sie, dass es nicht reicht, dass die Koalitionsfraktion von Union und SPD Zusagen machen, meinetwegen schriftlich, sondern dass es schon darum geht, beispielsweise die Geschäftsordnung zu ändern und da den Oppositionsparteien stärkere Rechte zuzubilligen?
    Roth: Ja, das muss man sehen, Geschäftsordnung ändern, also ich bin ganz davon überzeugt, dass die Verfassung es sehr klar macht, dass der Geist der Verfassung sagt, ja, Untersuchungsausschuss, also die großen Rechte der Opposition in einem aktiven, lebendigen Parlament müssen geachtet sein. Da braucht man nicht eine Verfassungsänderung, aber wir brauchen sozusagen eine schriftliche Fixierung. Es kann nicht sein, dass man sich Debatten anguckt und sagt, ach, da geben wir dann den Kleinen ein, zwei Minuten mehr. So funktioniert das nicht. Und es ist ein bisschen irritierend, dass jetzt schon über die Verlängerung der Legislaturperiode debattiert wird, bevor genau diese parlamentarischen Rechte fixiert sind.
    Barenberg: Grüne und Linke haben ja schon etwas längere Redezeiten zugebilligt bekommen. So richtig lebendig war es im Parlament doch nicht, denn auf der anderen Seite haben natürlich auch die Abgeordneten der Koalition das Recht zu reden und wollen das auch nicht beschnitten wissen. Wird es also insgesamt, was sozusagen die Debatten im Parlament angeht, so bleiben die nächsten vier Jahre?
    Roth: Also ich denke, es ist wirklich eine Aufgabe auch gerade von einem Präsidium von uns, zu überlegen: Wie schaffen wir es, dass die wichtigen Auseinandersetzungen, die wichtigen politischen Auseinandersetzungen, Kontroversen – und die Agenda ist ja riesenlang, es gibt da viele, viele, viele Punkte, wichtige Herausforderungen, die anstehen –, wie schaffen wir, dass der politische, demokratische Raum wieder an Stärke gewinnt, dass er nicht sozusagen Themen abspult, aber die eigentliche Auseinandersetzung, die läuft wo ganz anders ab? Und es kann natürlich auch nicht sein, dass Opposition dann nur von der Großen Koalition selber geliefert wird, dass die Große Koalition selber ihre Oppositionsdebatte liefert. Das zeichnet sich ja an manchen Punkten jetzt schon ab.
    Barenberg: Ja, da haben Sie völlig recht, denn kaum im Amt gibt es ja schon reichlich Streit im neuen Jahr, also da geht es um den Mindestlohn, um die Rente, aber vor allem eben um das, was die CSU Armutszuwanderung in die Sozialsysteme nennt. Jetzt hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier mal auf den Tisch gehauen und gesagt, also das verträgt sich nicht mit der europäischen Idee, und sein Staatssekretär Michael Roth hat der "Süddeutschen Zeitung" sogar gesagt, das seien "dumme Parolen", wörtlich, mit der könne man weder den bayrischen Stammtisch beherrschen noch in Berlin professionell regieren. Sprechen die beiden SPD-Politiker Ihnen da aus dem Herzen?
    Roth: Ja, sie sprechen mir aus dem Herzen, sie haben völlig recht, es geht vor allem aber auch um deutsche Interessen. Es geht nicht nur um die Frage, wie schneidet die CSU bei der Kommunalwahl in Bayern, die in wenigen Monaten stattfindet, ab oder bei der Europawahl, der Zweck heiligt die Mittel nicht, sondern es geht darum, dass Deutschland, - gerade ein starkes Deutschland -, muss ein starkes europäisches Deutschland sein. Wir sind ein großer und ein wichtiger Akteur, und gerade Deutschland profitiert davon, dass es europäisch ist, nicht, dass versucht wird, Europa deutsch zu gestalten. Und ich muss Ihnen sagen, ich bin auch ziemlich, ja, entsetzt über einen Spruch, wer betrügt, fliegt, ausgerechnet von der CSU, da gäbe es einiges vor der eigenen Haustür zu kehren. Aber es ist eben dieser Sound, der antieuropäischen Populismus schürt und der völlig verkennt, was die großen Freiheiten sind, die Europa versprochen hat und verspricht den Menschen. Es kann ja nicht nur um Freizügigkeit gehen von Dienstleistungen, von Kapital und von Waren, sondern es geht um die Freizügigkeit der Personen, die große Freiheit, das große europäische Versprechen, wo die Menschen einen Mehrwert von Europa haben. Und wenn Bulgarien und Rumänien jetzt diese Freizügigkeit genießt, dann ist das ein weiterer Schritt hin zu mehr Europa, und da gehe ich dann nicht damit um, dass ich Ängste schüre und dass ich Abwehrhaltungen produziere, zumal wir in Deutschland ja durchaus auch auf der Suche nach Fachkräften sind.
    Barenberg: Auf der anderen Seite, Frau Roth, gibt es natürlich in bestimmten Städten, beispielsweise hier in Nordrhein-Westfalen, große Probleme. Wie damit umgehen und die Missstände benennen, wenn nicht auf die Art, wie es die CSU tut?
    Roth: Also die eine Sache ist die europäische Frage, ist die Freizügigkeit, ist das wirklich gefährliche Beschreiben von drohenden Gefahren. Ich kann mich da regelmäßig dran erinnern, als Spanien beigetreten ist, als Portugal beigetreten ist, da wurde der Eindruck erweckt, als würde ganz Spanien jetzt nach Deutschland und nach Portugal umsiedeln. Es war mitnichten so. Das eine ist die Freizügigkeit, die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union.
    Das andere ist aber – und das ist auch ein europäisches Thema, was ein ganz böses und bitteres Licht auf dieses Europa wirft –, das ist die Flüchtlingskatastrophe an den Außengrenzen, das ist Lampedusa, das ist die Globalisierung der Gleichgültigkeit, von der Papst Franziskus gesprochen hat. Und da braucht es tatsächlich eine andere Politik, auch und gerade in Deutschland, eine andere Bereitschaft der Flüchtlingsaufnahme, der Unterstützung, der Schutzgewährung, und da dürfen die Kommunen natürlich nicht allein gelassen werden, sondern da muss man Kommunen, auch gerade in Nordrhein-Westfalen, unterstützend helfen.
    Barenberg: Sehen Sie denn die Chancen, sehen Sie Anzeichen dafür, dass die neue Große Koalition in dieser Richtung etwas unternimmt?
    Roth: Tja, da muss ich jetzt gut nachdenken. Also der proeuropäische Kurs von Steinmeier, vom neuen Außenminister, der ist sehr deutlich. Aber ob tatsächlich sich etwas ändert in der Frage, wie gehen wir eigentlich mit einer humanitären Katastrophe um wie in Syrien, die eine ganze Region destabilisiert – wenn Sie sich die Lage im Irak, im Libanon anschauen, dann wird immer mehr ... in Jordanien, ... dann destabilisiert auch diese humanitäre Katastrophe immer mehr die Region, und da können wir nicht neue Mauern errichten –, da sehe ich und höre ich leider sehr, sehr wenig von dieser neuen Regierung, die sagt, europäische Verantwortung heißt auch Verantwortung für Mitgliedsländer, was Flüchtlingsaufnahme angeht, die nicht an der Außengrenze sind. Wir können nicht neue Mauern errichten und dem täglichen Sterben im Mittelmeer zusehen.
    Barenberg: Ich habe es anfangs erwähnt, wir erreichen Sie heute in St. Petersburg, Frau Roth, lassen Sie uns also noch über Wolgograd sprechen, über diese beiden Terroranschläge dort. Wolgograd wird als Stadt der Angst in diesen Tagen beschrieben. Welchen Eindruck haben Sie in St. Petersburg gewinnen können? Wie reagieren die Menschen, wie gehen sie damit um?
    Roth: Also das waren natürlich wirklich schreckliche Anschläge, es war fürchterlich, am ersten Tag dieser fürchterliche Anschlag im Bahnhof, man hat die Bilder hier gesehen in den Fernsehern, und dann am nächsten Morgen ging es ja sofort weiter mit diesem Anschlag auf den Bus, wo die Menschen zur Arbeit gefahren sind. Es gibt 34, 35 Tote, und man merkt auch in der Stadt St. Petersburg die Anspannung, die Verunsicherung, und man hat vor allem gemerkt die Sorge, dass es am Silvesterabend zu einem Anschlag kommen könnte, weil hier ja hunderttausende, abertausende Menschen unterwegs sind. Man hat einen massiven Polizeieinsatz gemerkt, martialische Worte von Putin, die, glaube ich, aber nicht darüber hinwegtäuschen können, dass der schwelende Konflikt innerhalb Russlands in der Kaukasusregion überhaupt nicht im Griff ist.
    Barenberg: Er hat ja, Putin hat gesagt, dass er die Terroristen bis zur völligen Vernichtung jagen wird.
    Roth: Ja, das ist schrecklich.
    Barenberg: Was halten Sie von dieser Politik der Härte?
    Roth: Ja, das ist schrecklich. Nun ist dieser Anschlag durch nichts zu rechtfertigen, aber diese Worte, diese martialischen Worte Putins gegen ganze Regionen, die spalten natürlich auch hier Russland. Man merkt deutlich: Wer ist rausgegriffen worden bei den Untersuchungen jetzt in den letzten Tagen? Wen hat man kontrolliert? Also man merkt, es gibt wirklich auch die Gefahr eines innerrussischen Rassismus. Und auch mit den martialischen Worten und mit der martialischen Entrechtung wird Putin es nicht schaffen, Ruhe und Frieden herzustellen, da braucht es Demokratie, es braucht Dialog, es braucht ein ganz anderes Umgehen auch mit den Nachbarstaaten. Und man merkt natürlich auch auf der anderen Seite die Vorfreude auf Sotschi, auf dieses große Ereignis. Aber auch das kann und darf eben nicht zu einer Propagandaveranstaltung, zu einer Werbeveranstaltung für Putin werden, sondern wir müssen auch weiterhin bei aller Trauer und bei aller Empathie für das, was jetzt passiert ist an Terroranschlag, auch die demokratischen rechtsstaatlichen Menschen und Bürgerrechte in Russland immer wieder einfordern und thematisieren.
    Barenberg: Sagt Claudia Roth, die neue grüne Bundestags-Vizepräsidentin. Danke für das Gespräch heute Morgen, Frau Roth!
    Roth: Danke schön und allen ein gutes und glückliches und gesundes neues Jahr!
    Barenberg: Ihnen natürlich auch, Frau Roth! Tschüss!
    Roth: Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.