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Zwangsstörungen
Frühe Therapie steigert Heilungschancen

Habe ich die Haustür wirklich abgeschlossen? Ist der Herd ausgeschaltet? Kontrolle ist gut, aber wiederholtes Kontrollieren gegen den Willen kann auf eine Zwangsstörung hinweisen. In Deutschland sind über zwei Millionen Menschen betroffen. Eine neue Leitlinie soll jetzt helfen, die Erkrankung schneller zu erkennen.

Von Anna-Lena Dohrmann | 10.03.2015
    Ein Klebezettel mit dem Schriftzug "Herd aus?" klebt an einem Herd neben den Drehknöpfen.
    Gegen den eigenen Willen müssen an Zwangsstörungen leidende Patienten immer wieder dieselben Dinge kontrollieren. Das kann Stunden dauern. (dpa / picture alliance / Jens Kalaene)
    "Also die Kontrollen bezogen sich halt sehr viel auf's Studium, dass ich irgendetwas, was ich geschrieben habe, nachkontrolliert habe, oder dass ich, wenn ich einen Brief abgeschickt habe, den ganz oft kontrolliert habe, die Adresse, den Inhalt, ob irgendwelche Daten dort richtig sind. Und das hat aber auch nicht aufgehört. Also das war nicht nach einmal durchschauen dann erledigt, sondern das fing dann immer wieder an. Und ich konnte das nicht beeinflussen, damit aufzuhören sozusagen", erzählt Kristin, die ihren vollen Name nicht im Radio hören möchte.
    Kontrollzwänge haben Alltag fest im Griff
    Die Kontrollzwänge hatten ihren Alltag irgendwann fest im Griff: Vor dem Verlassen ihrer Wohnung musste die Studentin Fenster, Heizungen und Haustür mehrfach überprüfen. Teilweise brauchte sie dafür länger als eine Stunde. Nach fünf Jahren kam dann der Zusammenbruch: Mit einer schweren Depression wurde sie in die Klinik aufgenommen. Dort erkannten die Ärzte die Zwangsstörung. Kristin: "Also mit den Kontrollen, das hatte ich eigentlich ganz lange gar niemandem erzählt, das war eigentlich nie ein Thema bei einem Arzt gewesen. Ich hatte es einerseits wahrscheinlich nicht als Erkrankung angesehen, sondern als totale Macke, und andererseits wirklich dieses Schamgefühl, weil ich wusste ja, dass es nicht der Norm entspricht."
    Ärzte sollten gezielt nachfragen
    Umso wichtiger ist es, dass Ärzte gezielt nachfragen, betont Professorin Katarina Stengler. Sie leitet die Ambulanz für Zwangserkrankungen an der Uniklinik Leipzig. Die Patienten leiden im Durschnitt zehn bis 15 Jahre an ihren Zwängen, bevor die richtige Diagnose gestellt wird. Stengler: "Und Zwangserkrankte sind Künstler im Verheimlichen! Das heißt aber, unsere Botschaft an die Kollegen ist, einmal mehr nachzufragen. Es reicht in der Regel zwei, drei Fragen mehr zu stellen: Denken Sie an Dinge häufig? Waschen, kontrollieren Sie sich häufiger? Das sind so Kernfragen, die eigentlich den Weg so ein bisschen ebnen und die auch den Betroffenen Mut machen, das eine oder andere dann zu erwähnen."
    Solche Fragen sind auch explizit in der neuen Behandlungsleitlinie für Zwangserkrankungen aufgeführt. Denn oft erzählen die Patienten in der Sprechstunde nur, dass sie antriebslos sind oder Angst haben, das Haus zu verlassen. Voreilig vermuten Ärzte dann eine Depression oder Angststörung. Doch eine frühzeitige richtige Diagnose ist wichtig, so Stengler: "Damit man natürlich frühzeitig auch ganz spezifische Behandlungsmodule und -angebote etablieren kann. Es gibt jetzt gerade im Kontext der neuen S3-Leitlinie ganz konkrete Empfehlungen, die auch spezifisch zur Behandlung der Zwangserkrankung sind. Das sind pharmakotherapeutische, aber auch psychotherapeutische Interventionen. Und die sich eben auch unterscheiden von der Behandlung einer Angsterkrankung oder einer Depression."
    Je früher die Therapie, desto besser die Heilungschancen
    Und Studien zeigen eindeutig: Je früher eine spezifische Therapie beginnt, desto besser sind die Heilungschancen. Hinzu kommt laut Stengler: "Untersuchungen haben in den letzten Jahren gezeigt, dass auch für die Patienten selbst die Diagnose wichtig ist, um sich quasi mit den Auffälligkeiten, Tics auch als Diagnose zu identifizieren, also zu sagen: Das was ich habe, ist eben nicht eine Persönlichkeitseigenschaft, die mich als schlechten Menschen definiert, sondern das ist eine Krankheit, und gegen die kann man etwas machen."
    Im Vordergrund steht dabei in erster Linie die Verhaltenstherapie. Die Patienten müssen lernen, ihr Verhalten genau zu analysieren, die einzelnen Gedanken Schritt für Schritt zu verstehen und sich mit ihren Ängsten und Befürchtungen auseinanderzusetzen. Spezielle Antidepressiva können zusätzlich für viele Betroffene hilfreich sein.
    Auch Kristin aus Leipzig musste erst lernen, ihre Zwänge als Krankheit zu akzeptieren: "Es kam ganz oft von mir: Ich bin ja sowieso nur zu faul und zu dumm, das Studium zu schaffen, und eigentlich hat das alles sowieso keinen Sinn. Und das war so der erste Prozess, um überhaupt an irgendetwas arbeiten zu können, dass ich das auch als Erkrankung angenommen habe irgendwie." Zurzeit kommt die Studentin gut vier Stunden pro Tag in die Ambulanz, um im Rahmen einer Arbeitstherapie ihre Diplomarbeit zu Ende zu schreiben. Die 30-Jährige ist optimistisch, aber auch realistisch: "Ich weiß, dass ich die Erkrankung weiter haben werde - eigentlich ein Leben lang. Und die Hoffnung ist wirklich, dass ich damit trotzdem zufrieden sein kann in meinem Leben und, ja, wieder am Leben teilzunehmen in den verschiedensten Bereichen."