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"Zwei Seelen"
Schlüsselwerk der weißrussischen Literatur

Der 1893 geborene Autor Maxim Harezki wollte sein Land und die weißrussische Literatur wieder ins europäische Bewusstsein heben. Das ist ihm zu Lebzeiten nicht gelungen. Dafür hat nun der Übersetzer Norbert Randow gesorgt, der Harezkis Roman "Zwei Seelen" für ein deutsches Lesepublikum erschlossen hat.

Von Lerke von Saalfeld | 21.11.2014
    Der bedeutendste deutsche Übersetzer aus dem Weißrussischen, Norbert Randow, der im vergangenen Jahr starb, bezeichnete den Roman "Zwei Seelen" von Maxim Harezki als ein Schlüsselwerk der weißrussischen Literatur. Randow forderte, "das Buch muss in einem großen, bedeutenden Verlag herausgegeben werden, damit Weißrussland endlich wahrgenommen wird". Es kam anders. Der Roman landete in einem kleinen, noch unbekannten Verlag. Der Jung-Verleger Sebastian Guggolz schildert die Hintergründe:
    "Das 'mit dem großen Verlag', das spielt auch eine Rolle bei dem Weg, den das Manuskript zu mir genommen hat, nämlich das kam über Katharina Raabe von Suhrkamp. Bei der wollte es Norbert Randow gerne veröffentlichen, sie hat aber keinen Platz dafür im Programm gefunden. Und als ich meinen Verlag gegründet habe und mich mit Katharina Raabe getroffen habe, fiel ihr das plötzlich ein, dass es dieses Manuskript gibt und als ich ihr von meinem Konzept mit den Neu- und Wiederentdeckungen erzählt habe, meinte sie, das passt perfekt in mein Verlagsprogramm. Dann stellte sie den Kontakt zu der Frau von Norbert Randow und zu der Schwester von Randow her, die ja die Ko-Übersetzerin ist. Ich hab das Manuskript bekommen, hab es gelesen und war auch vom ersten Moment an fasziniert, weil das so ein ungewöhnliches Stück Literatur ist, wie ich finde."
    Norbert Randow hob diesen literarischen Schatz
    1919 wurde der Roman im damals polnischen Wilna - dem Zentrum der belarussischen Intelligentsia - zunächst als Fortsetzungsgeschichte in einer Zeitung veröffentlicht, dann erschien er in Buchform. Ins Deutsche wurde "Zwei Seelen" nie übersetzt, erst Norbert Randow hob diesen literarischen Schatz und Sebastian Guggolz, der sich in seinem Programm auf ost- und nordeuropäische Autoren konzentrieren möchte, hat den Mut gefunden, damit sein erstes Programm zu bestreiten:
    "Das ist auf jeden Fall ein Risiko, aber man darf das Risiko nicht zu sehr scheuen oder darf sich nicht zu sehr zurückschrecken lasse. Ich bin der Überzeugung, dass man als kleiner Verlag genau dann seine Position oder sein Feld finden kann, wenn man sich sehr stark spezialisiert. Das versuche ich mit diesen Neu- und Wiederentdeckungen."
    Aufregendes Stück Zeitgeschichte
    Der Mut, die Risikobereitschaft des 32-jährigen Verlegers haben sich gelohnt. "Zwei Seelen" von Maxim Harezki ist ein aufregendes Stück Zeitgeschichte der Revolutionsjahre 1917/18 in Weißrussland/ Belarus, als nach dem Ende des Ersten Weltkriegs noch ganz offen war, würden die Bolschewiki oder die Weißen, also - wie es damals hieß - die weißruthenische Nationalbewegung den politischen Sieg davontragen. Harezki schrieb den Roman mitten in diesen Wirren, es gab zu diesem Zeitpunkt keine Gewissheiten und dies prägt auch die Menschen, die in den Strudel der Geschichte geraten und sich zurechtzufinden versuchen.
    Im Mittelpunkt steht Ihnat Abdsiralowitsch, er ist Sohn eines Großgrundbesitzers. Seine Mutter wird von Wegelagerern ermordet und der Vater holt eine Amme, die einen gleichaltrigen Sohn Wassil hat. Die beiden Kinder wachsen gemeinsam unter der Obhut der Amme auf, später trennen sich ihre Wege. Ihnat neigt mehr der weißruthenischen Wiedergeburtsbewegung zu, Wassil schließt sich den Kommunisten an. Aber ganz so einfach geht die Geschichte nicht auf.
    Übereifer der weißrussischen Wiedergeburts-Bewegung
    Ihnat, der im Krieg gekämpft hat und wegen Verletzungen entlassen wird, betont zweimal im Roman, seine Heimat sei ganz Russland und nicht nur Weißruthenien. Es sind die zwei Seelen, die sein Denken und Fühlen bestimmen. Obwohl ihm die nationale Bewegung gegen die Russen näher steht, bleibt er ein außenstehender Beobachter und stiller Grübler. Nicht ohne Ironie schildert Harezki den Übereifer der weißrussischen Wiedergeburts-Bewegung, die manchmal allzu fanatisch ihre Sache verfolgt. Und nicht anders ergeht es Ihnat mit den Bolschewiki, auf deren Seite sein Ziehbruder Wassil steht, zu dem er aber nie die Verbindung abreißen lässt.
    Auf dem Sterbebett der alten Amme erfährt Ihnat, dass er nicht der leibliche Sohn des Großgrundbesitzers ist, sondern dass die Amme die beiden Kinder vertauscht hat und ihren eigenen Sohn zum Sohn des Großgrundbesitzers erklärt hat, damit der später ein besseres Leben habe. Ihnat reagiert ungerührt, er klärt auch Wassil nicht über dieses Geheimnis auf. Es scheint anfangs so klar, der Gutsbesitzerssohn versteht sich als Weißruthene, der Sohn der aus einfachen Verhältnissen stammenden Amme tritt für die Sache der Unterdrückten bei den Kommunisten ein. Aber diese Gleichungen gehen bei Maxim Harezki nie auf. Die Geschichte ist komplizierter und die Menschen sind es auch:
    "Es gibt Überläufer, es gibt Spione, fast alle Figuren sind von einer sehr starken Ambivalenz gekennzeichnet. Es gibt Opposition zwischen den Figuren, das finde ich psychologisch sehr interessant, die Figurenzeichnung von Harezki macht er ganz außerordentlich. Es gibt Figuren, bei denen man merkt, dass es da eine persönliche Abstoßung gibt, die sich aber politisch plötzlich auf der gleichen Seite wiederfinden oder umgekehrt. Freunde oder freundschaftliche Verhältnisse, und plötzlich merkt man, dass die politischen Verhältnisse sie auseinandertreiben oder in unterschiedliche Lager treiben. Diese Ambivalenz durchzieht auf vielerlei Ebenen sehr stark den Roman."
    Harezki leuchtet diese Widersprüche nicht aus. Er lässt sie bewusst stehen als leere Stellen. Ihnat hatte in früheren Jahren zum Beispiel ein Zerwürfnis mit seinem angeblichen Großgrundbesitzersvater, worum der Streit ging, erfährt der Leser nicht. In einem Dorf hört Ihnat von der Plünderung des elterlichen Gutshauses und der Flucht seines Vaters. In der Schule spielt ein kleiner Junge mit Fotos, denen er böse Fratzen schneidet. Beim näheren Hinsehen erkennt Ihnat, es sind die Fotoalben seiner Familie, er erkennt auch sich selbst als kleinen Jungen auf diesen Aufnahmen.
    Wiederum reagiert er scheinbar ungerührt. So sind eben die Zeitläufe. Atmosphärisch wird die Zeit eingefangen durch poetische Betrachtungen des Himmels oder der Landschaften, die wie ein Spiegel die innere Verfasstheit der Personen abbilden und ihre zerrissene Seelenlage für einen kurzen Moment wieder ins Gleichgewicht bringen. Dazu gehören auch Gedichte, die eine Lehrerin aus dem Gedächtnis rezitiert, die von Wegbereitern der weißruthenischen Literatur stammen, die die lange verbotene weißruthenische Sprache wieder beleben.
    Der Roman endet mit einem pompösen Begräbnis. Der kommunistische Funktionär Karpawitsch wurde ermordet. In der Zeitung erscheint ein Jubelartikel, in dem der zwielichtige Kommunist, der viel Dreck am Stecken hat, als Vorbild für die bolschewistische Sache gefeiert wird. Ihnat und Wassil, die politisch nie ganz einer Meinung sind, fühlen sich abgestoßen von so viel Lügen.
    Nachwort auf den herausragenden Übersetzer Norbert Randow
    Nicht viel anders erging es auch dem 1893 geborenen Autor Maxim Harezki. Er bewegte sich immer zwischen den Lagern in einem Land, das keine gewachsenen Grenzen kannte. Bereits 1920 wurde er von den Polen in Wilna in Haft genommen. In den Zwanzigerjahren veröffentlichte er eine Geschichte der weißruthenischen Literatur und ein russisch-ruthenisches Wörterbuch. Die polnischen wie die russischen Besatzer seines Landes verfolgten ihn bis zum Ende seiner Tage. Im März 1938 wurde Harezki in Folge der stalinistischen Säuberungen in einem sowjetischen Lager erschossen. Er wollte sein Land und die weißrussische Literatur wieder ins europäische Bewusstsein heben, herausholen aus der Ecke des Vergessenen, Missachteten. Das ist ihm zu Lebzeiten nicht gelungen. Dafür hat nun der großartige Übersetzer Norbert Randow gesorgt, der zusammen mit seiner Schwester und deren Mann, Gundula und Wladimir Tschepego, den Roman für ein deutsches Lesepublikum erschlossen haben. Ungewöhnlich für eine Roman-Edition ist, sie enthält ein würdigendes Nachwort auf den herausragenden Übersetzer Norbert Randow, und dies ist ganz im Sinne der Programmatik von Sebastian Guggolz für seinen neuen Verlag:
    "Es ist gerade bei älteren Texten, die übersetzt werden, eine unglaublich schöne Arbeit, sowohl inhaltlich, thematisch, als auch sprachlich in die Tiefe zu gehen. Mir ist die Bedeutung von Übersetzern so klar geworden in der Arbeit mit ihnen. Gerade wenn man das weißrussische Original von Harezki in der Hand hält, kann man sich nicht vorstellen, dass man diesen Text plötzlich lesen kann. Mir wird die Bedeutung von Übersetzern als Vermittler von Literatur, aber auch als Vermittler von Kultur, weil historische, gesellschaftliche und politisch eingebundene Texte auch kulturell ganz wichtig sind. Und da gibt es eben singuläre Gestalten wie Norbert Randow, die eine Vermittler- aber auch eine quasi Stellvertreterrolle für den Autor übernehmen, und das war mir immer die liebste Arbeit und deswegen habe ich mich auch entschieden, in meinem Verlag genau diese Arbeit, die mir immer am meisten Spaß und Gewinn bereitet hat, auch durchzuführen."
    Maxim Harezki: Zwei Seelen, Aus dem Weißrussischen von Norbert Randow und Gundula Wladimir Tschepego, Guggolz Verlag, 224 S., 20 € Nachworte von Martin Pollack und Andreas Tretner, Erscheinungsdatum 8.August 2014