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Zweideutige Erzählstränge

An schmale 100-Seiten-Romane hat man sich gewöhnt. Der französische Schriftsteller Didier Goupil scheint den Bogen aber überspannen zu wollen. Auf manchen Seiten seines 100-Seiten-Romans "Endstation Ritz" steht nur ein Satz. Christoph Vormweg hat sich mit Didier Goupil über Sinn und Zweck seines Minimalismus unterhalten.

Von Christoph Vormweg | 29.07.2008
    Ausgerechnet Richard Millet griff bei diesem Mini-Roman sofort zu. Der französische Verleger, der selbst etliche umfangreiche Provinz-Romane geschrieben hat, erkannte in Didier Goupil den Meister der Auslassung, der gekonnt mit Lese-Erwartungen spielt. Das fängt schon mit dem Titel an. "Femme du monde", "Dame von Welt", heißt er im französischen Original, "Endstation Ritz" in der deutschen Übersetzung. Unweigerlich erwartet man eine mondäne Atmosphäre. Doch lebt die Protagonistin nicht des Amüsements wegen im Pariser Luxushotel Ritz. Auch nicht, um dort zu schlemmen wie Gott in Frankreich.

    Die geheimnisvolle Madame lebt dort, weil sie die Anonymität bevorzugt - ein Indiz, das natürlich gleich den Kommissar im eigenen Hinterkopf weckt. Hat sie etwa Schuld auf sich geladen? Ist sie kriminell und deshalb so reich? In jedem Fall: Didier Goupil füttert uns anfangs nur mit spärlichen Informationen. So erfahren wir, dass Madame gern heiß badet, dass ihr Radio Tag und Nacht durchläuft, dass sie im Hotel-Schwimmbad "lieber den toten Mann" macht als zu kraulen, und - last not least -, dass sie sich auf ihren nachmittäglichen Spaziergängen durch Pariser Parks und Hinterhöfe danach sehnt, sich zu verlaufen. Didier Goupil:

    "Ziel des Buches war, die Erinnerung an jemanden wachzurufen, der das 20. Jahrhundert durchlebt hat, also auch die Mitte. Für das Abendland spielt da zwangsläufig die Shoah hinein, der Holocaust. Ich wollte das auf respektvolle Art darstellen, ohne den banalen Schrecken zu beschreiben, das nahe liegende Grauen. Ich wollte auf jegliches Spektakel, auf jegliche provozierenden Szenen verzichten, und sehr einfach vorgehen: aufzählend, punktuell. Der Leser sollte die extreme Not nachempfinden, die extreme Kälte, die sich der Figur bemächtigt hat."

    Die Vergangenheit von Madame manifestiert sich im Gegenwärtigen. Doch sind die Symptome ihrer Trostlosigkeit für den Außenstehenden kaum dechiffrierbar. Im ersten Romandrittel überlässt uns der 1963 geborene Didier Goupil dem Spiel der Ahnungen, der langsamen Annäherung an eine befremdende, rätselhafte Unbekannte. Er ordnet ein löchriges biographisches Puzzle an. So entwickelt das Weiß der oft spärlich bedruckten Seiten des Romans "Endstation Ritz" eine eigene, unaufdringliche Symbolik. Doch dann häufen sich die Rückblenden in die Vergangenheit der am 1. Januar 1900 geborenen Luxushotel-Einsiedlerin. Ende der 1920er Jahre wurde Mademoiselle zu Madame, was sie allerdings rasch bereute. Denn Monsieur, ihr Mann, entpuppte sich hinter seinen dicken Zigarren nach dem Einmarsch von Hitlers Wehrmacht in Frankreich als Faschist.

    "Monsieur repräsentiert die andere Seite des Abendlandes: die kapitalistische Seite, die Seite des Business, der Großindustrie. Er gehört zu den Menschen, die sämtliche Konflikte und Kriege durchstehen, die bereit sind, sich zu kompromittieren, wenn sie auf diesem Weg ihr Kapital behalten können, ihr Erbe, ihre Abstammung. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es einen realen Konflikt zwischen Madame und Monsieur. Das Buch lässt durchblicken, dass Monsieur Madame denunziert. Ich habe es aber nicht klar und deutlich gesagt. Denn ich wollte nicht, dass hier das Epizentrum des Buches liegt."

    Didier Goupil lüftet den biographischen Schleier nie ganz. Er lässt uns buchstäblich an seinen kargen, oft zweideutigen Erzählsträngen zappeln. Deshalb kann man "Endstation Ritz", diesen so provokant kurzen Roman, auch nicht einfach abhaken. Er arbeitet wie ein andeutungsschweres Gedicht im Hinterkopf weiter. So verwundert es nicht, dass die Kunst der Existenzschlüssel von Madame ist. 1939 kaufte sie Flüchtlingen aus Hitler-Deutschland ihre Gemälde ab. Als die Nazis sie 1943 konfiszierten, um sie als Raubgut nach Deutschland zu überführen, sabotierte Madame die Abfahrt des Gemälde-Zuges. Deshalb wurde sie selbst deportiert. Ihre Liebe zur Kunst kostete ihr fast das Leben. Dann aber, nach ihrer Befreiung, wurde sie zum Rettungsanker. Madame kehrte Europa den Rücken und wohnte bei einer Freundin in New York, einer Kunstsammlerin wie sie früher. Zunächst ließen sich die traumatischen Erinnerungen nicht abschütteln. An dem eisigen Wintertag, an dem sie sich eigentlich umbringen wollte, rettete sie dann aber die Ankündigung einer Mark-Rothko-Ausstellung. Mit einem Mal wollte Madame wissen, ob sie noch in der Lage war, etwas für Kunst zu empfinden.

    "Es erschien mir schlüssig, dass Madame im Jahr 2000 hundert Jahre alt würde, dass sie natürlich "sie selbst" war, aber eben auch alle Frauen, dass sie das Jahrhundert in gewisser Weise repräsentierte. Als mir die Idee zu dieser Frau kam, die in sich die Erinnerung des 20. Jahrhunderts trägt, fand ich zwei Dinge nahe liegend: zum einen, dass sie das ganze 20. Jahrhundert durchlebt hat, also die Pariser Welt, dann München, das die Tür nach Auschwitz öffnete, und schließlich das New York der 1940er Jahre, wo diese gigantische Fluchtbewegung der europäischen Intelligenzia anbrandete, diese Woge an Kultur und Talent, die New York zum Leuchtfeuer der Welt machte; zum anderen fand ich es nahe liegend, dass sie keinen Namen haben konnte."

    Es ist das Zurückgenommene in Didier Goupils Prosa, das besticht, das Anpeilen der unspektakulären Details, das subtile Variieren der Motive. Hier erklärt uns kein Nachgeborener pädagogisch wertvoll den Gang der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vielmehr verwebt Didier Goupil kunstvoll ein Netz von Indizien, die gerade auch die Offenheit dieser Geschichte betonen, das Zufällige, das Existenzen in die eine oder andere Richtung schubsen kann. So behält zum Beispiel Monsieur, dem der Identitätswechsel vom Nazi-Kollaborateur zum Widerstandskämpfer der letzten Stunde problemlos gelang, auch in der Nachkriegszeit seinen Einfluss auf die Machtspiele der oberen Zehntausend - bis ihn eine Krebserkrankung rüde stoppt. Madame hingegen muss alles bis zuletzt aushalten: nicht nur die Erinnerungen an Demütigung und Entmenschlichung im Konzentrationslager, sondern auch die Tatsache, dass sich im Nachkriegsfrankreich niemand für ihre Tragödie interessiert. Den 100 Jahren ihres Lebens entsprechen die 100 Seiten des Romans "Endstation Ritz": 100 beklemmende Seiten, gerade weil sie so viele Fragen offen lassen. Didier Goupil entpuppt sich als talentierter literarischer Seismograph, der den schwächer werdenden Nachbeben der Geschichte des 20. Jahrhunderts im Individuellen nachspürt: in den Ritualen des Alltäglichen, in den Zwanghaftigkeiten, in den scheinbar so arglosen Macken.

    Didier Goupil: Endstation Ritz. Roman.
    Aus dem Französischen von Ines Schütz.
    Haymon Verlag, Innsbruck 2008.101 Seiten, 14,90 Euro.