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Zweifel als poetisches Prinzip

1938 wurde der amerikanische Lyriker Charles Simic in Belgrad geboren. Er verließ das Land 1953 und kam nach einem Zwischenaufenthalt in Amerika an. 1971 nahm er die amerikanische Staatsbürgerschaft an und lehrte an verschiedenen Universitäten amerikanische Literatur. Die Frage, woraus Dichtung entsteht, beunruhigt Simic offenbar. In seinen Essays entdeckt er bei sich selber den Zweifel als poetisches Prinzip.

Von Cornelia Jentzsch | 05.05.2008
    Der Einstieg in dieses Buch mit poetologischen Essays von Charles Simic könnte ironischer nicht sein. Schon sein erster Essay trägt die einladende Überschrift "Der Ärger mit der Dichtung".

    Solange Dichter die Stammesgötter priesen und die Helden und deren Klugheit im Krieg verherrlichten, wurden sie toleriert, doch mit dem Auftreten lyrischer Dichtung und des Dichters obsessiver Beschäftigung mit dem Selbst wurde alles anders. Wer will schon die Lebensgeschichten irgendwelcher Niemande hören, während große Reiche aufsteigen und fallen?...
    Kein Modell einer idealen Gesellschaft seit Plato hat jemals Lyriker willkommen geheißen, und dies aus einer Fülle von guten Gründen.


    Noch heute sehen es Eltern lieber, wenn sich ihre Kinder solide Berufe wie Tierpräparator oder Steuereintreiber wählen. Meint der Dichter Simic. Die Welt, in der wir leben, toleriert eher Konformität als die eigenständigen Gedanken eines Dichters. Dessen absonderliche Kommentare und hermetische Textgebilde sind eher mit Vorsicht zu genießen. Ist er sich aber erst einmal als Outlaw einer ökonomisch durchtrainierten Gesellschaft bewusst geworden, kann der Dichter, wie jeder Randzonenbewohner, aus dem gewonnenen Freiraum heraus ganz gut existieren und seine kompromisslosen, klarsichtigen Beobachtungen notieren. So wie Charles Simic in seinen Essays, bei Hanser unter dem Titel "Die Wahrnehmung des Dichters - über Poesie und Wirklichkeit" auf deutsch erschienen. Aus verschiedenen amerikanischen Veröffentlichungen ausgewählt, übersetzt und mit einem informativen Nachwort versehen von dem Berliner Philologen und Übersetzer Thomas Poiss. Dass Poiss seinen intellektuellen Genuss an Simic' Betrachtungen hatte, verrät er nicht nur im Nachwort. Man merkt es auch seinen genauen und köstlichen Übersetzungen an. So findet der Leser das schöne Wort "mieselsüchtige Zicke".

    Simic schreibt, neben kritischen Gedanken zur englischen und amerikanischen Dichtung, unter anderem über Surrealismus, Übersetzerarbeit, Literaturwissenschaft, die Zeit an sich, über den blutigen Zerfall Jugoslawiens - Simic ist gebürtiger Serbe - und die Südstaaten der USA - seit 1954 lebt Simic in Amerika.

    Der Dichter denkt jedoch nicht nur über die knirschenden Räder der Zeit nach, sondern beschwört darüber hinaus handfest sinnliche Genüsse. Er sinniert über die Schönheit - von Würsten und Tomaten. Für seine lustvolle Genussfähigkeit musste Simic jedoch einen hohen Preis bezahlen.

    Wenn ich heutzutage den Krieg in Jugoslawien im Fernsehen betrachte, habe ich das Gefühl, Reprisen aus meiner Kindheit zu sehen.

    Als Kind erlebte Simic im April 1941 in Belgrad, wie die deutschen Bomber ihre Last in seiner Straße abwarfen. Sein Haus blieb zwar verschont, aber die Wucht der Explosionen warf den damals Dreijährigen aus dem Kinderbett und damit auch aus behüteter Kindheit. Als er zehn war, floh er mit seiner Mutter und schwerbepackt mit Koffern durch "stockdunkle slowenische Wälder" nach Österreich, im Gepäck neben Kleidung, Dokumenten und Andenken auch "einige Stangen Salami" gegen den Hunger. Warum Simic den ekstatischen Genuss von Essen bis heute immer wieder zu erneuern und zu verfeinern sucht, wird spätestens nach dieser Fluchtgeschichte klar.

    Ungewisse Zustände auszuhalten, das ist eine Erfahrung, die der serbisch-amerikanische Dichter zwangsweise machen musste. Simic münzt dieses Aushaltenmüssen um in ein Aushaltenkönnen, eine "negative Fähigkeit", wie er schreibt.

    Welchen Wörtern kann ich trauen? Wie kann ich wissen, dass ich Ihnen traue?

    Das Verharren im nicht abgesicherten Modus wird für Simic in der Arbeit an seinen Gedichten zu einem treibenden Impuls. "Ungewissheiten, Mysterien und Zweifel ohne jegliches reizbare Verlangen nach Tatsachen und Vernunft auszuhalten", mit diesen Worten beschreibt der englische Romantiker John Keats jenen poetischen Zustand, aus dem bleibende Dichtung wächst.

    Nach mehr als einem Jahrhundert wachsenden und schließlich allumfassenden Argwohns gegenüber traditionellen Beschreibungen der Wirklichkeit und des Selbst ist die Frage der Authentizität nicht mehr ein rein intellektuelles Problem, sondern sie wird zu einem praktischen, das sich dem Dichter täglich stellt.

    Es gibt ein nicht nur für die Sprache des 20. Jahrhunderts typisches, sondern auch für das Schicksal von Charles Simic mitverantwortliches Wort: das Wort "Nationalismus". Eine dieser sogenannten "traditionellen Beschreibungen", und ein Manipulativ. Im Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens wird es von Politikern wie Fanatikern bewusst eingesetzt. Der Traum jedes Nationalisten, schreibt Simic, sei ein einig Volk, das gegen jeden Ankömmling die Zähne fletscht. Das Problem des multiplen Vielvölkerstaates Jugoslawien mit der Aufspaltung in einzelne Nationalitäten gelöst haben zu wollen, sei eine Dummheit. Denn die größte Verrücktheit eines jeden Nationalismus bestehe ja gerade darin, sich selbst für einzigartig zu halten. Dabei sei jeder Nationalismus nur die schlechte Kopie der anderen Nationalismen auch, Selbsttäuschungen und Wahnvorstellungen sind vollkommen identisch. Für Charles Simic ist der politisch fundamentierte Nationalismus nichts weiter als ein selbstgebauter Käfig.
    Wenn Amerikaner fragen, was er, Simic, denn sei, antworte er ihnen,

    dass ich die letzten Jahre serbische, kroatische, slowenische und mazedonische Dichter ins Englische übertragen habe und dabei alle Unterschiede, die ich zwischen den einzelnen Völkern fand, genossen habe? "Ah, Sie sind also Serbe!" rufen sie dann triumphierend.

    Dabei habe doch er, der Serbe, mehr gemein mit einem patagonischen oder chinesischen Liebhaber von Duke Ellington oder Emily Dickinson als mit vielen anderen aus seinem Volk.

    Nicht nur eine lehrreiche Lektüre in Sachen Literatur und Dichtung, sondern vor allem auch eine in politischer Umgangskultur und klarer Geisteshaltung bieten die in Hanser-Band versammelten Essays von Charles Simic.

    In der Poesie wie generell im gesellschaftlichen Leben werden Abläufe grundsätzlich von der Einstellung zur Sprache bestimmt. Simic zieht, zumindest was die Poesie betrifft, eine direkte Parallele zur Wissenschaft. Heisenbergs Entdeckung, dass die Beobachtung das beobachtete Phänomen verändert, träfe auch auf die Dichtung voll zu.

    Wer nun die diversen Aussagen Simic einem Tauglichkeitstest unterziehen will, der lese außer den Essays den ebenfalls im Hanser-Verlag erschienenen jüngsten Gedichtband von Charles Simic "Mein lautloses Gefolge". In diesen Gedichten meint man, eine Welt neben der existierenden zu entdecken. Eine parallel verlaufende Welt, in der die Dinge zwar geheimnisvoller, aber auch durchscheinender, begreiflicher werden. Entstanden ist diese veränderte Realität aus der genauen Beobachtungsgabe des heute in New Hampshire lebenden und lehrenden Dichters Charles Simic.

    Original:
    Description of a Lost Thing

    It never had a name,
    Nor do I remember how I found it.
    I carried it in my pocket
    Like a lost button
    Except it wasn't a button.

    Horror movies,
    All-night cafeterias,
    Dark barrooms
    And poolhalls,
    On rain-slicked streets.

    It led a quiet, unremarkable existence
    Like a shadow in a dream,
    An angel on a pin,
    And then it vanished.
    The years passed with their row

    Of nameless stations,
    Till somebody told me this is it!
    And fool that I was,
    I got off on an empty platform
    With no town in sight.


    Übersetzung:

    Beschreibung eines verlorenen Dings

    Es hatte nie einen Namen,
    Auch weiß ich nicht mehr, wie ich es fand.
    Ich trug es in meiner Tasche
    Wie einen verlorenen Knopf,
    Nur war es kein Knopf.

    Gruselfilme,
    Nachtcafeterias,
    Dunkle Bars
    Und Spielhallen
    An regenglatten Straßen.

    Es führte ein stilles, unbeachtetes Dasein
    Wie ein Schatten in einem Traum,
    Ein Engel auf einer Nadelspitze,
    Und dann verschwand es.
    Die Jahre mit den vielen namenlosen

    Stationen gingen vorbei,
    Bis jemand zu mir sagte: Das ist es!
    Und Narr, der ich war,
    Stieg ich an einem leeren Bahnsteig aus,
    Ohne Stadt in Sicht.

    Charles Simic: "Die Wahrnehmung des Dichters. Über Poesie und Wirklichkeit."
    Übersetzt aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Thomas Poiss.
    Hanser Verlag / Edition Akzente 2007.


    Charles Simic: "Mein lautloses Gefolge" Gedichte.
    Übersetzt aus dem Englischen von Wiebke Meier
    Edition Lyrik Kabinett bei Hanser 2006.