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Zweimal Wildnis und zurück

Rechtzeitig zu Henry Thoreaus 150. Todestag erscheint erstmals auf Deutsch seine hinreißende Erzählung einer abenteuerlichen Fahrt durch die nordamerikanische Wildnis an der Seite eines Indianers. Es ist ein Weg, auf dem Thoreau vieles lernt, nicht zuletzt durch den Indianer an seiner Seite, der uraltes Wissen und die Vorteile der Zivilisation durchaus zu verbinden weiß.

Von Cornelia Jentzsch | 18.06.2012
    Der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau.
    Der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau. (picture alliance / dpa)
    Hermann Hesse äußerte in einem seiner Bücher den dringenden Wunsch, "endlich die Fabriken anzuzünden und die geschändete Erde ein wenig auszuräumen und zu entvölkern, damit wieder Gras wachsen, wieder aus der verstaubten Zementwelt etwas wie Wald, Wiese, Heide, Bach und Moor werden könne". Henry David Thoreau, Amerikaner, geboren 1817 und mit nur 44 Jahren an Tuberkulose gestorben, ging einen anderen Weg. Weder wollte er etwas zerstören noch bejammerte er inmitten der Stadt den Verlust der sogenannten Wildnis. Thoreau begab sich ganz einfach auf zahlreichen Reisen und Exkursionen selbst tief in die Wildnis hinein. Er wollte von der Zivilisation ihm vorenthaltene Erfahrungen sammeln, weil er ahnte: Nur als bewusster Teil der Natur würde der Mensch sich und seine Bedürfnisse erkennen und in ausreichender Würde leben können. Schon zu Beginn der Industrialisierung, jener Zeit, in der Thoreau lebte, gab es zunehmend Gründe, die Entfremdung des Menschen von der Natur und ergo sich selbst zu beklagen. Sein wohl berühmtestes Buch "Walden oder Leben in den Wäldern" hatte Thoreau geschrieben nach zwei Jahren einsamer Abgeschiedenheit in einer kleinen Hütte am Walden-See in der Nähe von Concord, seinem Geburtsort. In diesen Notizen bemerkte der damals gerade mal 28-Jährige und naturwissenschaftlich wie technisch hochbegabte Thoreau:

    "...unsere Nation (...) mit all ihren sogenannten inneren Fortschritten, die übrigens alle äußerlich und oberflächlich sind, ist gerade solch ein schwerfälliges, veraltetes, mit allem Hausrat vollgepfropftes Institut, voller Schlingen und Fußangeln, ruiniert durch Luxus und leichtsinnige Ausgaben, durch Mangel an Berechnung und an einem würdigen Ziel. (...) Die einzige Hilfe (...) ist äußerste Sparsamkeit, strenge und mehr als spartanische Einfachheit der Lebensführung und Erhöhung der Bestrebungen. Es wird zu schnell gelebt."

    Henry David Thoreau war ein naturbelassener Rebell, der weniger aus politischen Gründen, sondern eher aus existenzieller Erkenntnis in seinem Essay "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" erklärte:

    "Die beste Regierung ist die, welche gar nicht regiert; und wenn die Menschen einmal reif dazu sein werden, wird dies die Form ihrer Regierung sein."

    Anarchie hatte für Thoreau nichts mit mutwilliger Zerstörung gemein. Für ihn war sie eine natürliche Selbstregulierung; etwas, was sich in unentwegtem Fluss an sich selbst abschleift. Man könnte fast sagen, sie ist die ursprüngliche, natürliche Form der Demokratie. Anarchia, griechisch, bedeutet Nicht-Herrschaft. Auch der Begriff Freiheit relativierte sich für Thoreau inmitten eben jener Natur, die der Mensch gern mit grenzenloser Freiheit assoziiert. Die Natur war in seinen Augen ein austariertes System, in dem jede Freiheit zur einer relativen wird, da alles mit allem verbunden ist und voneinander abhängt.

    Henry David Thoreaus Zivilisationskritik, sein radikales Aufbegehren gegenüber jeder Art von Macht und Vorschrift faszinierte im 19. Jahrhundert nicht nur seine Zeitgenossen. Ein donnerndes Echo hallt mit unverminderter Lautstärke bis in die heutige Zeit. Die Verehrer Thoreaus reichen von Mahatma Gandhi über Martin Luther King bis zu John Cage. Denn alles, was die Natur hervorbrachte, selbst ihre Klänge, hielt Thoreau für weitaus komplexer als der Mensch je ausdenken könnte. Dass das Hören den Menschen nah an die Natur heranführte – dies und vieles andere lernte Thoreau vor allem von den Indianern, den Ureinwohnern Amerikas. Bei welchen Gelegenheiten und auf welche Weise, das kann man aus dem kleinen Bändchen "Die Wildnis von Maine. Eine Sommerreise"erfahren, erschienen im Salzburger Verlag Jung und Jung. Dieser Bericht, offenbar literarisch unvollendet durch Thoreaus frühen Tod, entstand auf der Grundlage jener Tagebücher, die Thoreau regelmäßig geführt hatte. Erstmals auf Deutsch werden diese Tagebücher – in einer wenigstens fünfbändigen Auswahl aus insgesamt 14 Bänden – im kommenden Jahr im Verlag Matthes&Seitz Berlin erscheinen.

    Vom 20. Juli bis zum 3. August 1857 unternahm Henry David Thoreau, gemeinsam mit einem Freund, eine nicht ganz ungefährliche "Sommerreise" quer durch die Urwälder von Maine in Massachusetts. Sie fuhren mit einem winzigen Kanu auf wilden Flüssen und über aufgewühlte Seen. Und trugen ihr Gefährt zwischenzeitlich auch mal durch Schluchten, über Wurzelwerk und versteckte Pfade. Als kundigen dritten Begleiter hatte sich Thoreau den Indianer Joseph Polis – auch kurz Joe genannt – empfehlen lassen. Er war ein Häuptling, also "dem Adel angehörig", wie Thoreau schreibt. Dass die verschiedenen Gepflogenheiten der Alt- und Neusiedler Amerikas sich gelegentlich nicht nur widersprachen, sondern auch aufs beste ergänzten, ist an vielen Stellen im Buch nachzulesen. Wie hier, wo Thoreau den Beginn ihrer gemeinsamen Fahrt beschreibt:

    "Der Indianer saß mit gleichmütigem Gesichtsausdruck auf dem Vordersitz, als ob er kaum wahrnahm, was um ihn herum geschah. Außerdem war ich von der eigenartigen Unbestimmtheit seiner Erwiderungen überrascht, wenn er in der Kutsche oder in den Gasthäusern angesprochen wurde...Er wurde lediglich wie ein wildes Tier aufgeschreckt und murmelte teilnahmslos ein paar unbedeutende Silben. In solchen Fällen war seine Antwort so vage wie eine Rauchschwade, schien vollkommen unverbindlich, und wenn man darüber nachdachte, merkte man, dass er eigentlich nichts gesagt hatte. Dies stand im Gegensatz zum konventionellen Geschwätz und der Gewandtheit des weißen Mannes, brachte aber denselben Gewinn."

    Wie sein Begleiter Polis kennt auch Thoreau jeden Baum, jeden Vogel, jedes Tier und jede Pflanze mit Namen. Denn beide Menschen verbindet jener tiefe Respekt vor der Natur, der aus genauer Kenntnis ihrer mannigfaltiger Gesetzmäßigkeiten kommt. Wobei die Ureinwohner Amerikas den Nachzüglern eindeutig um vieles voraus sind:

    "Die Natur muss ihnen tausende Offenbarungen gewährt haben, die für uns immer noch Geheimnisse sind."

    Wissenschaftliche Erklärungen für die vielen Naturphänomene, die den drei Reisenden in der Wildnis begegnen, will Thoreau gar nicht wissen. Sie hätten, wie er schreibt, bei ihm nur wie ein Schlafmittel gewirkt. Er erfreut sich lieber an der Gelegenheit, unwissend zu sein, und überlässt sich wunderbaren Schauspielen – wie beispielsweise dem geisterhaften Phosphoreszieren von verfaultem Holz. Das nächtliche Lagerfeuer zum Schutz vor wilden Tieren unterhält Joe Polis nicht mit frischem, rasch abbrennbarem, sondern mit verfaultem und langsam vor sich hinschwelendem Holz. Das bläulich leuchtende Licht nennen die Indianer "artoosoqu’", oft beobachten sie es sogar weit oben in den Baumwipfeln.

    "Eine Offenbarung wurde dem Indianer zuteil, eine andere dem Weißen. Vom Indianer kann ich noch viel lernen, vom Missionar nichts."

    Der Orientierungssinn eines Weißen funktioniert hervorragend im Koordinatensystem von Straßen und Ortschaften oder Anwesen. In der Wildnis dagegen mit ihren vielhundertfachen Informationen über Wege, Himmelsrichtungen, Wetterumschwünge oder Gefahren ist der Weiße so gut wie verloren, weil überfordert. Wenn der Indianer auf die Frage nach dem Weg "Ich weiß nicht" antwortet, so meint er nicht dasselbe wie seine beiden weißen Mitreisenden. Denn Polis orientiert sich hervorragend mit seiner feinen Beobachtungsgabe, seinem Spürsinn, seinem Erinnerungsvermögen – nur nicht mit dem Wissen von einem Weg.

    "Er trägt die Fakten nicht im Kopf herum oder erinnert sich genau an den Weg wie ein Weißer, sondern verlässt sich auf den Augenblick. Da er nicht erfahren hat, wie notwendig die andere Art von Wissen ist, in der alles etikettiert und geordnet wird, hat er sie sich nicht angeeignet."

    In seinem Nachwort zu "Die Wildnis von Maine" erwähnt Alexander Pechmann, der dieses Büchlein feinsinnig ins Deutsche übertrug, dass es im Amerikanischen ein spezielles, eigentlich unübersetzbares Wort für die Talente und Fähigkeiten der Indianer gibt: "woodcraft". Es meint die Fähigkeit, in der Wildnis zu überleben.

    Wie notwendig diese "woodcraft" selbst noch für eine Zivilisation in hoher Blüte ist, beschreibt Gary Snyder, ein amerikanischer Autor des 20. Jahrhunderts, in seinem bei Matthes & Seitz erschienenen Essayband "Lektionen der Wildnis". Dieser Band vereint Erfahrungsberichte mit philosophischen Lektionen. Snyder hinterfragt die Aufteilung in Wildnis und Zivilisation, indem er an vielen Beispielen anführt, wie klar strukturiert die sogenannte Wildnis und wie chaotisch organisiert die sogenannte Zivilisation ist. So schreibt Snyder:

    "Es ist nicht möglich, über eine Wiese zu gehen oder einen Wald zu durchqueren, ohne dass sich die Nachricht hiervon in einer Art Wellenbewegung in alle Richtungen ausbreiten würde. Die Drossel huscht zurück, der Eichelhäher stößt schrille Schreie aus, ein Käfer verbirgt sich im tiefen Gras – das Signal wird weitergegeben. Alle Lebewesen wissen, wenn ein Habicht hoch in der Luft seine Kreise zieht oder wenn ein Mensch in der Nähe herumstreunt. Die im System weitergegebene Information ist Intelligenz."

    In vielen Formen hat sich diese Intelligenz über Jahrhunderte hinweg auch im menschlichen Zusammenleben erhalten. Ein Beispiel gibt die Almende, jenes vorwiegend als Weideland genutzte Grenzgebiet zwischen Ansiedlungen und Wildnis, dessen Bewirtschaftung praktisch einer Selbstregulierung unterliegt. Jeder Anwohner nutzt einen ausgewählten Teil dieses Lands ausschließlich nach seinem tatsächlichen Bedürfnis, das heißt entsprechend der jeweiligen Größe seiner Herde. So wurde über Jahrhunderte Streit und Vorteilnahme verhindert.

    Vertieft man sich in diese beiden erfahrungsgesättigten Bücher von Henry David Thoreau und Gary Snyder, so wird einem immer unverständlicher, wie es in einer modernen Zivilisation zu Misswirtschaft, Armut, Mangelerscheinungen und Ressourcenknappheit kommen konnte. Wildnis respektive Natur haben es doch eigentlich ganz anders vorgegeben – und der Mensch hatte ja über Jahrtausende hinweg wohl auch schon einiges begriffen.


    Literaturhinweis:
    Henry David Thoreau : Die Wildnis von Maine. Eine Sommerreise.
    Mit einer Notiz von Nathaniel Hawthorne. Aus dem Amerikanischen übersetzt und mit einem Nachwort von Alexander Pechmann. Verlag Jung und Jung Salzburg, 160 Seiten, € 19,80

    Gary Snyder: Lektionen der Wildnis.
    Aus dem amerikanischen Englisch von Hanfried Blume. Verlag Matthes & Seitz Berlin, 263 Seiten, € 26,90