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Zweiter Mailänder Prozess
Mit Bombengewalt zum freien Südtirol

Vor 50 Jahren wurden beim Zweiten Mailänder Prozess die Verantwortlichen der Sprengstoffattentate in Südtirol zur Rechenschaft gezogen. 36 Angeklagte des "Befreiungsausschusses Südtirol" wurden zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt. Der Prozess zeigt eine Momentaufnahme im Kampf um das Autonomiebestreben der norditalienischen Region.

Von Peter Hölzle | 20.04.2016
    Seit Ende der 1950er Jahre kämpften Südtiroler, vor allem der Befreiungsausschuss Südtirol BAS, für die Autonomie der Provinz Bozen bzw. für den Anschluss an Österreich.
    Seit Ende der 1950er Jahre kämpften Südtiroler, vor allem der Befreiungsausschuss Südtirol BAS, für ihre Autonomie. Auch mit Bombengewalt. (dpa/picture alliance)
    "Hier spricht ‚Radio Freies Tirol’, Soldaten, unser Kampf ist gerecht … Die Unterwanderung und die Diskriminierung der Südtiroler bedroht die Existenz der Südtiroler Volksgruppe. Die Unterwanderung ist Völkermord. Dagegen darf jedes Volk sich wehren …".
    Der Aufruf zum Widerstand kam von einem Geheimsender, der seit 1965 aus Nordtirol nach Südtirol hineinagitierte. Die Stimme der "Süd-Tiroler Freiheitskämpfer" lieferte die dissonante Begleitmusik zum zweiten Mailänder Prozess gegen Aktivisten des Befreiungsausschusses Südtirol", dessen Urteile am 20. April 1966 gesprochen wurden.
    Von 59 Angeklagten wurden 36 zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt. Darunter der Musikdozent Günther Andergassen und der rechtsextreme Burschenschafter Norbert Burger. Beide hatten in Südtirol Sprengstoffanschläge organisiert oder durchgeführt. Andergassen bekam dafür dreißig Jahre Gefängnis, Burger 28, entzog sich der Strafe aber durch Flucht. Glimpflich kam einer der skrupellosesten Bombenleger davon. Georg Klotz, der den "Freiheitskampf" als Guerillakrieg aufziehen wollte, wurde wegen Anschlägen im Passeiertal in Abwesenheit zu etwas über vier Jahren Haft verurteilt. Die Gewalttaten, die in diesem und den anderen Mailänder Prozessen geahndet wurden, hatten Ursachen, die weit ins letzte Jahrhundert zurückreichen. Dazu der Historiker Rolf Steininger in einem Abriss über die "Südtirolfrage":
    "Zu den willkürlichsten (Grenzen) gehört wohl jene am Brenner, die das Land Tirol teilt. Diese Grenze wurde 1919 im Friedensvertrag von Saint-Germain festgelegt. Trotz des vom amerikanischen Präsidenten Wilson verkündeten Rechts auf Selbstbestimmung der Völker wurde Italien ein Gebiet zugesprochen, das seit mehr als fünf Jahrhunderten zu Österreich gehört hatte und zu 99 Prozent von einer deutschsprachigen Bevölkerung bewohnt war."
    Mit dem Gebietstransfer begann die Italianisierung der Südtiroler Bevölkerung, die sich verschärfte, als Mussolini 1922 in Italien eine faschistische Diktatur errichtete.
    "Im Oktober 1923 wurde deutsch als Unterrichtssprache verboten. Italienisch wurde Amtssprache in der Verwaltung. Deutsche Aufschriften wurden verboten, deutsche Familiennamen italianisiert."
    Unter Hitler blieb Tirol italienisch
    Als die sprachliche Zwangsumerziehung nicht den gewünschten Erfolg brachte, griff das Regime zum Mittel der Majorisierung.
    "Durch massenweise Zuwanderung von Italienern sollten die Südtiroler in ihrer angestammten Heimat zur Minderheit werden. Damit war man relativ erfolgreich."
    Dieser Trend sollte sich in eine andere Richtung beschleunigen. Entgegen vieler Erwartungen holte Hitler Südtirol nicht "heim ins Reich", sondern bestätigte seinen Verbleib bei Italien. Die deutschsprachigen Südtiroler stellte er vor die Wahl, entweder in ihrer Heimat zu bleiben und die italienische Staatsbürgerschaft zu bestätigen oder ins "Deutsche Reich" überzusiedeln und Deutsche zu werden.
    "Von den 213.000 Südtirolern, die für Deutschland optiert hatten, verließen etwa 75.000 tatsächlich das Land."
    Das Kriegsende veränderte die Lage der deutschsprachigen Bevölkerung nur unwesentlich. Ein 1946 zwischen Österreich und Italien geschlossenes Autonomieabkommen wurde von italienischer Seite unterlaufen. Statt einer echten gewährte die Regierung in Rom nur eine Scheinautonomie. Unter deren Deckmantel setzte das demokratische Italien die Italianisierungspolitik des faschistischen Italien fort. In Südtirol formierte sich Widerstand. Der 1956 gegründete ‚Befreiungsausschuss Südtirol’ wollte nun die Selbstbestimmung des Landes mit Bomben erzwingen.
    "Die Attentate erstreckten sich über den Zeitraum von 1956 bis 1969. Die erste Phase geht bis etwa 1961; hier galt der Grundsatz, keine Menschenleben zu gefährden, die zweite Phase geht bis 1968. Es gab Tote, Verwundete und großen Sachschaden."
    Ob die Bombenattentate der "Bumser", so ihr Spitzname im Volksmund, zur diplomatischen Lösung des Südtirolproblems in einem neuen, 1972 in Kraft getretenen Autonomiestatut beitrugen, ist bis heute unter Historikern strittig. Unstrittig hingegen ist, dass seither kein Grund mehr zum Bombenlegen besteht.