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Zweiter Weltkrieg
Als die Blockade von Leningrad begann

Vor 75 Jahren begann in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, die Belagerung der deutschen Wehrmacht. Die Menschen der Stadt mussten unvorstellbare Strapazen erleiden. Die historische Wahrheit über die Blockade wurde zu Sowjetzeiten zum Großteil unter Verschluss gehalten und auch heute gibt es in Russland Kritik am Umgang mit der Vergangenheit.

Von Robert Baag | 08.09.2016
    Zwei weibliche Personen sammeln aus Hunger Überreste von toten Pferden während der Leningrader Belagerung auf.
    Zwei weibliche Personen sammeln aus Hunger Überreste von toten Pferden während der Leningrader Belagerung auf. (imago / United Archives International)
    St. Petersburg. Ein heller, warmer Sommertag. Durch das Stadtzentrum der sogenannten Nördlichen Hauptstadt Russlands eilen die Einheimischen, flanieren Touristen. Jewgenij Belodubrovskij bleibt abrupt stehen, streicht sich durch seinen langen, üppigen Vollbart, rückt die weiße Baskenmütze zurecht:
    "Schauen Sie mal, hier auf dem Nevskij-Prospekt: Stellen Sie sich das mal so für einen Augenblick vor: das Jahr 1941/42. Hier, diese ganze Straßenseite: Der Nevskij ist leer! Leer! Davon gibt es auch Fotos. Man war überzeugt, dass das alles nicht sehr lange dauern würde. Ab und an ist irgendein Uniformierter zu sehen. Eine tote Stadt, eine unheimliche, beängstigende Kriegsatmosphäre, ständiges Angstgefühl! Leere oder zugeklebte Fenster. Selbst die Sonne, die doch immer auf- und untergeht, kann nicht mehr aufmuntern - schrecklich ist das alles! Ich war damals noch ein Säugling. Meine Mutter hat mich gerettet, durchgebracht. In unseren Kreisen, sagte sie mir, war man trotz allem überzeugt, dass das alles nicht sehr lange dauern würde."
    Leningrader "Blockade-Kind" Jewgenij Belodubrowskij
    Leningrader "Blockade-Kind" Jewgenij Belodubrowskij (Deutschlandradio / Robert Baag)
    900 Tage Belagerung
    Doch es sollte noch sehr lange dauern. Knapp 900 Tage wird Leningrad von der deutschen Wehrmacht belagert werden und eingeschlossen sein, sind die Einwohner Leningrads unvorstellbaren Strapazen ausgesetzt. Schon am 4. September 1941, etwas mehr als zwei Monate nach dem Überfall auf die Sowjetunion, triumphiert die deutsche Wochenschau:
    "Drahtsperren werden beseitigt." - "Auf der Duderhofer Höhe, dem Feldherrenhügel aus der Zarenzeit: Leningrad liegt im konzentrischen Feuer der deutschen Batterien aller Kaliber."
    Die Falle schnappt am 8. September zu. Der Blockade-Ring ist geschlossen:
    "Zielwechsel! - Feuer auf erkannte Bereitstellungen der Sowjets. Aus Leningrad gibt es kein Entkommen mehr!"
    "Unsere Kompanie, die hat tatsächlich noch eine fahrende Straßenbahn aus Leningrad kommend, angehalten und die Personen zum Aussteigen aufgefordert, haben sich noch überlegt, ob sie nicht den Straßenbahnfahrer behalten wollten für den nächsten Morgen, um mit der Straßenbahn nach Leningrad zu fahren", erinnert sich der Wehrmachts-Veteran Hans Mauermann in der 1991 ausgestrahlten ZDF-Dokumentation "Der verdammte Krieg". Und der ehemalige Heeres-Funker Rolf Dahm ist noch 50 Jahre später überzeugt:
    "Wir hätten also praktisch einmarschieren können, fast kampflos nach Leningrad rein. Weil wir in einem Angriffsrausch waren. Wir marschierten vor und wir hatten kaum Widerstand."
    Eine Frau geht in St. Petersburg auf einer Straße an der Warn-Tafel aus der Blockade-Zeit vorbei.
    St. Petersburg / Newskij Prospekt: Warn-Tafel aus der Blockade-Zeit: "Bürger! Bei Artillerie-Beschuss ist diese Straßenseite am gefährlichsten" (Deutschlandradio / Robert Baag)
    1,2 bis zwei Millionen Todesopfer
    Doch Hitler und mit ihm die Wehrmachtsführung entschieden anders. Jetzt lautete der Befehl: "Vormarsch vor der Stadtgrenze stoppen!", weiß der Historiker Matthias Uhl vom Deutschen Historischen Institut in Moskau, denn:
    "Schon von Anfang an der Kampfhandlungen stand eigentlich für die deutsche Führung fest: Man geht nicht in die Stadt hinein. Man schnürt die Stadt ab und die Menschen dort sollen auch umkommen. Weil man die weder versorgen noch verpflegen, noch sonst was mit ihnen machen will. Man will sie auch eigentlich gar nicht als Arbeitskräfte benötigen, sondern die sollen ausgehungert werden und damit auch der Vernichtung preisgegeben werden."
    1,2 bis zwei Millionen Todesopfer - das wird am Ende die schockierende Bilanz dieser Blockade gewesen sein. Noch heute streiten russische Historiker wie auch Politiker darüber, ob die Leningrader Blockade nicht hätte vermieden werden können, zumindest aber weniger Menschen hätten umkommen müssen, wenn Leningrad rechtzeitig vor der anrückenden deutschen Heeresgruppe Nord evakuiert worden wäre. Für Nikolaj Smirnov, den Dekan der Historischen Fakultät der Universität St. Petersburg ist die Sache klar:
    "Niemand hat vorausgeahnt, dass sich die Front im Verlauf des Juli, August 1941 von der Westgrenze der Sowjetunion so schnell Richtung Osten vorwärtsbewegt. Jetzt darüber zu sinnieren, ob ein Evakuierungsplan für Leningrad hätte überdacht werden müssen? Na ja, wahrscheinlich. Aber unter den damaligen Kriegsbedingungen war das, glaube ich, einfach nicht realistisch! Die sowjetischen Partei- und Stadt-Oberen hätten nicht mehr leisten können. Denn laut verbindlichem Evakuierungsplan waren in erster Linie Rüstungsbetriebe zurückzuverlegen. Und das hat man gemacht. Die Zahl der Transportmittel war beschränkt. Schon deshalb war eine beschleunigte Evakuierung der Zivilbevölkerung unmöglich."
    Dieser Interpretation Smirnovs widerspricht sein Moskauer Historiker-Kollege Jurij Curganov ganz entschieden:
    "Die Entscheidung, die Stadt aufzugeben oder nicht, war das Vorrecht eines einzigen Menschen: Stalin! Aber das Leben eines Menschen gehörte nicht zum Werte-Kanon Stalins. Für ihn waren zwei Werte maßgeblich: Das eigene Prestige und das Behaupten eines militärischen Brückenkopfs. Daran festzuhalten, war ihm den Preis einer beliebig großen Anzahl menschlicher Leben wert. Denn diese Reserve galt in der Sowjetunion als unerschöpflich."
    "Hier spricht der Stab der städtischen Luftverteidigung: Flieger-Alarm! Flieger-Alarm!"
    Schier endloses Martyrium
    Für die Einwohner Leningrads beginnt an diesem 8. September ein schier endloses Martyrium - Jewgenij Belodubrovskij ist inzwischen am berühmten "Anitschkin Most" - auf Deutsch etwa: "Ännchens Brücke" -, die über den Fluss Fontanka führt, angekommen. Er deutet auf einen der vier Eckpfeiler mit den charakteristischen Pferde-Skulpturen:
    "Hier sieht man noch die Einschlagspuren von Bomben- und Granatsplittern; weit über 150.000 Geschosse haben die deutschen Faschisten zwischen 1941 und 1944, während der Blockade, auf Leningrad abgefeuert. Die Stadt lag da einfach offen wie auf dem Präsentierteller. Wer war schuld daran, dass die Stadt so offen war und das Zentrum beschossen werden konnte?!"
    St. Petersburg: "Anitschkin Most" mit Granat- und Bombensplitter-Spuren aus der Blockade-Zeit.
    St. Petersburg: "Anitschkin Most" mit Granat- und Bombensplitter-Spuren aus der Blockade-Zeit. (Deutschlandradio / Robert Baag)
    Erst nach 1956, im Anschluss an die sogenannte Geheimrede von Stalin-Nachfolger Nikita Chruschtschow, in der er selektiv die Verbrechen Stalins enthüllte, hat es zaghafte Versuche gegeben, derlei Fragen aufzugreifen, erzählt Irina Scherbakova, Historikerin bei der Moskauer Menschrechtsorganisation "Memorial":
    "Es gab eine kontroverse Diskussion - aber es gab sie! Weil noch viele Frontsoldaten und Zeitzeugen am Leben waren, die das gewusst, das gesehen haben. Und da kam auch die Frage nach dem ‚Terror vor dem Krieg‘. Folge dieses Terrors war auch: Die Rote Armee hatte keine wirklichen Kriegsführer gehabt. Fast alle Marschälle sind umgebracht worden vor dem Krieg."
    Atmosphäre kollektiven Schweigens
    Unter Chruschtschows Nachfolger Leonid Breshnev, ab Mitte der 60er-Jahre, setzte dann allmählich wieder eine offiziell beförderte Rehabilitierung Stalins ein. Stalin habe doch, abgesehen von ein paar Übertreibungen und Fehlern, die UdSSR erfolgreich zum Sieg über Nazi-Deutschland geführt. Der Schriftsteller Sergej Lebedev erinnert sich an die Atmosphäre kollektiven Schweigens selbst über private Kriegserinnerungen auch unter nächsten Angehörigen:
    "In unserer Familie hat man über die Blockade überhaupt nicht gesprochen. Aber gegen Ende der 1980er-Jahre kam bei meiner Oma wieder diese sogenannte Kriegs-und Hunger-Angst zum Vorschein, diese Panik, dass es plötzlich nicht mehr genug Lebensmittel gibt. Deswegen hat sie, wo immer möglich, Graupen gekauft und gehortet, zehn-Kilo-weise. Wir hatten zu Hause immer Wahnsinns-Vorräte. Ich hab' das nie verstanden, bis ich mal bei einem Gespräch meiner Eltern hörte: ‚Die Oma fühlt sich, als könnte sich die Blockade von Leningrad wiederholen.' Da fing ich an mich für das Thema zu interessieren - doch über die Blockade hat die Familie mit mir nie, kein einziges Mal, geredet. Das hätte ja Nachfragen geben können: ‚Was ist damals mit den Menschen passiert? Und warum?‘ - Nur irgendwelche dunklen Gerüchte gab‘s: Ja, damals hat man dort vor Hunger Menschenfleisch gegessen."
    Während der Perestrojka- und Glasnost-Periode unter Michail Gorbatschow, dem letzten Staats- und Partei-Chef der Sowjetunion, konnten - zumindest teilweise - entsprechende Akten aus Geheimdienst-Archiven publiziert werden. Seitdem sind sie öffentlich und nicht mehr zu verheimlichen:
    Aus einem Bericht des Militärstaatsanwalts A.I. Panfilenko an A.A. Kusnetsoff vom 21. Februar 1942:
    "Von Anfang Dezember 1941 bis zum 15. Februar 1942 haben die Untersuchungsbehörden zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen: im Dezember 1941 - 25 Personen; im Januar 1942 - 366 und in den ersten 15 Februartagen - 494 Personen. In einzelnen Fällen haben Personen, die diese Verbrechen begingen, nicht nur selbst Leichenfleisch gegessen, sondern dieses auch an andere Bürger verkauft."
    "Das wollte man um jeden Preis vertuschen! Denn sonst begreift doch jeder: Wenn die Staatsmacht so handelt, dass sich die Menschen buchstäblich selbst verschlingen, dann kann mit dieser Staatsmacht doch etwas nicht in Ordnung sein. Wenn's soweit kommt, dass menschliche Körperteile in irgendwelchen Kesseln gekocht werden, dann ist doch trotz allem klar: Das hat nicht nur mit den Deutschen etwas zu tun, sondern das bedeutet auch: Die eigenen Leute haben sich um ihre Mitmenschen nicht gekümmert, haben sie im Stich gelassen, sie vergessen. Und deshalb blieb das alles zu sowjetischen Zeiten immer ein Geheimnis. Aber auch heute, in Zeiten einer neu aufgelegten Kriegs-Symbolik (unter Putin), bekommt dieses Thema erneut diese Schärfe", findet der Schriftsteller Sergej Lebedev.#
    "Sowjet-Marschall Shukov - Putin - Stalin - Lenin“- Auslage / Devotionalien-Kiosk im Moskauer "Museum des Großen Vaterländischen Krieges"
    "Sowjet-Marschall Shukov - Putin - Stalin - Lenin“- Auslage / Devotionalien-Kiosk im Moskauer "Museum des Großen Vaterländischen Krieges" (Deutschlandradio / Robert Baag)
    Verhungernde Bevölkerung und gut versorgte Funktionäre
    Auch ein anderes mit der Leningrader Blockade verknüpftes Phänomen könnte erneut - wie schon zu Sowjetzeiten - tabuisiert, heute sogar zusätzlich per Strafgesetz als sogenannte Verfälschung der Geschichte sanktioniert werden: Die Diskrepanz zwischen einer real verhungernden Bevölkerung und im Gegensatz dazu - die gut versorgte Funktionärskaste der kommunistischen Partei, der Stadt-Verwaltung und des Geheimdienstes NKWD.
    "Aussagen darüber, dass sogar das mittlere Offizierskorps des Geheimdienstes NKWD im belagerten Leningrad mit Kaviar versorgt worden ist, Geldprämien bekommen hat, usw., sind derzeit hierzulande ganz und gar nicht willkommen. Mehr noch - Sie könnten zu hören bekommen: 'Das alles ist doch während Gorbatschows Perestrojka fabriziert worden, um zu diffamieren, unglaubwürdig ist das alles!' In Wirklichkeit sei es doch so gewesen: 'Die NKWD-Leute hätten auf ihren Posten bis zum letzten Atemzug gekämpft, hätten dabei noch weniger Lebensmittel bekommen als alle anderen, und selbst dieses Wenige hätten sie dann noch an die Waisenhäuser gespendet."
    Jewgenij Belodubrovskij machen solche Worte fassungslos. Gegen den Verkehrslärm auf dem Nevskij-Prospekt schreit er förmlich an:
    "Gelitten haben die Menschen! Die Menschen! Darum geht es! Zum Einen - der Hunger! Zum Zweiten - die Hoffnungslosigkeit! Oder, als drittes Beispiel: Wie kann ein Sohn, der sieht, dass seine Mutter stirbt, er ihr aber nichts geben kann, sich nur noch ruhig neben sie legen und auf ihren Tod warten? Das ist doch ein Verbrechen. Ein Verbrechen, das die Obrigkeit begeht. Aber vielleicht haben selbst die keinen Schimmer gehabt, verflucht noch mal. Pardon. Unverständlich, das alles! Unsere Geheimdienste müssen das doch alles mitgekriegt haben. Wie konnte das bloß passieren, wie denn bloß?"
    Aus dem Tagebuch der elfjährigen Tanja Sawitschewa: "Zhenja ist am 28. Dezember um 12 Uhr 30 morgens gestorben 1941. - Großmutter ist am 25. Januar um drei Uhr nachmittags gestorben 1942. - Ljoka ist am 17. März um fünf Uhr morgens gestorben 1942. - Onkel Ljoscha am 10. Mai um vier Uhr nachmittags. - Mama am 13. Mai um sieben Uhr dreißig morgens 1942. - Die Sawitscheffs sind gestorben. Alle sind gestorben. Nur Tanja ist übrig geblieben."
    Doch das kleine Mädchen überlebt all die Strapazen nur für kurze Zeit: Schon zwei Jahre später, 1944, stirbt auch sie, obwohl man die Vollwaise zufällig gefunden hatte und sie über die sogenannte Straße des Lebens, den Ladoga-See, aus dem eingeschlossenen Leningrad hatte evakuieren können. Die "Militärische Autostraße Nummer 101" - so die offizielle Bezeichnung - war seit dem 20. November, zu Beginn des frühen, harten Winters 1941/42, der einzige dünne Lebensfaden Leningrads hinüber ins sowjetische Hinterland. Eine sehr riskante Route, wie der Leningrader Kulturwissenschaftler Dmitrij Lichatschow in seinen Memoiren diverse Legenden richtigstellte:
    "Die Straße über das Eis wurde 'Straße des Todes' genannt. Und nicht ‚Straße des Lebens‘, wie sie unsere Schriftsteller später schönfärberisch bezeichneten. Die Deutschen beschossen die Straße, sie war voller Schneewehen und die Lkw brachen häufig ein. Man fuhr nachts. Es wurde erzählt, wie eine Mutter den Verstand verlor: Sie saß im hinteren Lkw, ihre Kinder im vorderen. Vor ihren Augen versank der erste Laster unter dem Eis. Ihr Fahrer machte einen Bogen um das Eisloch, in dem ihre Kinder ertranken, und fuhr schnell weiter, ohne anzuhalten."
    Am oberen Ende des Nevskij-Prospekts, auf Höhe der damaligen elterlichen Wohnung, deutet Jewgenij Belodubrovskij auf einen Zebrastreifen:
    "Auch das hier war eine ‚Straße des Lebens‘ - quer über den Nevskij-Prospekt! Da drüben auf der anderen Straßenseite war eine kleine Bäckerei. Dort standen zwischen den Eingangstüren verwaiste Halbwüchsige, die versuchten, den Menschen die Lebensmittelkarten aus den Händen zu reißen, von Menschen, die vor Schwäche nur noch über die Fahrbahn kriechen konnten. Manchmal schafften sie es nicht mal mehr bis zum Laden, dann sammelte man irgendwann ihre Leichen ein. Hier, hier - hier drüben. Warum? Na, so war das eben. Genauso. Genauso."
    Ein kurzer, prüfender Blick. Ein kräftiger Händedruck - Jewgenij Belodubrovskij muss jetzt noch einkaufen gehen. Er winkt rasch zum Abschied und biegt ab in eine Seitenstraße.
    Trotz wiederholter Angriffsversuche gelang es der Roten Armee erst Anfang 1943, den deutschen Blockade-Ring ein wenig zu lockern, allerdings lag der erkämpfte schmale Landkorridor immer noch in Reichweite der deutschen Artillerie. Und es sollte noch bis zum Januar 1944 dauern, ehe die deutschen Linien um Leningrad endgültig durchbrochen wurden und die Wehrmacht nach fast 900 Tagen der Belagerung zum Rückzug gezwungen werden konnte.
    "Was in der heutigen offiziellen Geschichtsschreibung ganz zu kurz kommt, ist das Herunterbrechen dieses großen Feldzuges auf die persönlichen, auf die unteren Ebenen, wo die Geschichte tatsächlich auch mit den Erinnerungen der Menschen korreliert. Die heutige Politik möchte der Bevölkerung möglichst wenig Schmerzhaftes zufügen. Ob sie damit etwas Gutes tut oder nicht, das wage ich zu bezweifeln", meint Matthias Uhl vom Deutschen Historischen Institut in Moskau.
    Kritik an der Tonart der offiziellen russischen Erzählung
    Und den Schriftsteller Sergej Lebedev stört im Augenblick noch etwas ganz anderes: Er macht auf den aktuellen, akzentuiert hurra-patriotischen Unterton in der offiziellen russischen Erzählung über den Kriegsverlauf aufmerksam, die den großen Anteil aller anderen ex-sowjetischen Nationalitäten an diesem blutigen Abwehrkampf gegen Deutschland letztlich ausblende:
    "Der Opfer wird jetzt gedacht werden - aber eben in der Tonart: 'Schaut her! Was für ein Opfer das russische Volk für den Sieg gebracht hat!' Und dabei soll impliziert werden, dass dieses Opfer völlig gerechtfertigt gewesen sei. Dieses Opfer wird als etwas Großartiges präsentiert werden, allerdings ohne jeglichen Hinweis, dass die Menschen Geiseln waren - einerseits der deutschen Armee, die Leningrad blockiert hat, andererseits aber auch der eigenen Stadtverwaltung, die unfähig war, sie ausreichend zu ernähren. Doch man wird von all diesen Leningrader natürlich behaupten, sie hätten ihre Leben freiwillig hingegeben - für die Sache der Heimatverteidigung."