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Zweiter Weltkrieg
Österreich unterm Hakenkreuz

Im März 1938 empfingen jubelnde Menschen Adolf Hitler in Österreich. Es folgten sieben Jahre Nationalsozialismus. Doch wer waren diese Menschen, was dachten sie wirklich? Der Wiener Historiker Kurt Bauer hat für "Die dunklen Jahre" in Tagebüchern, Autobiographien und Briefen gestöbert. Und er räumt auf mit dem Mythos, seine Landsleute seien Opfer gewesen.

Von Günter Kaindlstorfer | 22.01.2018
    "In wunderbarem Schwung hat das deutsche Volk in Österreich sich in dieser Stunde erhoben und zu seinem Deutschtum bekannt. Ein Jubel, wie ihn die Welt vielleicht noch nie erlebt hat, durchtobt heute das deutsche Österreich."
    Was Hermann Göring mit feierlich-hysterischem Tremolo in der Stimme verkündete, war nicht einmal übertrieben. Als Adolf Hitler am 12. März 1938 in einer offenen Mercedes-Limousine bei Braunau am Inn die österreichische Grenze überquerte und im Triumphzug in Richtung Linz rollte - die Straßen gesäumt von johlenden Menschen - wurde er willkommen geheißen wie ein Erlöser:
    "Der Führer wird mit ungeheurer Begeisterung empfangen!"
    "Euphorie und Panik" - mit diesem Titel überschreibt Kurt Bauer das erste Kapitel seines Buchs, in dem er sich mit dem "Anschluss" und dessen Vorgeschichte beschäftigt.
    "Es gibt den oft zitierten Ausspruch eines Bauernknechts aus dem Salzkammergut, der in einem Erinnerungsgespräch gesagt hat: 'Der Hitler ist gekommen wie ein Herrgott für die kleinen Leut. Wie ein Gott ist er uns erschienen, 1938.'"
    Kurt Bauer ist, nach gewissenhaftem Quellenstudium, davon überzeugt, dass die überwiegende Zahl der Österreicher noch zwei, drei Tage vor dem Einmarsch der deutschen Truppen Hitler-kritisch eingestellt gewesen sei. Erst das Momentum des 11. und 12. März - und die Massen-Ekstase, die der Triumphzug des "Führers" entfacht habe - habe den Umschwung gebracht.
    Masseneuphorie im Frühjahr 1938
    "Es gab ja diese Ankündigung der Volksabstimmung durch Schuschnigg. Und es gibt Schätzungen von Leuten, die damals Prognosen abgegeben haben - zum Beispiel der Nationalsozialist Seyss-Inquart - die davon ausgehen, dass diese von Schuschnigg initiierte Abstimmung mit einer Zwei-Drittel-Zustimmung pro Österreich ausgegangen wäre. Natürlich auch stark manipuliert gewesen - das, was die Nazis dann später ebenfalls gemacht haben -, aber man muss doch davon ausgehen, dass die Massenstimmung am 11. März radikal umgeschwenkt ist."
    Auf eindringliche und unerhört anschauliche Weise beschreibt Kurt Bauer die "sieben dunklen Jahre", die, nach einer ekstatisch aufgeladenen Ouvertüre, unermessliches menschliches Leid über Österreich gebracht haben.
    Der Wiener Historiker stützt sich auf bisher unveröffentlichte Autobiographien, Tagebücher und Briefe sogenannter "kleiner Leute"; darunter sind Nationalsozialisten und Christlich-Soziale, Sozialdemokraten, Kommunisten und unpolitische Menschen. Ein strenggläubiger katholischer Kleinbauer aus Osttirol kommt ebenso zu Wort wie ein hundertfünfzigprozentiger Nazi und eine jüdische Krankenschwester aus Wien, die den Schrecken des Holocaust wie durch ein Wunder entkam. Die Masseneuphorie des Frühjahrs ´38, diagnostiziert Kurt Bauer, war - wie es mit Euphorien so ist - nicht von langer Dauer:
    "Die Begeisterung ist dann im Laufe des Jahres 1938 ziemlich rasch wieder abgeflaut. Der Grund: die Kriegsgefahr, die sich im Herbst 1938 deutlich abgezeichnet hat."
    Angst vor dem Krieg
    Selbst gläubige Hitler-Anhänger, sofern sie über das Teenager-Alter hinaus waren, erinnerten sich 1938/39 noch deutlich an die Schrecken des Ersten Weltkriegs, an Heizstoffmangel, Kälte, Hunger, Entbehrungen aller Art und endlos lange Gefallenenlisten.
    "Die Leute hatten Angst vor dem Krieg. Sie haben sich alles Mögliche von Hitler erhofft und erwartet, aber sie wollten das nicht: einen Krieg. Es war keinesfalls so, dass es wie 1914 zu einem Ausbruch von Massenbegeisterung gekommen wäre wegen des Krieges."
    Kurt Bauer arbeitet in seinem Buch deutlich heraus: Die Begeisterung für den Nationalsozialismus nahm sukzessive ab im Verlauf des Zweiten Weltkriegs.
    "So richtig kommt der Umschlag mit Stalingrad. Da ist, glaube ich, den meisten klar geworden, dass der Krieg auf die zurückschlagen wird, von denen er ausgegangen ist."
    Erklärungsbedürftige Opferzahlen
    Kurt Bauer hat sich bereits mit früheren Publikationen den Ruf erworben, ein streng an den Quellen orientierter, ideologisch unvoreingenommener Historiker zu sein. Mit Vorliebe hinterfragt der 57-Jährige politisch motivierte Gewissheiten - egal, ob sie von links oder rechts kommen. Auch in seinem jüngsten Werk bleibt Bauer dieser Linie treu.
    So unterzieht er auch die Gefallenenzahlen des Zweiten Weltkriegs einer kritischen Bestandsaufnahme:
    "Der deutsche Historiker Rüdiger Overmans hat sich schon 1999 in einer Studie mit den Toten der Wehrmacht beschäftigt. Die Zahlen, die Overmans eruiert hat, sehen so aus: Soldaten, die aus den Gebieten der heutigen Bundesrepublik eingezogen wurden, sind zu 31 Prozent im Weltkrieg gefallen. Unter Österreichern war der Anteil nur 19 Prozent. Das ist natürlich ein signifikanter Unterschied, und man muss sich fragen, was der Grund dafür ist."
    Kurt Bauer stellt in seinem Buch verschiedene Erklärungsansätze zur Diskussion:
    "Der Grund muss irgendwo in der Motivation liegen. Man kann sich fragen, ob es da ein Loyalitäts-Defizit der Österreicher gab, ob die Österreicher weniger gern für Hitler im Krieg gestorben sind als es deutsche Soldaten gemacht haben."
    So interessant einzelne Fragen und Thesen auch sind, die Bauer in seinem Werk erörtert, im Wesentlichen handelt es sich bei "Die dunklen Jahre" um ein erzählendes Sachbuch, das die Zeit des Nationalsozialismus in den "Alpen- und Donaugauen" auch für ein breites, historisch weniger gebildetes Publikum lebendig macht. Ein spannendes, im besten Sinne aufklärerisches Buch.
    Kurt Bauer: "Die dunklen Jahre - Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich"
    Fischer Verlag, 480 Seiten, 16,99 Euro.