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Zweiter Weltkrieg
"Urkatastrophe der Menschheitsgeschichte"

Am 1. September 1939 freuten sich Ralph Giordanos Mitschüler - aber nur, weil sie wegen des Kriegsbeginns frei bekamen. Sein ganzes Leben beschäftigte sich der nun 91-jährige Autor mit Krieg, Holocaust und Aufarbeitung. Doch je mehr er wisse, desto schwerer falle es ihm, die Verbrechen zu verstehen, sagte er im Deutschlandfunk.

Ralph Giordano im Gespräch mit Christoph Heinemann | 29.08.2014
    Ralph Giordano.
    Ralph Giordano ist ein deutscher Journalist, Publizist, Schriftsteller und Regisseur. (picture alliance/dpa/Angelika Warmuth)
    Ralph Giordano: Ich habe den Kriegsausbruch am 1. September 1939 erlebt als Obersekundaner. Das heißt also, die Schule, auf die ich 1933 kam, im April 1933, hat am ersten Tag sofort eingeteilt in Juden und Nichtjuden, Arier und Nichtarier. Soweit ich mich erinnere, war der 1. September 1939 ein Sonnentag. Es schien die Sonne. Wir wurden auf dem Schulhof versammelt und es wurde mit Stentorstimme verkündet, dass Krieg sei. Ich kann nicht sagen, dass das groß Eindruck gemacht hat auf mich, dieser Tag. Ich habe nur in Erinnerung, dass die Mitschüler sich freuten, dass wir danach nach hause gehen konnten.
    Wenige Tage nach Kriegsbeginn verhaftet, denunziert von Spielkameraden
    Heinemann: Haben die Mitschüler gejubelt?
    Giordano: Nein, das kann man nicht sagen, dass sie gejubelt haben. Das Johanneum war ein humanistisches Gymnasium mit Griechisch und Latein und allem Drum und Dran. Die vornehmen Kreise schickten ihre Söhne auf diese Schule und es waren auch immer in der Schülerschaft starke antinazistische Tendenzen da. Es gab auch andere natürlich. Vor allen Dingen das Entscheidende war die Begegnung mit der Speckrolle, dem Schlimmsten, den ich in meinem Leben begegnet bin, der uns in Latein und Griechisch unterrichtete und der mich aufs Korn genommen hatte. Das war der Antisemit, der Nazi, der mich in einen Selbstmordversuch getrieben hatte als 15-jähriger. Für gute Arbeiten gab er mir schlechte Zensuren. Es war etwas Dumpfes und Dunkles da. Ich bin kurz danach, am 3. oder 4. September, verhaftet worden, angezeigt worden von Spielgefährten in meinem Alter, die jahrelang aufgeschrieben hatten, was ich als staatsfeindliche Äußerungen von mir gegeben hatte, im Vertrauen darauf, dass das nicht weitergegeben werden würde. Aber das war das Charakteristische natürlich für diese Zeit. Wir waren 15, 16 Jahre alt und es waren zwei Spielgefährten, die haben das weitergegeben an den Blockwart, und der hat es an die Gestapo weitergegeben, ich bin verhaftet worden und habe fünf fürchterliche Tage auf der Gestapo-Leitstelle in Hamburg verbracht, und zwar weil die Gestapo von mir eine Unterschrift haben wollte, dass die staatsfeindlichen Äußerungen, die ich gemacht habe, von meiner Sau von jüdischen Mamme eingeimpft worden sei. Ich habe die Unterschrift nicht gegeben und hätte sie um keinen Preis gegeben.
    Keine Kriegsbegeisterung, aber Regimetreue der meisten Deutschen
    Heinemann: Gab es in dieser Zeit zu Beginn des Krieges Begeisterung auf den Straßen? Haben Sie das mitbekommen?
    Giordano: Nein! Es gab keine Begeisterung. Es war Hitler gelungen, in diesen sechs Jahren war es Hitler gelungen, die Deutschen hinter sich zu bringen. Sie standen bis 1939 – der Höhepunkt war noch nicht ganz erreicht – treu und fest hinter Hitler und hinter dem Regime. Da kann es gar keinen Zweifel geben.
    Heinemann: Aber die Erfahrung des Krieges war ja noch relativ frisch. Der Waffenstillstand war gerade mal 21 Jahre her.
    Giordano: Ja.
    Heinemann: Also die Menschen wussten, was Krieg bedeutet.
    Giordano: Die Menschen wussten, was Krieg bedeutet, und sie fürchteten dieses System. Ich denke, fast alle Deutschen wussten, dass ein falsches Wort sie wegbringen könnte. Die Wahrheit ist: Es war keine Kriegsbegeisterung da am 1. September 1939. Und trotzdem konnte das Regime sich vollkommen auf sie verlassen.
    Heinemann: Herr Giordano, welche institutionellen Voraussetzungen mussten geschaffen werden für den Kriegseintritt? Oder anders gefragt: Wie fest hatten die Nazis diesen Staat im Griff _39?
    Giordano: Absolut im Griff.
    Heinemann: Goebbels in seinen Tagebüchern schreibt immer wieder, „na, wir sind uns nicht ganz sicher, wie die Stimmung ist." Es gibt SD-Berichte, die sagen, die Leute, sind nicht begeistert. Es gibt auch immer so einen Zweifel bei ihm, ob sie wirklich das Volk gepackt haben.
    Giordano: Das stimmt ja auch. Ich denke, viele Deutsche waren damals gespalten. Das heißt, sie fürchteten ein Regime, dem sie gleichzeitig auch zujubelten, phrenetisch zujubelten.
    Heinemann: Sie sprachen eben von den Mitschülern, die Sie verraten haben.
    Giordano: Ja.
    "Die ersten sechs Jahre waren ein voller Erfolg für Hitler"
    Heinemann: Kann man sagen, in den sechseinhalb Jahren, in den ersten sechseinhalb Jahren haben sich die Menschen schon erkennbar verändert?
    Giordano: Aber ganz deutlich! Diese ersten sechs Jahre waren ein voller Erfolg für Hitler. Er hatte ja auch tatsächlich große Erfolge. Man stelle sich vor, was das bedeutet hat aus der Geschichtssicht von damals. Das heißt, das Saarland zurückgeholt, das Rheinland besetzt und dann der Anschluss Österreichs, die Besetzung des Sudetenlandes, dann das Protektorat der Tschechoslowakei. Es sah ja so aus, als wenn zusammen mit Mussolini und mit Japan und anderen Bestrebungen auf der Welt der Faschismus die große kommende Macht sein würde, der nichts gewachsen war, die überall siegte. Die Urkatastrophe des Ersten Weltkrieges – es war die Urkatastrophe. Das heißt, auf dieser Klaviatur konnte Hitler spielen. Versailles, dieser böse Vertrag mit Wiedergutmachungsleistungen bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts.
    Heinemann: Wie wichtig war genau diese Erfahrung? Es waren Millionen extrem brutalisierter Männer aus dem Krieg zurückgekehrt, aus dem Ersten Weltkrieg, die jetzt wieder vor der Entscheidung oder vor der Ankündigung eines neuen Krieges standen.
    Giordano: Es war eher eine Nachdenklichkeit in der Atmosphäre, denn natürlich war der Erste Weltkrieg noch nicht vergessen. Es war eine neue Generation da, aber die ältere Generation, viele von denen, die überlebt hatten, waren immer noch schockiert von dem, was diese Urkatastrophe mit sich gebracht hatte.
    "Wir spielen nicht mehr mit Dir, Du bist Jude"
    Heinemann: Und Hitler hat verstärkt auf die Kinder und Jugendlichen gesetzt?
    Giordano: Mein Bruder und ich, wir waren natürlich nicht in der HJ oder im Jungvolk, aber die Spielgefährten waren es als Arier und ich kann nicht sagen, dass es schnell ging. Aber ich erinnere mich genau an ein anderes Erlebnis, an das ich mich erinnern werde, wenn ich 150 Jahre alt sein werde. Es muss im Sommer 1935 gewesen sein. Ich kam auf die Straße und dort traf ich auf meinen bis dahin besten Freund Heinemann. Der sagte, zwölfjährig wie ich, Ralle, mit Dir spielen wir nicht mehr, Du bist Jude. Mir laufen heute noch die kalten Schauer den Rücken runter, wenn ich das in sagen höre. Das ist eigentlich das Schlimmste gewesen, mit gewesen, was mir begegnet ist. Wie gesagt: Nachher gab es ganz andere Dinge. Ich bin zweimal von der Gestapo verhört worden, bewusstlos geprügelt worden. Aber dieser Ausspruch zwei Jahre nach 1933 zeigt, welch ein ungeheurer Einfluss da war von der Agitation und Propaganda des Dritten Reiches.
    Heinemann: Hat dieser 1. September '39 das Regime noch mal radikalisiert? Wie war das spürbar?
    Giordano: Ja. Da wurde einem erst wirklich bewusst, dass man in der Falle war. Den Eindruck hatte ich. Die Lehrerschaft übrigens an diesem 1. September 1939, die Lehrerschaft habe ich in Erinnerung als Leute, die sehr passiv waren. Die ganze Schülerschaft war angetreten, das waren 600 Leute, und die Lehrer waren auch angetreten in einem Block. Das war eine ganz seltsame Atmosphäre.
    Überleben in einem rattenverseuchten Keller
    Heinemann: Der Krieg begann mit dem Überfall auf Polen und einem relativ schnellen Ende dieses Feldzuges nach einem Monat ungefähr. Wie wurde über diese militärische Entwicklung gesprochen?
    Giordano: Ich habe den Verlauf des Krieges von vornherein von diesem 1. September 1939 an verfolgt. Unser Leben ist dann im Laufe der Jahre buchstäblich zu einem Wettlauf geworden zwischen der Endlösung der Judenfrage und dem Endsieg der Alliierten, und diesen Wettlauf haben meine Familie und ich auf das Knappste gewonnen, in einem rattenverseuchten Kellerloch im Norden von Hamburg. Ich habe niemals geglaubt, dass Hitler-Deutschland diesen Krieg gewinnen würde, niemals, auch in den Zeiten größter Siege. Bis Stalingrad war es ja ein einziger Siegeszug gewesen. Ich erinnere mich: In der Mönckebergstraße in Hamburg war die Karte der Ostfront im Karstadt abgebildet, ein riesiges Areal, die Front abgesteckt, und es ging immer weiter, immer weiter nach Osten, und ich stand unter denen und dachte bei mir, Junge, Junge, ihr werdet diesen Krieg verlieren, mit Mann, Ross und Panzer werdet ihr diesen Krieg verlieren. Das heißt, ich habe nie geglaubt, dass Hitler-Deutschland siegen würde. Nur ob wir das erleben würden, ob wir befreit werden würden, das wusste man natürlich nicht.
    Heinemann: Herr Giordano, dieser 75. Jahrestag ist voraussichtlich das letzte Viertel-Jahrhundert-Jubiläum, bei dem Zeitzeugen noch zu Wort kommen werden.
    Giordano: Ja.
    Je mehr man von Krieg und Holocaust weiß, desto weniger versteht man
    Heinemann: Wenn Sie eine zentrale Botschaft formulieren sollten, was sollte von diesem 1. September '39 in 25, 50 oder 100 Jahren an Lehren gezogen werden können aus diesem Datum?
    Giordano: Ich kann – und das natürlich aus der jetzigen Sicht – nur sagen, der 1. September 1939 war wirklich die Urkatastrophe der Menschheitsgeschichte. Denn alles, was sich bis zum 8. Mai 1945 dann abspielte, ist so ungeheuerlich an Toten, auch an Verwundeten - das geht ja bis in die Millionen und bis an die 100 Millionen -, wie es das vorher in der Menschheitsgeschichte nicht gegeben hat und, davon bin ich überzeugt, auch nicht wieder gibt, weil sich die Bedingungen und Umstände nicht wiederholen werden auf diese Weise in einer Welt, die ganz anders geworden ist. Manchmal habe ich geglaubt, ich wüsste alles oder viel jedenfalls. Die Wahrheit ist: Auch ein Mann mit meiner Biographie, der sich darum sein ganzes Leben lang beschäftigt hat, ich weiß noch nicht einmal die Spitze des Eisberges von dem, was da geschehen ist. Das heißt, der 1. September 1939 hat etwas Geschichtliches eingeleitet, was zu verstehen die menschliche Vorstellungskraft sich sträubt. Die Nazis, es war ein Regime des Unbedingten. Das heißt, nichts, was Menschen Menschen antun konnten, war mehr unmöglich für dieses Regime. Wissen Sie, mein ganzes Leben ist eigentlich verdorben worden dadurch, dass ich in diese Zeit hineingeboren bin. Der Schrecken geht bis in die Träume. Niemals Hitler, Himmler, Heydrich, sondern eine Gruppe von Menschen, von Männern, mit dem Rücken zu mir, aus ihrer Mitte steigen wimmernde Töne. Das heißt, da wird jemand gequält. Und diese Szene rückt immer näher heran, rückt immer näher an mich heran. Und in dem Moment, wo sie nach mir greifen, kann ich mich selber aufwecken. Gott sei Dank ist diese Möglichkeit mir gegeben. Manchmal finde ich mich vor meinem Bett wieder. Und damit fertig zu werden, das ist eigentlich nicht möglich.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.