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Zwischen Buffo und seriösem Fach

Der Autor der "Generation Golf" prescht hier durch ein Sammelsurium an berühmten Namen des Sommers 1913 und deren geschichtsprägende Aktivitäten, von Tucholsky bis Kirchner, von Duchamps bis Steiner. Keine Enttäuschung - aber auch kein "Hurra, hurra!".

Von Matthias Sträßner | 13.11.2012
    Ausgerechnet im Jahr 1913 soll Max Weber begonnen haben, von der "Entzauberung der Welt" zu sprechen. Folgt man dem, was Florian Illies in seinem Buch "1913 - Der Sommer des Jahrhunderts" ausbreitet, dann gilt das genaue Gegenteil.

    Nehmen wir den September: allein in diesem Monat, so lässt uns Illies wissen, gibt es zwei große Veranstaltungen, die als Querschnitt durch die gesamte damalige Kulturszene taugen: zum einen das leider nicht umgesetzte Zeitungsprojekt Kurt Tucholskys mit dem Namen "Orion" (231f) und zum andern der "Erste Deutsche Herbstsalon" in Berlin (232f). Kein Schriftsteller von Rang, der damals Tucholskys Spürsinn entgangen wäre, und bei den Malern kommen Delaunay, Chagall, die Blauen Reiter, die Futuristen, Kandinsky und Picabia alle nach Berlin, und da zeitgleich auch noch die "Neue Galerie" eröffnet wird, sind sogar Picasso und Braque dabei (246). Hier haben bereits die Zeitgenossen einen bemerkenswerten Sinn für das originell und originär Neue, das Wichtige und Beständige. Und wenn schon von "Querschnitt" die Rede ist, dann ist auch noch der Galerist Alfred Flechtheim zu erwähnen, dessen seit 1913 herausgegebene, zunächst noch unperiodisch erscheinenden Ausstellungskataloge in die spätere Zeitschrift "Querschnitt" münden, die als Kulturzeitschrift Maßstäbe in der Weimarer Republik setzen wird.
    Das ist wahrlich ein Kultur-Zauber.
    Auf kleinere Zaubereien versteht sich auch der Autor Florian Illies durchaus: Wie da der Abriss der Neuen Berliner Sternwarte geschildert wird, die Karl Friedrich Schinkel 1835 zwischen Linden - und Friedrichstraße hatte erbauen lassen, weil Sternwarten im Jahr 1913 die Lichter der modernen Großstadt nun mal nicht ertragen können (45f), das ist schön und sinnfällig dargestellt. Oder wie Ernst Ludwig Kirchner nach dem Zusammenbruch der Künstlergemeinschaft "Brücke" auf der Ostseeinsel Fehmarn die Arbeit aufnimmt und sich mit den Bohlen eines alten Schiff-Wracks beschäftigt, die von Wellen an den Strand gespült werden, nur um dann wieder alle plastischen Experimente zu verwerfen.

    "Ernst Ludwig Kirchner verweigert dem Wrack geradezu patzig die Aufnahme in sein Oeuvre" (213f) , so heißt es bei Illies, und damit wird das Nichtsichtbare plötzlich doch sichtbar, was ihm der Leser selbstredend dankt. Als in München 1913 eine Benefizauktion für Else Lasker-Schüler veranstaltet wird (S.51), ist die Veranstaltung ein Flop. Zitat:

    "So boten die Künstler gegenseitig, um die totale Blamage zu verhindern, und es kamen 1600 Mark zusammen. Der Gesamtwert der am 17.Februar 1913 nicht versteigerten Werke würde heute bei circa 100 Millionen liegen, ach was: bei 200 Millionen."

    Es ist aber genau dieses "Ach was!", was mit der Zeit den Leser verstimmt. Denn schalkhaft und jovial schlendert der Autor im "was macht eigentlich.." , "wie geht's denn ... " und "da gibt es doch noch ... " - Stil durch die Kunstgeschichte, grüßt Rilke und Kafka links, Matisse und Picasso rechts. Kleine Laternchen der Spannung leuchten: Schließlich wird die im Louvre gestohlene "Mona Lisa" das ganze Jahr hindurch gesucht und bekanntlich im Dezember in Florenz gefunden, und auch der das ganze Jahr ja so schrecklich untätige Marcel Duchamps schenkt der Welt schließlich rechtzeitig im Dezember endlich sein erstes "ready-made"!

    Schwerpunkte des Buches "1913 - Der Sommer des Jahrhunderts" sind zweifellos die gehobene Literatur und die Bildende Kunst. In der Musik wird gerade mal das unverzichtbare "Watschenkonzert" Arnold Schönbergs im März verzeichnet, als der Komponist nach der Uraufführung der "Lieder mit Orchester nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg" vom Operettenkomponisten Oscar Straus, (dem mit dem einen "s"), geohrfeigt wird. Oder die Uraufführung von Strawinskys "Sacre du Printemps" im Mai, und - klar - Louis Armstrongs Trompete darf auch nicht fehlen. Debussys zeitgeistmusikalisches Tennis- Spiel in "Jeux" interessiert so wenig wie die malerei- inspirierten Werke Max Regers und Skrjabins: Obwohl die Erwähnung zum Beispiel der "Böcklin- Suite" doch auch kunstgeschichtlich nahe gelegen hätte. Vom Richard-Wagner- Jahr 1913 oder von Bartok und Sibelius gar nicht zu reden. Bei den Philosophen verdient Ludwig Wittgenstein offensichtlich auch nur Beachtung, weil seine Homosexualität die Brücke zwischen der Psychoanalyse Wiens und der Analytischen Schule von Cambridge zu sein scheint.

    Der Autor fühlt sich als Conferencier des Jahres 1913 völlig zufrieden und ausgelastet: kein Ansatz, die Vatermörder, Müttersöhnchen und Verklemmten von Picasso bis Schiele, von Benn bis Kafka und von Thomas Mann bis Wittgenstein in Verbindung zu bringen mit den wunderbar vamp-artigen Frauen Lou Andreas-Salomé, Alma Mahler und Else Lasker-Schüler, sowie den Lulus und Lady Chatterleys. Nur wo man früher - zugegeben etwas pomadig - vom Frauenbild der Heiligen und Huren sprach, da setzt Illies ganz neue sprachliche Lichter: "Porno und Bambi", das klingt irgendwie moderner! Gleich mehrfach hören wir mit Blick auf Sigmund Freud, dass "in Wien die Nerven blank ... " lagen. Oder laben uns an Lehrsprüchen des Kunsthandels: "Wo bei Klimt die Frau lockt, da schockt sie bei Schiele" (45) Das Reliquienhafte der Kunst-Betrachtung versteckt sich bei Illies hinter flotten und kecken Formulierungen. Und wenn Illies hörbar schnauft: ",mehr uff als Uffizien" (16), dann schnauft der Leser mit.

    Denn gerade die gesuchte Lockerheit des Stils trifft das Zeitgefühl eher nicht. Wenn Sigmund Freuds Schrift "Totem und Tabu" mit dem programmatischen letzten Satz abschließt: "Im Anfang war die Tat" (Illies 2012, 131), dann gilt dies nicht nur für die Schöpfungsgeschichte, sondern gerade auch für das Lebensgefühl 1913. Diese Sehnsucht nach der alles entscheidenden ersten Aktion, nach der Ur-Tat des alles bestimmenden Neuanfangs hat aber rein gar nichts mit der "Start-Up- Atmosphäre" zu tun, die Illies etwa bei Rudolf Steiner im Jahr 1913 ausmachen will.

    Dass das Jahr 1913 nicht nur bei Rudolf Steiner, sondern auch als Geburtsjahr von Werner Stein gewürdigt wird, dem "Erfinder der synchronoptischen Geschichtsschreibung", vulgo: des "Kulturfahrplans", ist mehr als angebracht, denn Illies ist dieser Darstellungsweise mehr als verpflichtet. Aber was lernen wir über 1913, wenn wir erfahren, dass in diesem Jahr Eva Braun, Peter Frankenfeld, Robert Lembke und Hans Filbinger, Marika Rökk, Willy Brandt und Burt Lancaster geboren sind?

    Wer dieses Buch zu Weihnachten verschenkt, wird sich nicht völlig blamieren. Illies wählt einen angenehmen Ton zwischen Buffo und seriösem Fach, fast so, als wäre er der Lieblingsschwiegersohn der Göttin Memoria. Aber was schon wundert, ist das "Hurra, Hurra!" des gehobenen Feuilletons in den letzten Tagen. Das klingt so, als sei hier wirklich mehr geschehen, als dass das Jahr 1913 locker flockig durchmoderiert worden wäre. So als hätte es Hilde Spiel, Klaus Theweleit, Modris Eksteins, Joachim Fests Hitler-Biografie, Kurt Flaschs "Die geistige Mobilmachung" nicht gegeben, oder als könnte man Reiner Stachs "Kafka"- Buch nicht gleich im Original lesen.

    Und wenn sich das Buch schon auf das Literarische und Kunstgeschichtliche verengt, was man beim Kauf ja nicht ahnen kann, dann hätte man die Bildbelege doch gern umfassender im Buch ausgebreitet gesehen, statt diese verkaufsfördernd im "Zeit"-Magazin (Nr.44 25.10.2012) oder im Spiegel sich nachliefern zu lassen. Angesichts einer so deutlich ausgeprägten prästabilisierten Harmonie zwischen Buchkritik und Autor muss man schon sagen: "Jetzt schlägt` s aber 13!"