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Zwischen den Sprachen

Kleinstverleger wie der Kölner Thomas B. Schumann sind manchmal auf den Kommissar Zufall angewiesen. Schumann, der sich auf Exilschriftsteller spezialisiert hat, verfolgte jahrelang die Spur einer gewissen Friedl Benedikt, die 1939 von Wien aus nach London emigriert war, und die dort in den vierziger Jahren eine anerkannte Romanschriftstellerin wurde.

Von Tanya Lieske | 02.09.2004
    Vor Jahren habe ich Erich Fried mal getroffen und ihn nach unbekannten Autoren gefragt in London, da hat er mir drei Autoren genannt, unter anderem die Anna Sebastian, und dann habe ich jahrelang recherchiert und dann erfahren, dass ihre Schwester in Paris lebt.

    Da ihr deutscher Name ein Hindernis war, hat Friedl Benedikt ihre drei Romane unter dem Pseudonym Anna Sebastian in englischer Sprache veröffentlicht. Zwei erschienen im Kriegsjahr 1944, ein weiterer 1950. Die Schwester der Autorin, Susanne Ovadia, und Thomas B. Schumann kamen überein, den mittleren Roman der Friedl Benedikt, Das Monster, neu zu verlegen – was den kuriosen Tatbestand nach sich zog, dass das Werk aus dem Englischen zurück in die Muttersprache der Wiener Autorin übersetzt werden musste.

    Im deutschsprachigen Raum ist Friedl Benedikt eine Unbekannte geblieben, ganz im Gegensatz zu dem Mann, mit dem sie 1939 nach London ging, es war kein Geringerer als Elias Canetti. Canetti schreibt in seinen Erinnerungen Party im Blitz über seine Gefährtin der Londoner Jahre: "Friedl war ein helles und heiteres Geschöpf. Ihr Sinn für alles Komische war sehr ausgeprägt. Es gab immer etwas zu lachen, wenn man mit ihr zusammen war."

    In der "Party im Blitz" schildert er sie sehr positiv, als heiteres Wesen, immer fröhlich. Er hat ihr auch einiges zu verdanken, sie hatte ja persönliche Bezüge in London, und dadurch hat er Zugang zu bestimmten Kreisen durch Friedl Benedikt gefunden.

    Als Friedl Benedikt aus Wien emigrierte, war sie 23 Jahre alt. Sie sah sich als Canettis Schülerin, wollte bei ihm das Schreiben lernen. In ihrem Roman ist Canettis Einfluss spürbar, sowohl im Thema – es geht um die Manipulierbarkeit von Menschen – als auch im Stil.

    Er ging rasch davon. "Was für ein miserabler Tag, dein Name werde geheiligt", dachte er, Tantalus hin und her schwingend. "Was für ein lausiger Tag, und vergib uns unsere Schuld, 104 + 62 = 166, denn dein ist das Reich, wenn Tantalus sie alle verschlingen würde, wäre mir wohler zumute, 202, 224, kannst du nicht damit aufhören, du Idiot? Tantalus ist zu nichts nutze, in Ewigkei."

    Dieser absurd anmutende Monolog wird gesprochen von einem Staubsaugervertreter, er heißt Jonathan Crisp. Mr. Crisp eilt durch London, addiert im Gehen die Hausnummern, versucht vergeblich, seinen Staubsauger Tantalus zu verkaufen, er muss sich von Dienstmädchen und gut gestellten Herrschaften demütigen lassen, was in ihm allerlei Rachegelüste weckt. Der Staubsauger Tantalus wird zum Objekt seiner Gewaltfantasien. Jonathan Crisp betrinkt sich, schlitzt den Staubsaugerbeutel auf und nimmt den Inhalt zu sich.

    Dann erst verwandelt er sich in das titelgebende Monster: Er sucht vier Haushalte auf, die er zuvor als Vertreter besucht hat. Er macht sich die Bewohner hörig, er quält und erniedrigt sie, bis sie ihn als absolute Autorität anerkennen. Wie ein wahrer Diktator vergisst er auch nicht, ihnen zur rechten Zeit ein paar Brocken hinzuwerfen.

    Ihnen war nicht bewusst gewesen, wie hungrig sie alle waren. Sie fielen über die Suppe her wie halbverhungerte Tiere. Sie hockten auf dem Boden, ihre Löffel klirrten aneinander, als sie in die Terrine tauchten, und die Suppe rann aus ihren Mundwinkeln, während sie gierig schluchzten und laut schmatzten. (...).
    "Er ist ein Genie!", rief Anthony.
    "Er ist ein großer Mann!", rief John.
    "Er ist so künstlerisch", schluchzte Mrs. Hoarding.
    "Er ist einmalig", stammelte George.


    Friedl Benedikt untersucht die Mechanismen der Herrschaft eines Einzelnen über die Masse. Man kann Das Monster als Allegorie auf die Ereignisse im Hitlerdeutschland lesen. Ästhetisch geht die Autorin dabei einen ähnlichen Weg wie Canetti: Sie setzt auf die motivationslose Handlung, den absurden Dialog, die ins Groteske verzerrte Übertreibung, kurz, sie verwendet alle jene Techniken, die die literarische Moderne als Reaktion auf den Zerfall des humanistischen Weltbildes hervorgebracht hat. Ihr Talent stellt Friedl Benedikt unter Beweis, allerdings finden sich in ihrem Roman etliche Längen und Wiederholungen, denen eine straffende Überarbeitung gut getan hätte. Thomas B. Schumann hat darauf verzichtet, da er das englische Original so getreu wie möglich übertragen wollte:

    Sprachspielerische Elemente sind da drin und sie jongliert mit den Worten. Und das ist sensationell, dass man als ausländischer Autor so die Sprache beherrscht. Und da gehört sie zu einigen wenigen Exilautoren wie Artur Koestler oder Ernst Bornemann die in einer neuen Sprache dann sehr sehr gut geschrieben haben.

    Man kann nur mutmaßen, was aus einer so sprachbegabten Autorin geworden wäre, hätte sie mehr Zeit gehabt, aus Canettis Schatten zu treten. Doch Friedl Benedikt alias Anna Sebastian ist früh gestorben, sie erlag 1953 in Paris mit 37 Jahren einem Krebsleiden. Ihre jüngere Schwester Susanne Ovadia und ihr Vater Ernst Martin Benedikt haben sie überlebt. Ihr Vater war im Hauptberuf Journalist, in der Freizeit Künstler. Eine seiner Tuschfederzeichnungen aus den vierziger Jahren sieht einem Monster so ähnlich, dass Thomas B. Schumann sie als Titelbild verwendet hat:


    Es war eine künstlerische Familie, der Vater hat auch Klavier gespielt, es gingen große Künstler, große Musiker, große Schriftsteller im Hause ein und aus, Stefan Zweig und viele andere. Das alles ist eben 38 abgeschnitten worden.

    Der jüdischen Familie Benedikt, die im Wien der Vorkriegsjahre eine große Rolle spielte, bewahrt Thomas B. Schumann auf seine Art ein Andenken. Er hat auch dafür gesorgt, dass der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts ein weiteres Puzzleteil hinzugefügt werden darf, es trägt den Namen Anna Sebastian.

    Von Tanya Lieske
    Anna Sebastian (Friedl Benedikt)
    Das Monster
    Edition Memoria, 328 S., EUR 26,-