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Zwischen Einheit und Vielfalt

"Europa entmachtet uns und unsere Volksvertreter" überschrieb Alt-Bundespräsident Roman Herzog seinen Aufsatz, der zu Beginn des Jahres für Aufsehen sorgte, weil er die europakritische Debatte, die nicht nur in Deutschland geführt wird, befeuerte.

Von Volker Finthammer | 04.04.2007
    "Bloß nicht noch mehr Macht an die Kommission!" schreibt Flex1949 im Euroblog, mit dem der Deutschlandfunk seine Sendereihe "Werkstatt Europa" begleitet - und in dem er Hörer aufruft, im Internet Europa-Fragen zu diskutieren. "Die Über-Regelwerke, die schon bis heute von dort gekommen sind, dienen vielleicht der METRO und UNILEVER, und wer weiß, wem noch aus diesen Luftschloss-Siedlungen, aber damit hat Brüssel die Bodenhaftung schon vor Jahren wirklich verloren oder besser gesagt: abgegeben!" lautet sein Fazit. "Die Rolle der Kommission sollte neue definiert werden", antwortet Kurt12, und damit umschreiben die beiden Webautoren ein Kernproblem, das die Gemeinschaft seit ihren Gründungsjahren immer wieder umtreibt: Wie viele Entscheidungen sollten in Brüssel - also auf EU-Ebene - getroffen werden? Längst ist er legendär geworden: der Krümmungsgrad der Gurken in Europa, der immer wieder als Beispiel für die Brüsseler Regulierungswut herhalten muss, als ein Beispiel dafür, dass in der Kommission nur Beamte sitzen, die nichts besseres zu tun haben als Händler und Konsumenten zu drangsalieren, in ihrem Bestreben, alles vereinheitlichen zu wollen.

    " Die Geschichte mit den Gurken ist doch nichts anderes als eine Handelsklasse. Ich weiß nicht, warum die Leute sich darüber aufregen, in Deutschland gibt es zum Beispiel Handelsklassen für Schwarzwurzeln und für Preiselbeeren. Das besagt doch nichts anders, als dass ein bestimmtes Gemüse, das man kauft einen bestimmten Qualitätsstandard hat."

    Sagt Industriekommissar Günter Verheugen. Und wer heute in Lissabon, Warschau oder Köln eine 1A Salatgurke kauft, bekommt mit großer Sicherheit ein Gewächs, das mehr gerade als krumm ist.

    " Ich hab' mal darüber gesprochen, dass man das vielleicht abschaffen könnte, aber das hat riesige Proteste gegeben bei denjenigen, die Gurken erzeugen, mit Gurken handeln und Gurken verarbeiten."

    Die Händler und Produzenten waren es nämlich, die für den gemeinsamen europäischen Markt eine Einteilung in entsprechende Handelsklassen verlangt haben, um sich auf diesem Weg unliebsame Konkurrenz vom Halse zu halten, sagt Verheugen, der sich den Bürokratieabbau in Brüssel auf die Fahnen geschrieben hat, aber allerorten mit Widerstand rechnen muss. Am Kernproblem kommt nämlich auch der Kommissar nicht vorbei. 84 Prozent der Gesetze und Erlässe in Deutschland hätten ihren Ursprung in Rechtsakten, also Verordnungen und Richtlinien der Europäischen Union, schreiben Roman Herzog und Lüder Gerken, der Direktor des Centrum für Europäische Politik in Freiburg, unter Berufung auf Zahlen des Bundesjustizministeriums. Von den strengen Regeln zum gemeinsamen Binnenmarkt über die Flora, Fauna, Habitatrichtlinie bis zum Antidiskriminierungsgesetz und kindersicheren Feuerzeugen ist alles dabei.

    Es stellt sich daher die Frage, ob man die Bundesrepublik überhaupt noch uneingeschränkt als eine parlamentarische Demokratie bezeichnen kann? Denn die Gewaltenteilung als grundlegendes konstituierendes Prinzip der verfassungsgemäßen Ordnung ist für große Teile der für uns geltenden Gesetze aufgehoben.

    Argumentieren Altbundespräsident Herzog und Lüder Gerken und fordern, diese schleichende Zentralisierung und Konzentration der Machtbefugnisse in Brüssel zu stoppen.

    " Europa beraubt keinen Mitgliedsstaat, welcher Kompetenz auch immer."

    Hält der Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, dagegen.

    " Es ist gar nicht in der Lage, einem Mitgliedsstaat irgendeine Kompetenz wegzunehmen, die nicht der Mitgliedsstaat oder die Gemeinschaft der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft übertragen hätten. Das, was stattfindet, ist die von uns gewollte Neuverteilung von Zuständigkeiten. Und das findet ja nicht deswegen statt, weil irgendjemand keine Lust mehr hätte, Zuständigkeiten auf nationaler Ebene selbst wahrzunehmen und sie viel lieber nach Brüssel abtritt, sondern es geschieht aus der gemeinsamen Einsicht, dass wir viele Dinge mit Aussicht auf Erfolg nur gemeinsam anpacken und gemeinsam umsetzen können."

    Nichts desto trotz hat der Deutsche Bundestag erst zu Beginn dieses Jahres ein Verbindungsbüro in Brüssel aufgemacht, um früher als bisher über anstehende Verfahren und Entscheidungen informiert zu werden.

    " Weil es so ist, dass ein immer größerer Teil nationaler Politik europäisch bedeutsam ist, und umgekehrt europäische Politik dann wiederum in den Mitgliedsstaaten von unmittelbarer praktischer Bedeutung ist, kommt es darauf an, dass möglichst früh eine wechselseitige Kenntnisnahme und Einflussnahme erfolgen kann. Und das ist in der Vergangenheit sicher nicht optimal gewesen: Deswegen ist es überfällig, dass gewissermaßen am Sitz der europäischen Organe nicht nur die Regierungen - im übrigen längst auch die Bundesländer mit eigenen Vertretungen präsent sind, sondern dass der Deutsche Bundestag seine Aufgabe vor Ort in einer möglichst zeitnahen Weise wahrnehmen kann."

    Denn es kommt immer wieder vor, dass Initiativen, die auf europäischer Ebene angestoßen werden, in den Mitgliedsländern auf wenig Gegenliebe treffen:

    " Die Pläne der EU-Kommission zur Anhebung der Mindesthöhe bei der Biersteuer sind ein Anschlag auf die bayerische Brauereienlandschaft. Wegen Bierpreisen hat es in Bayern schon Revolten gegeben. Also EU-Kommission: Lasst die Finger weg von solchem Unsinn, das ist unsere Sache, da brauchen wir Brüssel nicht dazu."

    Polterte vor gut einem Jahr der CSU-Politiker Andreas Scheuer auf dem politischen Aschermittwoch in München. Auch Finanzminister Peer Steinbrück, obwohl eher Weinliebhaber, ließ es sich nicht nehmen, sich gleichermaßen für billiges deutsches Bier starkzumachen.

    " Darauf hinzuweisen, dass wir nicht gerne wollen, dass die Bierpreise in Deutschland steigen, finde ich, ist eine sehr naheliegende Interessenlage und eine gute Botschaft für all diejenigen, die ein gutes Pils trinken wollen."

    Zuvor hatte die finnische Ratspräsidentschaft gefordert, die Mindeststeuersätze anzuheben, um über diesen Weg den Alkoholtourismus an den eigenen Landesgrenzen einzudämmen. Für eine Kiste Bier hätten die Verbraucher in Deutschland 20 Cent mehr zahlen müssen, aber dennoch wollten sich deutsche Politiker eine Einmischung aus Brüssel nicht gefallen lassen. Noch stärker waren Politiker und Lobbyisten gefordert, als mögliche Pläne der EU-Kommission bekannt wurden, mit Warnhinweisen auf Flaschen gegen den übermäßigen Alkoholkonsum vorzugehen. Gegen die umstrittene Tabakwerberichtlinie und das daraus resultierende Werbeverbot zog die Bundesregierung sogar zweimal vor den Europäischen Gerichtshof - und scheiterte:

    " Erstens, die Klage wird abgewiesen. Zweitens, die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten."

    546 Rechtsstreitigkeiten hat der Europäische Gerichtshof allein im vergangenen Jahr entschieden. 103 mal wurden Mitgliedsländer in Vertragsverletzungsverfahren verurteilt. Also solchen Verfahren, bei denen sich die Staaten den Vorwurf gefallen lassen müssen, sie halten die geschlossenen Verträge nicht ein oder setzten sie nicht um. Kritiker, wie etwa Altbundespräsident Roman Herzog, sehen in der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes einen weiteren Grund dafür, dass sich immer mehr Befugnisse in Brüssel sammeln. Denn die Richter neigten dazu, in Kompetenzfragen im Zweifel die Zuständigkeit der EU zu bejahen. Dabei ist, so die SPD Europaabgeordnete Dagmar Roth Behrendt, der Europäische Gerichtshof nur das letzte Glied in einer Kette, die ihren Anfang in den Mitgliedsländern hat.

    " Die Tabakwerberichtlinie betrifft ja nicht die Frage, wie gesundheitsschädlich ist Tabak, oder dürfen wir Zigaretten verkaufen, sondern betrifft die Frage, darf Werbung für Zigaretten in Medien sein, die die Grenzen überschreiten. Und auch da muss man immer wieder wissen, solche Wünsche werden von einzelnen Mitgliedsländern hervorgebracht. Und dieses Mitgliedsland geht dann zur Kommission und sagt, bei mir ist das verboten, die Werbung für Zigaretten. Aber da ist es erlaubt, und ich hab jetzt hier zwei Produkte, die zeigen, dass es hier bei mir kursiert. Das stört den Binnenmarkt. Und dann ist die Europäische Kommission aufgefordert, als Hüterin der Verträge und als Hüterin des Binnenmarktes tätig zu werden. Und genau so war das da natürlich auch. So war es bei der Tabakwerberichtlinie, und so ist es natürlich auch bei der Alkoholrichtlinie."

    Ist das Pferd erst einmal gesattelt, dann wird es auch geritten. Dafür funktioniert der Brüsseler Apparat viel zu gut, und die Mitgliedsländer wissen, diesen Weg für ihre Interessen zu nutzen:

    " Es gibt eine Untersuchung, die sagt, dass weit über 70 Prozent aller europäischen Regelungen auf deutsche Initiative zurückgehen. Nur um mal das Problem zu beschreiben. Die Kommission traut sich nur dort Vorschläge zu machen, wo sie das Gefühl hat, die Mitgliedsstaaten ziehen auch mit."

    Sagt der CSU-Europaparlamentarier Markus Ferber, der im vergangenen Jahr lautstark gegen die höhere Biersteuer gekämpft hatte, die von den nordischen Mitgliedsländern gewünscht wurde.

    " Die Skandinavier hatten das große Interesse, hier eine einheitlich europäische Regelung zu bekommen, weil sie feststellen, dass sie im Binnenmarkt Nachteile haben, weil der Finne und der Schwede sich mit Alkoholika aus anderen Ländern versorgt, was im Binnenmarkt selbstverständlich möglich ist. Auch wir Deutschen haben immer wieder Anliegen, die wir gerne nach Brüssel tragen und dort zu Lösung vorlegen und uns hinterher beschweren, wenn Brüssel etwas verabschiedet hat. Das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite ist natürlich eine europäische Kommission, an die Wünsche herangetragen werden aus den Mitgliedsländern, auch gerne bereit, das aufzugreifen und dann wirklich ein regulatives Monster vorzuschlagen, dass alle Glücksfälle des Lebens mit berücksichtigt. Und in dieser gefährlichen Mischung entstehen dann am Ende diese bürokratischen Monster, mit denen wir es leider in vielen Bereichen heute zu tun haben. Das Problem ist, dass man immer nur das Ende, das Ergebnis, das, was hinten rauskommt, mitbekommt. Man sieht nur, da kommt ein Gesetzentwurf. Nehmen Sie dieses einfache Beispiel der Schokolade. In Italien und in vielen anderen Ländern war es prinzipiell nur so, dass in Schokolade nur Kakaobutter als Fettzusatz erlaubt war. In anderen Mitgliedsstaaten wie in Großbritannien und in Schweden durfte auch Pflanzenfett verwendet werden, mit dem Ergebnis, dass die Italiener gesagt haben, es kommt mir kein Produkt aus Großbritannien über die Grenze. Die Europäische Kommission hat dann sagen müssen, ist nicht gesundheitsschädlich, aber es ist eine schwere Störung des Binnenmarktes vorhanden und hat ein Gesetz vorgelegt, mit der Frage, wie wird geregelt, wie Schokolade zusammengesetzt sein darf. Da könnte man normalerweise sagen, ist ja völlig überflüssig, und vielleicht sagt dann jemand, na siehste, die verrückten Regulierer da in Brüssel. Hätten die Italiener, die Engländer und die Schweden sich nicht mehr oder weniger die Köpfe wegen der Schokolade eingeschlagen, hätten wir einfach so weitergemacht wie bisher. Jetzt haben wir eine Gesetzgebung die sagt, was darf Schokolade sein, wie viel Pflanzenfett darf drin enthalten sein, und wie muss es gekennzeichnet sein."

    Beschreibt Dagmar Roth Behrendt die Entstehung von Richtlinien. Doch von einem Superstaat wollen weder sie noch Markus Ferber reden. Diesen Vorwurf weist auch Luxemburgs Ministerpräsident Jean-Claude Juncker zurück:

    " Europa ist kein Superstaat. Dann sollten Politiker auch nicht darüber reden und so tun, als ob es einer wäre. Die Europäische Union hat weniger Beamte und Bedienstete als die Stadt Köln oder die Stadt Lyon. Wir sind weit davon entfernt, hier es mit einem Tausendfüßler zu tun zu haben, der sich in alles einmischt. Dabei gebe ich zu, dass die Europäische Union sich in viel zu viel Dinge einmischt."

    Und allzu oft kommen europäische Regelungen über Koppelgeschäfte zustande, die im Ministerrat - also zwischen den Fachministern der Mitgliedsstaaten - ausgehandelt werden, um bei den anstehenden politischen Entscheidungen überhaupt zu einem für alle Seiten tragfähigen Kompromiss zu kommen.

    " Es hat ja im Zusammenhang mit der deutschen Gesundheitsreform den Vorschlag gegeben, Baden-Württemberg etwa könnte zustimmen, wenn der Bund sich an der Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofes beteiligt, was eigentlich eine skurrile Verkoppelung von ganz unterschiedlichen Materien ist. In Brüssel ist das Alltag. Pausenlos werden diese Verkopplungen vorgenommen. Pausenlos müssen sie völlig sachfremde Überlegungen in ein Entscheidungspaket mit aufnehmen, um die Zustimmung zu gewinnen."

    Sagt Josef Janning, der Leiter der Bertelsmann Forschungsgruppe Politik, der deshalb die Brüsseler Institutionen in ihrem bisherigen Zusammenspiel für gar nicht mehr handlungsfähig hält. Denn allzu oft kämen diese Verknüpfungen denjenigen Fachministern eines Landes zugute, die ihr Anliegen zuhause nicht durchsetzen können und so mit Hilfe von Brüssel über Bande spielen können, um ihre Vorhaben doch noch umzusetzen.

    " Die Ursache ist nicht, dass Bürokraten in Brüssel oder zentralistische Europaabgeordnete in Straßburg versuchen, Themen an sich zu ziehen. Die Ursache ist, dass Minister wie zur Zeit die Innenminister, die über Harmonisierung des Scheidungsrechts diskutieren, Themen auf die Tagesordnung setzen, die am Ende zu einer Vollharmonisierung führen, ohne dass das wirklich jemand wollte. Das heißt, die Ursache ist, dass der Rat nach wie vor so tagt, wie er tagt. So arbeitet, wie er arbeitet, nämlich hinter verschlossenen Türen. Ich denke, dass der Wiener Kongress ein transparentes Verfahren war im Verhältnis zu dem, was heute noch unsere Ministerräte tun."

    Sagt der CSU-Abgeordnete Markus Ferber. Ein weiteres Problem sei, dass die Entscheidungsstrukturen der Gemeinschaft überhaupt nicht dafür ausgelegt sind, einmal angestoßene Prozesse auch wieder stoppen zu können. Deshalb richtet sich die Hoffnung auf den Verfassungsvertrag und die institutionellen Reformen, die sich damit verbinden. Denn schließlich würde das Europäische Parlament aufgewertet und dem Rat als gesetzgebende und mehr noch als kontrollierende Institution nahezu gleichgestellt, sagt der Präsident des Europaparlaments, Hans Gert Pöttering:

    " Wenn wir die Substanz des Verfassungsvertrages verwirklichen, das heißt, Stärkung des Europäischen Parlamentes, klare Entscheidungsregeln im Ministerrat, mehr Transparenz im Ministerrat. Auch eine Stärkung der nationalen Parlamente. Diese Forschritte sind notwendig, damit wir in mehr transparenter Weise die notwendigen politischen Entscheidungen treffen können."

    Und auch Luxemburgs Ministerpräsident Jean-Claude Juncker geht davon aus, dass die Kernelemente des Verfassungsvertrages, auf deren Umsetzung die Befürworter drängen, dem Zusammenspiel der Institutionen eine neue Basis geben würden:

    " Zum allerersten Mal in der europäischen Integrationsgeschichte haben wir einen feinfühligen Trennungsstrich gezogen zwischen dem, was Sache der Europäischen Union ist und was Sache der Mitgliedsstaaten bleiben kann. "

    " Das Europäische Parlament wäre dann der volle gleichwertige Gesetzgeber mit dem Ministerrat. Das heißt, das Demokratiedefizit, das die Europäische Union nach wie vor hat, wäre beseitigt, weil es einen doppelten Legitimationsstrang dann gibt über die nationalen Wahlen, die Regierungsbildung im Ministerrat und die europäischen Wahlen und die Abgeordneten im Europäischen Parlament."

    Sagt der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber, der jedoch nach dem nächsten Atemzug selbstkritisch eingestehen muss, dass sich das Europaparlament bislang nicht sehr erfolgreich als Korrektiv der von der EU-Kommission angestoßenen Vorhaben erwiesen hat. Ganz im Gegenteil. Oft genug müsse man fürchten, dass die Vorschläge der Kommission im Parlament noch nachgebessert würden, um wirklich einen umfassenden Schutz für die Bürger zu erreichen, klagt Ferber. Außerdem verhindere der Verfassungsvertrag nicht das Spiel über Bande. Die Ministerräte könnten folglich auch in Zukunft dazu genutzt werden, über Brüssel Themen und Inhalte durchzusetzen, die zuhause für sich genommen nicht mehrheitsfähig wären. Heute lassen sich Gesetzesvorhaben im Regelfall nur über den Ministerrat stoppen. Nur wenn dort keine Mehrheiten gebildet werden können, fallen Vorschläge wie die einheitliche Steuer für Alkohol wieder unter den Tisch. Das Parlament ist nur selten schlagkräftig genug. Da aber schließt sich der Kreis. Denn in der öffentlichen Wahrnehmung, sagt Martin Schulz, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, ist es die nationale Regierung, die den Brüsseler Wahnsinn stoppen muss.

    " Die haben aber alle, und jetzt ereilt uns hier in Brüssel und uns Europaabgeordnete insbesondere, der Fluch der bösen Taten anderer, die haben alle seit 20 Jahren die gleiche Platte aufgelegt. Haben Sie Erfolge in Brüssel, ist das natürlich immer die nationale Regierung. Wenn sie sich nicht durchsetzen, dann setzten sie sich in ihre nationale Pressekonferenz und sagen, Sie kennen ja die Bürokratie in Brüssel. Die Message: Alles Gute kommt aus der nationalen Hauptstadt, und die ganze Scheiße kommt aus Brüssel! - Die wird ja seit 20 Jahren von den gleichen Leuten verbreitet, die hier bei jedem Ministerrat zusammensitzen, bei jedem Europäischen Rat zusammensitzen, und ich sag mal ein ganz saloppes Wort. Davon hab ich auch die Nase voll. Dass die Bürgerinnen und Bürger dann die Nase voll haben, kann ich nachvollziehen."

    Und für Norbert Lammert, den Präsidenten des Deutschen Bundestages, wiederholt sich auf europäischer Ebene nur der Streit, mit dem man im föderalen Deutschland bestens vertraut ist.

    " Ich finde auffällig, dass sich in dem Maße, in dem Europa als Gemeinschaft politischer wird, auch immer mehr Beobachtungen auf europäischer Ebene machen lassen, die uns aus den Mitgliedsstaaten bestens vertraut sind. Das gilt auch für die Eigendynamik der Wahrnehmung von Aufgaben von Verfassungsorganen. Deswegen finde ich persönlich im Übrigen etwas unangemessen, dass man europäischen Institutionen Verhaltensmuster vorwirft, die einem im nationalen Maßstab vertraut und selbstverständlich erscheinen."

    Eine Untersuchung des Instituts für Verwaltungswissenschaft der Universität der Bundeswehr in Hamburg kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass der Anteil der von Brüssel mitbestimmten Regelungen in den letzen beiden Legislaturperioden konstant bei knapp 35 Prozent gelegen hat.

    " Ich glaube dass der Zenit für Gesetzgebung überschritten ist, weil der Binnenmarkt mehr oder weniger komplett ist und es höchstens noch kleine Ausfräsungen an den Rändern gibt, wo man oh ja, müssen wir vielleicht noch was machen."

    Sagt Dagmar Roth Behrendt, die jedoch im nächsten Satz eingestehen muss, dass dem Erfindungsreichtum der Parlamentarier und Politiker keine Grenzen gesetzt sind, auch künftig für neue Aufgaben zu sorgen, die an der einen oder anderen Stelle neuen Unmut provozieren werden. Der Schwarze Peter wird deshalb das Spielfeld so schnell nicht verlassen, sagt Luxemburgs Ministerpräsident, Jean-Claude Juncker:

    " Ich glaub', das eigentliche Problem in Europa ist ein einfaches und deshalb sehr kompliziertes. 50 Prozent der Menschen sind der Meinung, dass wir mehr Europa brauchen, und 50 Prozent der Menschen sind der Meinung, dass wir schon Europa zuviel haben."