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Zwischen ethnischen Gegensätzen und Identitätskonflikten

Die Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer schildert in ihrem neuen Roman die Enttäuschung und Desillusion zweier Südafrikaner, die für ein besseres Leben nach der Apartheid gekämpft haben. Jabu und Steve müssen erkennen, dass alte Probleme unter neuen Vorzeichen geblieben sind.

Von Eberhard Falcke | 15.02.2013
    Befreiung ist etwas Wunderbares und wer für Gerechtigkeit und Freiheit kämpft, genießt, wenn die Zeichen der Zeit für sein Anliegen günstig stehen, Bewunderung und Verehrung. So erging es den Kämpfern gegen die Apartheid in Südafrika, jedenfalls in großen Teilen der links oder liberal gestimmten Öffentlichkeit.

    Entsprechend groß waren die Erwartungen an die neuen Maßstäbe von Politik und Moral, als diese Befreiungshelden mit dem Wahlsieg des African National Congress 1994 erstmals die Führungspositionen des Landes einnahmen. Nelson Mandela wurde der erste schwarze Präsident Südafrikas, auf ihn folgte 1999 Thabo Mbeki und Jacob Zuma ist seit 2009 der Amtsinhaber. Alles Männer mit beachtlichen, wenn nicht heroischen Verdiensten um den Kampf gegen die Apartheid. Und zumindest die Letzteren beiden sind in Nadine Gordimers neuem Roman "Keine Zeit wie diese" überaus präsent, auch wenn sie nicht leibhaftig auftreten.

    Mbeki hält sich, bisher. Abgesehen von dieser einen Sache, die ganz und gar unglaublich ist - dass er allen Ernstes behauptet, AIDS sei kein Virus. Mandela musste mit dem Morgen danach klarkommen, als wir alle nach der Freiheitsparty wieder aufwachten. Aber der Hype war da, die fantastischen Chancen, die - wie soll ich sagen - diese absolute Sicherheit der Person Mandelas, solange er an der Spitze stand und die Veränderungen gemacht hat - die unmittelbaren, die durchsetzbar waren. Jetzt ist die Situation ganz anders ... Die Regierung muss die Schaufel in die Hand nehmen und anpacken, wo wir die Apartheid niedergewalzt haben.

    Wer so spricht, räsoniert und zunehmend hadert das sind Steve und seine Frau Jabu, die immer wieder, oft mit Freunden, mit Verwandten oder Kollegen ihre Erfahrungen im neuen Südafrika austauschen, in jenem Land, für das Erzbischof Tutu und Nelson Mandela den Begriff Regenbogennation geprägt haben. Einen Teil des Spektrums verkörpern Jabu, Steve und ihre beiden Kinder. Sie schwarz, er weiß, verliebten sie sich ineinander, als das noch ein Verbrechen war. Sie waren im Widerstand tätig, er half mit seinen Kenntnissen als Chemiker beim Bombenbau, sie nutzte ihre Ausbildung als Juristin. Als alles neu begann, machten auch sie einen neuen Anfang und mieteten ein hübsches Haus in einer ruhigen Vorstadt, um als Teil eines neuen Mittelstandes ohne Rassenschranken ein bürgerliches Leben aufzubauen.

    Ein Haus in der Vorstadt zu bewohnen ist Ausdruck davon, dass jeglicher Rest der früheren Klandestinität, des Untergrundkampfs und Widerstands gegen Rassentabus abgeschüttelt wird.

    Von fern betrachtet mag ein solcher Neubeginn nicht gerade als fesselndes Abenteuer erscheinen, aus der Nähe gesehen ist er das aber unbedingt. Denn es geht um nichts Geringeres als den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Darum wird die Geschichte von Jabu und Steve weniger als individuelles Schicksal erzählt, sondern als exemplarischer Fall. Ja mehr noch: Obwohl die beiden durchaus Profil und Charakter besitzen, dienen sie doch vor allem als Seismografen der gesellschaftlichen Entwicklungen und oft genug ist zu spüren wie dicht die Autorin mit ihren Beobachtungen und Sorgen hinter ihnen steht.
    2012, nur kurz vor der deutschen Übersetzung von Barbara Schaden erschien "No Time like the Present" im Original. Im Sinne der Chronologie ist das zweifellos ein Spätwerk von Nadine Gordimer, die im kommenden November neunzig wird. Im Ton allerdings, im Schreibtemperament, in der Neugier und Erregungsbereitschaft ist von Gesetztheit oder Weisheitsattitüden nicht das Mindeste zu spüren. Im Gegenteil:

    Die Erzählung wird mit hohem Tempo vorangetrieben, geradezu eilig. Und tatsächlich ist Eile geboten, denn der Stoff, den Nadine Gordimer ihren Figuren auferlegt, das ist der Stoff, den sie als engagierte Beobachterin der Entwicklung ihre Landes tagtäglich gesammelt hat. Und da kommt einiges zusammen. Zum Beispiel, dass die Ungleichheit sich inzwischen von den Rassen auf die sozialen Klassen verlagert hat.

    Eine neue Klasse? Die Oberschicht, aus der Rassengrenze, dem Rassenkrieg hervorgegangen, ja: Elite, das sind wir, während die Masse der Brüder und Schwestern nach wie vor die abgehängten Schwarzen sind. Glaubst du wirklich an die klassenlose Gesellschaft, die wir angestrebt haben? Unseren alten Freiheitstraum? Der Kampf geht jetzt um die politische Macht, und der wird zwischen Brüdern stattfinden. - Und dem Unaussprechlichen: Hautfarben.

    Also doch, auch unter Menschenbrüdern und -schwestern, sind ethnische Gegensätze und Identitätskonflikte geblieben, nur mit anderen Vorzeichen: Stammeskonkurrenzen, soziale Konflikte, Förderung von Schwarzen gegen Weiße, Hass auf Migranten.

    Nein, dieser Roman malt die Welt, die er schildert, nicht aus, er eilt durch sie hindurch, von einem Konflikt zum anderen, von einer Trübung der großen Hoffnungen zur nächsten. Das reicht von der Privatsphäre bis in die höchsten Staatsämter. Steve, der von einer jüdischen Mutter abstammt, beobachtet bei der Familie seines Bruders die Rückwendung zur Religion. Seine Frau Jabu, die Anwältin, sieht mit Befremden, wie ihr Vater, der ihr einst gegen alle Tradition eine Ausbildung ermöglicht hatte, plötzlich in die alten Gefühle von Stammesloyalitäten zurückfällt. Die Flüchtlinge aus Simbabwe werden abgelehnt und ausgegrenzt. Die Arbeitsbedingungen in der Industrie sind so schlecht wie die Löhne; statistische Prozentzahlen zu solchen und anderen Fakten unterstreichen die Informationsdichte des Erzähltextes. Politischer Wille schickt immer mehr junge Leute auf die Universitäten, doch an den Bildungsvoraussetzungen und am Geld fehlt es dramatisch. Gewalt und Brutalität zeigen sich nicht nur an den sozialen Rändern, sondern umso erschreckender bei üblen Machtspielen in Schulen und Universitäten. Und an der Staatsspitze waltet ein Präsident, der wegen Betrug und Korruption vor Gericht stand, der sich mit archaischer Rhetorik hervortut und der, immun gegen Aufklärung und Wissenschaft, nach promiskuitivem Sex die Gefahr der AIDS-Ansteckung durch eine gründliche Dusche bekämpft. Eines Tages entschließen sich Jabu und Steve, die ehemaligen Apartheid-Aktivisten, wie viele andere, mit ihren Kindern in Australien eine bessere Zukunft zu suchen. Ihre Entmutigung hat alle Zuversicht aufgezehrt.

    Ach, diese verfluchte Litanei, das "bessere Leben", wie oft muss man damit vor die Toten hintreten, die Genossen, die für das neueste Dienstwagenmodell von Mercedes gestorben sind, für die Herrschaftsvillen als Winter- oder Sommersitz, die Millionenprovisionen aus Waffengeschäften und Aufträgen zum Bau von Wohnungen, deren nagelneue Wände alsbald in sich zusammenfallen, als wären sie uralt. Wer hätte denn in seinen schlimmsten Träumen geahnt, dass man so enden könnte, angewidert, beraubt aller Hoffnungen und Hoffnungsträger.

    Auch ehemalige Freiheitskämpfer erweisen sich, wenn sie erst einmal an die Macht gekommen sind, nicht unbedingt als die besseren oder klügeren Menschen. Diese universal gültige Einsicht dekliniert Nadine Gordimer für das neue Südafrika durch und es gelingt ihr plausibel, die Vielzahl der Themen in den Wahrnehmungshorizont ihrer Protagonisten zu rücken. Ihr Erzählgestus ist souverän und entschieden, der Perspektivwechsel zwischen szenischen Nahaufnahmen, Erzählerreflexion und Dialogstrecken wird routiniert gemeistert.

    Trotzdem liegt die Bedeutung dieses Romans weniger in der erzählerischen Gestaltungskraft als im passionierten Blick auf die Zustände der südafrikanischen Gesellschaft. Nadine Gordimer moralisiert nicht, aber eine stille gezügelte Empörung flammt immer wieder auf. Genau wie ihre Figuren will die Autorin wissen: Was passiert da, woher kommen diese Rückschläge, warum sind die destruktiven Kräfte so mächtig?

    Diesen sozialen, politischen Fragen geht Nadine Gordimer freimütig und vorurteilslos nach. Und das ist es vor allem, was ihren Zeitroman aus dem heutigen Südafrika lesenswert macht.

    Nadine Gordimer:
    Keine Zeit wie diese. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Berlin Verlag, Berlin 2012. 510 Seiten, 22,99 Euro