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Zwischen Farce und Tragödie

Das literarische Moskau beschäftigt sich im deutschen Herbst der russischen Bücher beinahe ausschliesslich mit sich selbst. Das tut auch der alte Petrowitsch, Wladimir Makanins "Held unserer Zeit". Makanin hat sich mit diesem Roman an die Spitze der letzten literarischen Generation der Sowjetunion gesetzt, aber seltsamer Weise hat er sich dazu in die Rolle des Grabredners jener Verfemten und Verkannten, der Ungedruckten und vom sowjetischen Regime Verfolgten begeben müssen, zu denen Makanin selbst nie gehörte. Auch wenn er wie alle den Schikanen der Zensur ausgesetzt war, wurde er doch gedruckt und in der DDR übersetzt. Doch von dem mythischen Leseland Sowjetunion, in dem einfache Arbeiter an Kiosken nach dem neuesten Roman von Aitmatow, einem Bändchen mit Gedichten von Jewtuschenko, der neuesten Ausgabe der Literaturnaja Gaseta Schlange standen, bleibt bei Makanin nur die Schlange – sie steht jetzt vor der Bäckerei. Kein Zweifel, der ehemalige Sowjetschriftsteller Makanin, Jahrgang 1937, macht sich lustig. Über sich selbst, über die neuerdings im Westen gefeierten Kollegen, über die goldenen sechziger und siebziger Jahre der Sowjetliteratur, in denen sie alle zusammen gross wurden.

Beatrix Langner | 15.12.2003
    Drei Jünglinge gehen durch die Straße, jeder hat eine Erzählung oder Novelle unterm Arm sie reden über Dostojewski und Joyce schwärmen von der Zeitschrift "Nowy Mir" –diskutieren aufgeregt und ein bißchen verrückt, dabei stossen sie blindlings mit den entgegenkommenden Passanten zusammen....In jeder Straße und jeder krummen Gasse gehen sie, folglich gehen Tausende, Zehntausende ihres Schlags durch die Straßen von Moskau, Piter, Nischni Nowgorod, Rostow, Tscheljabinsk... was sind sie? Soldaten der Literatur, eine Armee.

    Doch anders als seine Kollegen Viktor Pelewin, Wladimir Sorokin oder Dmitri Prygow weicht Makanin nicht in die surreale Groteske oder in die fiktionale Übertreibung aus; er schreibt weiter, wie er immer schrieb seit 1965, ein Beobachter des Alltagslebens, ein Porträtist der russischen Laster und Leidenschaften, ein Stadtgänger mit den Facettenaugen des Grossepikers. Schon der Roman "Das Schlupfloch", erschienen 1990, verlegte das Panorama der Metropole Moskau in die Tiefen, das Unterbewußtsein der russischen Gesellschaft, legte den traumatischen Untergrund der Volkspsyche frei, schob den gewaltigen Abraum sowjetischer Leidenserfahrungen mit grimmigem Sarkasmus auf den Schuttberg der Geschichte. Minenbeseitigung, Räumungsarbeit im zusammenkrachenden Haus Russland. Das ist auch "Underground oder ein Held unserer Zeit", eine Terrainbegradigung. Dass Makanin seiner Generation von Autoren kaltblütig den Boden unter den eigenen Füssen abträgt, ist das Grossartigste an diesem Roman. Zumindest haben seine verschlüsselten Porträts schreibender Kollegen (einige, wie der gleichaltrige Prygow, sind unter der Camouflage gut erkennbar) den Literaturstreit zwischen den sogenannten slawophilen "Humanisten" (denen Makanin selbst zugerechnet wird) und den postmodernen "Desperados" belebt. Und während der "allesfressende" deutsche Buchmarkt alles abfischt, was nur irgendwie unter das Label Neues Russland passt, versammelt sich in einer Lagerhalle neben dem Moskauer Neuen Verlag eine abgerissene Truppe der letzten russischen Literaten, die wahren Desperados, alternde Graphomanen, menschlicher Abfall sowjetischer Kulturpolitik, Underground.

    Und hier waren die letzten russischen Literaten, vereinzelt, einsam – in welchen Straßen trieben sie sich nun herum womit verdienten sie sich nur ihr Brot! Mit leeren Taschen. Und Literatur im Blut Absurde alte Männer. Soldaten. (...) Über die Jahrzehnte waren ihre Aktendeckel, die sie unterm Arm trugen, an den Kanten zerfleddert, die Bänder waren morsch und hatten die Farbe der Erde angenommen (wie wir alle werden in sie eingehen.) Ein kläglicher Anblick. Die alten Männer schwirrten...vor der Tür herum, so lästig wie Bremsen, Nahkämpfer. Sie waren alt geworden, aber gekommen. Gleich als ich zu ihnen eintrat, schluckte ich diese uralte, klebrige Bitterkeit unserer Eitelkeit.

    "Underground" ist angefüllt mit fast hundert Figuren, die zusammengehalten werden von dem moralphilosophischen Kleister russischer Seelenschau und der turbulenten städtischen Topografie des Moskau von 1991. Denn ein Russe ist noch nicht Russland, aber bei zwei und einer Flasche Wodka sind sofort tausend Jahre seit der Kiewer Rus um das einzige Glück versammelt, das Russland noch nie verlassen hat: das Glück der Gemeinschaft. Petrowitsch ist die Zeit selbst, in der sich alle Zeiten mischen. Und es ist Petrowitsch, der als Mörder und als Opfer, als Schriftsteller und als wodkaseliger Schwadroneur, als Penner und als ehrlicher Wächter das Glück der Gemeinschaft beschwört, der ewige Undergroundler, der Asket mit der Vorliebe für ältere Frauen mit grossen Wohnungen und grossen Busen. Das Martyrium des nicht-schreibenden Schriftstellers, der den Moment verpasst hat, mit seinen unterdrückten Werken hervorzutreten, beginnt erst, als das Wohnheim, in dem er als Wächter fremder Wohnungen sein Dasein fristet, ein labyrinthischer Achtgeschosser mit tausenden Wohnungen und unbeleuchteten endlosen Gängen am Rande Moskaus, privatisiert wird. Petrowitsch öffnet sein Bewußtsein Schritt um Schritt der Erkenntnis, dass sein existentielles Opfer für die Literatur, ein missglücktes Leben in Armut und Elend, im neuen Russland nicht gebraucht werden würde.

    Ich sollte darauf vertrauen daß Leute wie ich für irgendwelche besonderen Ziele und irgendeinen höheren Plan jetzt ( in dieser Zeit und in diesem Russland) unbedingt leben müssten, ohne Anerkennung und ohne Namen, aber befähigt, Texte zu verfassen. Underground. Man sollte versuchen ohne das Wort zu leben, andere lebten ja auch, man sollte es riskieren, schweigend zu leben oder nicht, das war hier die Frage, und ich war einer der ersten. Ich erblickte in meiner Nichtanerkennung keine Niederlage, sondern den Sieg. Erkannte darin die Tatsache, daß mein Ich über die Texte hinausgewachsen war. Ich schritt weiter. Und als nach Gorbatschows Veränderungen Menschen des Undergrounds hier und dort aus dem Untergrund heraussprangen, sich kurz besannen und dann bei Tageslicht mit aller Kraft einen Namen machten (und zu Sklaven dieses Namens, zu Invaliden der Vergangenheit wurden), da blieb ich einfach ich.

    Also geht das absurde Ich von Petrowitsch, dem Helden seiner Zeit, hinunter auf die Strasse und mordet einen der kaukasischen Markthändler vor dem Wohnheim, als der ihm seine letzten Rubelscheine abnehmen will, weil sein Ich, der Literatur entbunden, die Demütigungen nicht länger hinnehmen will – denn wozu würde es lohnen – und ersticht bald darauf auch den alten KGB-Schnüffler Tschubik. Den Ermittlungen der Miliz entzieht er sich in ein Irrenhaus. Petrowitsch, der Intellektuelle der aus dem plot seines Lebens aussteigen oder – zwischen Reue und Rechtfertigungszwang – wenigstens zwischen Literatur und Leben unterscheiden möchte und dem gerade das nicht gelingt. Denn was er sein Ich nennt, das er über die Zeiten gerettet zu haben meint, ist nichts als ein matter Abklatsch der Helden der russischen Literatur.

    Der einzige kollektive Richter vor dem ich (manchmal) gerne abends Rechenschaft ablegen würde, ist genau dasselbe, womit sich mein Kopf vor knapp fünfundzwanzig Jahren beschäftigt hat: die russische Literatur, gar nicht mal die Texte selbst, nicht ihre hohe Qualität, sondern justament ihr hoher Nachhall.

    Und wie es nachhallt, schallt es aus Petrowitsch wieder heraus. Petrowitsch - ein Anagramm von Lermontows Held unserer Zeit Petschorin - durchwandert mit den drei Höllenkreisen seines Martyriums – Wohnheim-Obdachlosenasyl-Irrenanstalt – zugleich zweihundert Jahre russisch-sowjetischer Literatur. Mit Kapitelüberschriften wie "Krankenstation Nr. 1 oder "Ein Tag des Wenedikt Petrowitsch", mit Paraphrasen auf die russischen Klassiker von Gogols "Mantel" bis zu Bulgakows "Hundeherz" schickt Makanin seinen Helden durch eine literarische Zeitreise.

    Literatur als Suggestion, als grosses Virus. (Jene Literatur arbeitet immer noch in uns.) Aber du sollst nicht töten auf Buchseiten ist noch nicht Du sollst nicht töten im Schnee.

    Sein größtes Verbrechen aber begeht Petrowitsch an seinem Bruder Wenja, der ,seit 30 Jahren in der Psychiatrie eingesperrt, ein Schatten seines früheren genialen Selbst als Maler geworden ist. Ihm gehören die letzten Seiten des Buches. Er lässt ihn dort, holt ihn nicht heraus, hegt ihn als Märtyrer des eigenen Mythos.

    Soll mir doch die russische Literatur wie ich sie aus der Schule kenne, ins Ohr schreien, brüllen, aber was schreit sie eigentlich? Aus welcher Hälfte des 19. Jahrhunderts schreit und brüllt sie mich an? Aus der Duellhälfte? Oder aus der Büßerhälfte?

    Puschkin oder Dostojewski? Literatur als Genugtuung oder Rechtfertigung? Wie die Figur des Petrowitsch wandelt Makanins Roman auf dem erhabenen Grat zwischen Karikatur und neuem sozialem Realismus. Mit ihm endet der Mythos der russischen "Gottesnarren und Spassmacher", die, von den Machtregimen unabhängig, die Eitelkeit des Namens verachteten. Was als Tragödie anfing - man denke nur an Zwetajewa, an Mandelstam, Pasternak – endet wie immer als Farce. Damit hat Makanin ein gewichtiges Wort zur Lage der Intellektuellen im neuen Russland gesprochen.

    Wladimir Makanin
    Underground oder Ein Held unserer Zeit
    Luchterhand, 701 S., EUR 25,-