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Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung

Der Österreicher Arthur Schnitzler zählte zu den einflussreichsten deutschsprachigen Schriftstellern des frühen 20. Jahrhunderts. Vor allem als Dramatiker machte er sich einen Namen: In seinen Stücken scheute er nicht vor Tabus zurück, auch wenn ihm das wie im Fall der Uraufführung von "Der Reigen" einen Prozess wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses einbrachte. In den Siebzigern, lange seinem Tod 1931, wird Schnitzler neu gelesen und wiederentdeckt.

Von Reinhardt Stumm | 21.10.2006
    Eine Woche nach dem Tod des Wiener Schriftstellers Arthur Schnitzler am 21. Oktober 1931 erschien dieser Nachruf im Völkischen Beobachter, München:

    "Arthur Schnitzler, bekannt durch zahlreiche Stücke (Anatol, Liebelei, Der grüne Kakadu) und Novellen (Leutnant Gustl, Fräulein Else) ist, wie wir bereits meldeten, dieser Tage gestorben. Literarisch war der bekannte jüdische Autor schon längere Zeit, seit etwa zehn bis zwölf Jahren, tot. Die breitere Öffentlichkeit hörte anlässlich des 'Reigen'-Skandals das letzte Mal von ihm. Um 1900 konnte ein Klassiker der Süße-Mädel-Dramatik allenfalls imponieren, heute interessiert er nicht einmal mehr."

    Ein Nachruf jener Art, die Schnitzler schon dreißig Jahre früher schwachköpfig, scheelsüchtig und böswillig genannt hatte. "Süße-Mädel-Dramatik" spielt an auf "Liebelei", ein Schauspiel in fünf Akten, 1895 uraufgeführt. Mizi und Christine sind die süßen Mädels in diesem Stück, das Alfred Kerr, den vermutlich meistgehassten unter den deutschen Kritikern, 1896 geradezu hemmungslos schwärmen ließ:

    " Dämmernde kleine Stuben mit Blumen vor dem Fenster; schlichte Schattenrisse tauchen auf, liebe blasse Mädchengestalten, zarte, gesenkte Köpfe, lautlos öffnet ein blasser, eleganter Herr die Tür und blickt hinein mit melancholisch-witzigem, etwas müdem, aber innigem Ausdruck. Alles flutet durcheinander: Innigkeit und Eleganz, Weichheit und Ironie, Weltstädtisches und Abseitiges, Lyrik und Feuilletonismus, Lebensraffinement und volksmäßige Schlichtheit, Österreichertum und Halbfranzösisches, Schmerz und Spiel, Lächeln und Sterben." "

    Wenn wir nur einen halben Schritt seitwärts gehen, zum etwa gleichzeitig entstandenen "Anatol"-Zyklus mit seinen sieben Einaktern, erkennen wir Schnitzlers Werkstatt. Hugo von Hofmannsthal schrieb Schnitzler den Prolog zu "Anatol". Da spiegelt sich noch der artifizielle Lebensstil einer auserlesenen Minderheit von Ästheten. Schnitzlers Wien war das Wien der durchschaubaren Maskeraden, die Kulisse verlor ihre Verführungskraft. Jetzt paaren sich Sehnsucht und Kitsch mit seelischer Not, Rührseligkeit mit Verlogenheit, Koketterie und Lüsternheit mit Lebensangst und der Flucht in den Tod, wie in der 1924 erschienenen Erzählung "Fräulein Else" - Käthe Gold in einer Hörspielfassung:

    " Sie hat sich selber umgebracht, werden sie sagen. Ihr habt mich umgebracht, ihr alle, ihr alle! Hab' ich es endlich? Geschwind, geschwind! Ich muss. Keinen Tropfen verschütten. So. Es schmeckt gut. Weiter, weiter. Es ist gar kein Gift. Nie hat mir was so gut geschmeckt. Wenn ihr wüsstet, wie gut der Tod schmeckt! Gute Nacht, mein Glas. Klirr, klirr! Was ist denn das? Auf dem Boden liegt das Glas. Unten liegt es. Gute Nacht. "

    Erst lange nach Schnitzlers Tod wird seine Arbeit neu gelesen. "Liebelei", in einer Inszenierung von Hans Hollmann am Theater Basel, war 1974 der Anfang einer Schnitzler-Renaissance, die zu seiner Neugewinnung führte. Es war, anders als bei Kerr, mehr Sterben als Lächeln. Es war, im Jargon jener Jahre, die Öffnung der "gesellschaftlichen Dimension" der Stücke.

    Lebenslügen nicht mehr als willig entrichtetes Entree in die großbürgerliche Gesellschaft, Lebenskrisen nicht als Strafe für Haltungsschwäche, sondern zur Erkenntnis der Brüche zwischen innerer Wahrheit und äußerer Wirklichkeit.

    Schnitzlers Stücke als Darstellung des tragischen Konflikts zwischen Fremdbestimmung - durch autoritären gesellschaftlichen Comment, normative Lebensregeln, Moden und Sitten - und dem Begehren nach Selbstbestimmung.

    Es entstand ein ganz neues Verständnis für Schnitzlers Theater - bis in die zwanziger Jahre zogen die bewunderten Stars in den Schnitzlerschen Glanzrollen - berühmt war Albert Bassermann als Sala in "Der Weite Weg" - alle Energien der Texte an sich und zerstörten das Widerspiel gegenläufiger Kräfte. Jetzt trat das Ensemble in seine Rechte, der Blick für die tragischen Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft öffnete sich.

    Schnitzlers Zeitgenossen ehrten und verwehrten. Der Dichter wurde ausgezeichnet - Raimundpreis, Grillparzerpreis, Volkstheaterpreis, er war Ehrenpräsident des österreichischen PEN, der Akademie der Bildenden Künste -, dafür wurde ihm der Offiziersrang aberkannt, musste Schnitzler - wie im berühmten "Reigen"-Prozess - vor den Richter, verbot die Zensur seine Stücke, immer wieder.