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Zwischen Gunst und Gewalt

Auch im Nationalsozialismus erfreute sich Fußball großer Beliebtheit. Neuere historische Forschungen zeigen sogar: Selbst in den Konzentrationslager wurde Fußball gespielt. Für die Häftlinge war er Ablenkung und Bedrohung zugleich. Doch auch die Nazis verbanden mit dem runden Leder ihre ganz eigenen Interessen.

Von Patrick Stegemann | 10.12.2011
    "Der Ball wanderte von Fuß zu Fuß und kehrte in einem Bogen vors Tor zurück. Ich wehrte ihn ab, aber er ging ins Aus - Ecke. Wieder ging ich ihn holen. Als ich ihn aufhob erstarrte ich: die Rampe war leer... Ich ging mit dem Ball zurück und gab ihn zur Ecke. Zwischen zwei Eckbällen hatte man hinter meinem Rücken dreitausend Menschen vergast."

    Mit diesen eindringlichen Worten beschreibt Thadeuz Borowski in der autobiografischen Geschichte "Menschen, die gingen" die verstörende Nähe von Vernichtung und - Fußball.

    Schwer vorstellbar - doch in fast allen Konzentrationslagern der Nazis wurde Sport betrieben.
    Sport diente anfangs vor allem der Demütigung, war Mittel der Strafe und Züchtigung. An diese Art von "Sport machen" erinnert sich auch Thomas Geve, der als Jugendlicher Auschwitz, Groß-Rosen und Buchenwald überlebte und heute in Israel wohnt.

    "Wie mussten Strafsport machen. Da mussten wir uns auf dem Boden rollen, in die Luft springen und Körperübungen machen, das kam sehr oft vor."

    Doch neben der Folter durch Sport gab es fast überall auch organisierte Sportveranstaltungen: Boxen, Turnen - und vor allem Fußball. Lange war über diese Seite des Lageralltags kaum etwas bekannt. Überlebende der Konzentrationslager fürchteten wohl auch, Geschichten über Fußball und Sport im Lager würden den Eindruck erwecken, dass es eigentlich gar nicht so schlimm gewesen sei. Auch für Historiker galt das Thema lange als heikel. Sport als Inbegriff von Gesundheit und Stärke passt nicht in die Vorstellung der Vernichtungslager.

    Erste Hinweise auf organisierten Sport gibt es dabei eigentlich schon lange. Eugen Kogon berichtet davon bereits 1946 in seinem Buch "Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager". Noch heute gilt es als das Standardwerk über die NS-Verbrechen. Dort schreibt Kogon, der selbst Gefangener in Buchenwald war:

    "Sie brachten es fertig, von der SS-Führung die Erlaubnis zum Fußballspiel zu erhalten. Die SS scheint es als eine Art Reklameschild für den guten Zustand der Häftlinge angesehen zu haben. Es bildeten sich mehrere Mannschaften, anfangs auch eine Judenmannschaft, die später verboten wurde."

    Kogons Schilderungen zeigen vor allem eines: Fußballspielen im KZ war auch eine spezielle, sehr perfide Form der NS-Propaganda. Beispielhaft dafür ist ein Propagandafilm, den die Nazis 1944 über das Konzentrationslager Theresienstadt drehten. Der Film wurde bekannt unter dem Titel "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" und sollte die Weltöffentlichkeit glauben machen, dass die Juden in Theresienstadt ein normales Leben führten, in dem es an nichts fehle. Darin: eine Fußballszene im Hof der so genannten Dresdner Kaserne.

    "Oft kennt der Strom der Einkehrenden nur eine Richtung: zur größten Sportwettkampf in Theresienstadt - dem Fußballwettspiel. Wegen des etwas beschränkten Spielraumes sind die Mannschaften nur jeweils sieben Mann stark. Trotzdem wird von Anfang bis zum Ende den begeistert mitgehenden Zuschauern ein hartes Spiel geliefert."

    Gestellt war diese Szene - im Gegensatz zu anderen Teilen des Film - nach Zeitzeugenaussagen nicht. Denn tatsächlich: In Theresienstadt gab es eine eigene Fußballliga, die regelmäßig Meisterschaften austrug. Eine eigens gegründete "Fachgruppe Fußball" kümmerte sich um das Regelwerk, eine Schiedsrichterkommission bildete die Unparteiischen aus. Die Begegnungen lautete zum Beispiel Kleiderkammer gegen Ghettowache oder - nach der Herkunft der Häftlinge - Praga gegen F.C. Wien.
    Sogar eigene Sportmagazine wurden herausgebracht, von denen eines erhalten blieb: die heimlich angefertigte Kinderzeitschirft "rim rim rim". Der Titel entstammt dem Anfeuerungsruf einer Jugendmannschaft in Theresienstadt: "Vorwärts Adler, rim, rim, rim". In tschechischer Sprache gab es dort eine weitreichende Berichterstattung über die Spiele der Jugend und der Erwachsenen in Theresienstadt - in der Auflage einer handvoll kopierter Exemplare.

    So organisiert wie in Theresienstadt war der Fußball in anderen Konzentrationslager nicht. Nichtsdestotrotz: Fast überall wurde gespielt - vor allem in der zweiten Phase des Krieges.

    "Ab 42 war es dann in einigen Konzentrationslager ein Privileg, Fußball spielen zu dürfen. Besonders für diejenigen Häftlinge, die in besonders protegierten Arbeitskommandos waren."

    Sagt Veronika Springmann, die an der Humboldt Universität in Berlin über Sport im Konzentrationslager forscht.

    "Ab 42 verändert sich ja für die Häftlinge die Situation in den Konzentrationslagern, nicht für alle muss man natürlich immer sagen, aber für einige. Weil die Arbeitskraft für die Rüstungsindustrie so wichtig wird. Und als Anreizsystem wird dann das Fußballspielen erlaubt. Und Sonntagmittags meist finden dann Fußballspiele auf irgendeinem großen Plätzen statt."

    1942 führte Heinrich Himmler, Reichsführer der SS, ein Prämiensystem für Häftling ein- mit dem Ziel, die Arbeitsmoral zu steigern und für die Rüstungsindustrie auszubeuten. Teil dieses Plans war auch das Fußballspielen - für fast alle Lager finden sich Belege dafür: neben Buchenwald ebenso für Sachsenhausen oder Mauthausen - und auch Auschwitz. Dort lag der Platz direkt neben dem Krematorium.

    Keinesfalls durften alle Häftlinge Fußball spielen, Judenmannschaften waren meist verboten, in manchen Lagern gab es erst gar keine Sporveranstaltungen. Wer spielen durfte und wer nicht, entschied die SS: Vor allem jungen, kräftigen, männlichen Gefangenen wurde diese "Gunst" zu teil. Mit Kalkül: Die Historikerin Springmann nennt dies das System von "Gunst und Gewalt", mit dem die Nazis den Lageralltag beherrschten.

    "Also dahinter steht immer dieses Grundprinzip des divide et impera- also teile und herrsche. Und damit die Möglichkeit zu haben, die Häftlingsgemeinschaft wirklich auszusortieren. Für einige gilt dieses Angebot: ihr dürft Fußball spielen, ihr habt die Möglichkeit in bessere Arbeitskommandos zu kommen. Und für andere wiederum nicht. Und für andere hätte es diese Möglichkeit auch nie gegeben."

    Die "Gunst" des Fußballspiels konnte auch in ihr Gegenteil umschlagen: in nackte Gewalt. So gab es laut Veronika Springmann auch Fälle, in denen entkräftete Häftlinge zum Spiel gezwungen wurden - zur Belustigung der Wachmannschaften.

    Für manche KZ-Häftlinge bedeutete Fußballspielen unabhängig vom System "Gunst und Gewalt" schlicht: überleben.

    Überliefert ist die Geschichte des österreichischen Profis Ignaz Feldmann, der in einem Nebenlager von Auschwitz von einem SS-Unterscharführer erkannt wurde - beide spielten vor dem Krieg in der ersten österreichischen Liga. Dieser Umstand machte aus Feldmann einen Protegé der SS und ließ ihn überleben.

    Fußball bot für Spieler - aber auch Zuschauer - die Möglichkeit, für wenige Augenblicke der Allgegenwart von Gewalt und Vernichtung im Lager zu entfliehen, sich für die Länge eines Fußballspiels in eine Parallelwelt zu begeben. Und mehr noch: Fußball konnte auch als eine Art innerer Widerstand den Häftlingen Kraft geben, glaubt Veronika Springmann.

    "Dass sie das tatsächlich als eine Form von widerständigem Handeln verstanden haben oder als eine widerständige Praxis. Und zwar in mehrere Richtungen: Zum einen deswegen, weil sie so Kontakt hatten mit anderen Häftlingen und sich so etwas wie eine Solidarität entwickeln konnte. Aber auch, weil genau das, was im Konzentrationslager zerstört werden sollte, der Körper, wieder gestärkt wurde, durch das Fußballspielen."

    Fußball ist ein Massenphänomen, das auch vor den Toren der Konzentrationslager nicht haltmachte. Vielleicht konnte es gerade deshalb missbraucht werden: als Macht- und Propagandainstrument der Nazis.

    Angesichts des Leids und Elends in den Konzentrationslager konnte Fußball aber eben auch Trost und Ablenkung verschaffen - zumindest für die Länge eines Spiels.