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Zwischen Heiterkeit, Durchhaltewillen und schwärzester Resignation

In Christian Enzensbergers Nachlass fanden sich, so berichtet sein Verleger Michael Krüger, Tausende, überwiegend handschriftliche, Seiten zu einer umfassenden Naturphilosophie. Im Vergleich zu diesem gewaltigen Konvolut nimmt sich sein veröffentlichtes Werk fast schmal aus.

Von Joachim Büthe | 20.09.2010
    Er hat sich nie mit den Gartenzäunen abgefunden, mit denen die einzelnen Disziplinen, die Denkschulen und Schreibweisen, Wissenschaft und Literatur, voneinander separiert werden. Wer so denkt und zudem gründlich und skrupulös arbeitet, bei dem dauert es seine Zeit, bis etwas zur Veröffentlichung reif ist. Eins nach dem andern.


    "Ich entschloss mich, ein Gedicht über die Lautäußerungen des Haushuhns zu verfassen. Beim Huhn äußern sich nämlich innere Stimmungen mit großer Verlässlichkeit in den Lautäußerungen gock, gack und gook. Das Gedicht zeigt das Huhn im Konflikt, der sich aber gegen Ende zu löst. Ich nannte das Huhn nicht Huhn, sondern Groß-H-Punkt, um anzudeuten, dass das Huhn vielleicht nicht als Einziges in derartige Konflikte kommt. Ich war jedoch darüber im Klaren, dass ich damit etwas Unbewiesenes unterstellte."

    Dieser Text entstammt nicht seiner Naturphilosophie, sondern seinen nun vorliegenden nachgelassenen Prosagedichten. Das eigentliche Gedicht folgt auf dem Fuß, und es gehört zu den komischen Glanzstücken, die besonders im ersten Teil des Buches sich ballen, aber auch später immer wieder eingestreut werden. Zwischendurch ruft sich der Autor zur Ordnung, zur Sache, obwohl die komischen und grotesken Passagen bereits zur Sache gehören.

    "Beim zweiten Mal steht auf der Straße ein verknäuelter Blechhaufen und Glassplitter liegen herum und aus dem Blechhaufen tropft eine Mischung von Blut Benzin Öl Wasser in die Glassplitter und macht darin einen Fluss mit Inseln und dann zieht sich der Fluss in den Blechhaufen zurück und dann dehnt sich das Blech und dann fliegen die Glassplitter auf und setzen sich zu einer Scheibe zusammen und dann läuft das Autoradio und dann läuft der Motor und dann richtet sich der Betreffende auf und dann fährt der Betreffende zur nächsten Tankstelle und tankt."

    Prosagedichte und reflexive Passagen bilden eine Einheit. Sie kommentieren sich gegenseitig, "Eins nach dem andern" beschreibt kein lineares Programm.

    "Ich las das dann noch einmal und überlegte mir, was darin vorkam, und dann dachte ich, kann sein es hat jetzt angefangen, es steckt zwar immer noch voll von ausgedachtem Zeug, aber kann sein es hat trotzdem angefangen, vielleicht hast du jetzt wenigstens stellenweise etwas Zutreffendes gesagt, und dann schrieb ich ein Gedicht über die Veränderbarkeit der Person."

    Wie hier auf ein Thema hingeführt wird und scheinbar wieder von ihm weg, das erinnert stellenweise an den Erstling "Größerer Versuch über den Schmutz", obwohl die Prosagedichte nicht so vielstimmig orchestriert sind. Hier spricht nur der Autor selbst. Er verschränkt aberwitzige Betrachtungen über Dinge und Pflanzen mit Fragen der Poetik, beides wiederum mit dem Zustand der Welt, der wiederum unvermeidlich eindringt in die eigene Person und diese zersetzt. Was zu Beginn mit der spielerischen Bemerkung einsetzt, wenn man schon tagelang aus dem Fenster sehe, könne man ja auch Naturgedichte schreiben, wird zusehends existenzieller. Christian Enzensberger reflektiert eine Antriebslosigkeit, die aus dem fehlenden Glauben an den Sinn des eigenen Handelns entsteht.

    "...das heißt, das Ganze lief zunehmend auf ein nicht mehr unterbrochenes Nullverhalten hinaus, und dabei war es dann die ganze Zeit klar und war im Maß dieses Verhaltensrückgangs zunehmend klarer, dass ich nach wie vor sehr viel konnte, dass ich soviel wollte wie vorher auch, ich wollte und konnte nach wie vor alles, und das war es ja dann gerade, was die Masse der Hinderungsgründe erst auf diese Weise zunehmen ließ."

    Neben den Prosagedichten enthält der Band einen fragmentarisch gebliebenen Essay mit dem Titel "Die Verbesserung". Darin schildert Christian Enzensberger wie aus dem Wunsch, das Studium zu verbessern und zu reformieren all die vielen Gremien entstehen zwischen denen das Fach schließlich zermahlen wird. Ein schleichender Prozess, der die Lehrenden ebenso beschädigt wie ihre Lehre.

    "Zuletzt fand ich selbst kaum mehr zu ihr durch. Natürlich stand ich weiter 'dahinter' – wohinter denn sonst. Aber in meine Sätze kam ein falscher Ton, als wären sie in einer Umgebung gesprochen, wo sie nicht hingehörten, als hätte ich angefangen, im Zirkus eine Bußpredigt zu halten oder in der Kirche Schwerter zu schlucken. Ich klang nicht mehr wie ein 'richtiger' Lehrer, sondern wie einer, der gezwungen war, den Lehrer nur noch zu spielen. Meine Rolle war beim Teufel, war als Rolle durchsichtig geworden und machte alles unglaubhaft, was ich je in ihr vortragen würde."

    Man wird von diesem Buch und seinem Autor hin- und hergerissen zwischen einer Heiterkeit, die sich kaputtlachen will über unsere Welt, zwischen Durchhaltewillen und -vermögen und schwärzester Resignation. Es ist ein sinnliches und intellektuelles Vergnügen, noch einmal etwas von Christian Enzensberger lesen zu dürfen, und es gibt in seinen anderen Büchern noch einiges zu entdecken. Wenn dies geschähe, dann könnte dies seine Resignation postum zumindest aufhellen. Sehr wahrscheinlich ist es leider nicht.


    Christian Enzensberger: Eins nach dem andern.
    Gedichte in Prosa
    Carl Hanser Verlag (Edition Akzente),
    80 S., brosch., EUR 12,90