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Zwischen Jerusalem und Tel Aviv

Eine Jerusalemer Familie verbringt die Sommermonate am Meer in Tel Aviv: für den Vater eine Abwechslung zur Arbeit als Busfahrer, bei der er mit tödlichen Anschlägen rechnen muss. In "Die Zeit wird es zeigen" schildert Mira Magén die innerisraelischen Spannungen. Ein lebensbejahender, unterhaltsamer Roman.

Von Sigrid Brinkmann | 08.04.2010
    Das vierte Jahr in Folge verbringt eine Jerusalemer Familie die Sommermonate in Tel Aviv. Mit einer Imbissbude am Meer lässt sich leichtes Geld verdienen. Noch wichtiger aber ist dem Familienvater, die Arbeit als Busfahrer der landesbekannten Linie 18 für eine Weile zu unterbrechen. Auf Busse dieser Linie sind immer wieder tödliche Anschläge verübt worden. Michael Chajat träumt davon, nach Amerika auszuwandern. Weil er davon überzeugt ist, dass man mit einem biblischen Vornamen höchstens einen Lebensmittelladen oder eine Lottobude eröffnen könne, wird aus Michael Chajat Mike Taylor. Er ist der Vater der missgebildeten, hinkenden Anna, der schönen Naomi, des quirligen Tom und Ehemann der selbstbewussten Cheli.

    Gleich zu Beginn des Romans verursacht die behinderte Tochter einen Unfall. Durch sie stürzt der kleinere Bruder und erleidet eine schwere Kopfverletzung. Anna verheimlicht ihren Anteil am Unglück. Die fromme Verwandtschaft der Taylors betet für das im Koma liegende Kind, doch Mira Magén setzt ganz auf die Kraft des zuversichtlichen Mike.

    "The biggest challenge was Anna but the one which I love most is Mike. He is the ultimate hero, yes."

    Jeder andere mit einer behinderten Tochter und einem bewusstlosen Sohn wäre völlig am Boden zerstört gewesen, aber Mike war es nicht. Er rauchte zartbittere Zigaretten, pinkelte ins Meer und spuckte in hohem Bogen, er sagte: "Fucking day!", er sagte: "Solange man lebt, lebt man." Er sagte, er hätte Amerika noch nicht ganz begraben.

    Der Mensch, davon ist Mira Magén überzeugt, sucht sich seine Wege zum Glück "zwischen den Minen, die Gott gelegt hat". Aber was ist der Mensch? In den Augen ihres Helden Mike: eine Null, nicht viel mehr als der Schiss einer grünen Fliege.

    Für seine orthodox lebende Schwägerin hingegen bleibt der Mensch die Krönung der Schöpfung. Für Cheli zeichnet er sich durch seinen freien Willen aus. Doch ist sie selber bereit, für ihre Handlungen und Ausbrüche aus dem familiären Korsett zu zahlen?

    Bei Mira Magén versanden solcherart Fragen nie in allgemeinem Geplänkel. Dass sie Antworten immer in konfliktreichen Begebenheiten erprobt, macht ihre Stärke als Erzählerin aus. Die größtmögliche Reibung entsteht, wenn sie die Lebensführung weltlich eingestellter und frommer Juden aufeinanderprallen lässt. Die einen verleugnen die Macht des Eros, die anderen leben in der Überzeugung, dass "ein Mensch eben nie genug bekommt".

    Heftig gestritten wird auch über den postulierten Sinn und die Zeichenhaftigkeit von Schicksalsschlägen wie menschlichen Begegnungen. Dass der Umgang mit körperlichen Leiden einen breiten Raum in ihrem Roman einnimmt, ist Mira Magéns reicher Erfahrung als Krankenschwester geschuldet.

    "Ich habe gesehen, wie das körperliche Befinden die seelische und mentale Verfassung steuert und beherrscht. Leute, die klar dachten und voller Lebensgier waren, versanken regelrecht, als der Körper sie im Stich ließ. Mich interessieren Leute mit einer angeborenen körperlichen Schwäche, die nicht wie die Geistesgestörten sagen können: Nun, ich bin halt so, weil das Leben mir zwei, drei heftige Schläge versetzt hat. In der westlichen Welt reden wir so viel über psychische Defekte, und wir sind ungemein wortgewandt, aber einem körperlichen Defekt kommt man nicht mit Worten bei. Die Spannung zwischen dem Geist und den Grenzen, die dir dein Körper aufzwingt, interessiert mich sehr."

    Die Augen ihres Vaters empfindet Anna als Handschellen. Für den 14-jährigen Edisso aber strengt sie sich beim Gehen an, denn er würde ihre ungelenken Versuche, das Gleichgewicht zu halten, nie beobachten. Edisso ist das Kind äthiopischer Einwanderer. Er arbeitet als Aushilfskraft im Imbiss und ermöglicht der Autorin, das Handeln ihrer Figuren von einer Randposition aus zu betrachten.

    Die Passagen, in denen Edisso die rassistischen Demütigungen seiner Geschwister durch Mitschüler wachruft, gehören zu den schmerzhaftesten des Buches. Man spürt die Empathie der Autorin mit den assimilationswilligen schwarzen Juden. Die meisten Selbstmörder in Israel, so Magén, kommen aus der Gruppe der 40- bis 50-jährigen Äthiopier.

    "Das sind Leute, die ihren festen Stand in der Familie verloren haben. In Israel sind sie nicht länger fähig, ihre Kinder zu unterstützen. Das Verhältnis hat sich umgekehrt. Die Kinder sind gebildeter als die Eltern, denen außerdem die Werte und Maßstäbe einer modernen westlichen Gesellschaft völlig fremd bleiben."

    Interessiert, aber nicht wertend beobachtet Edisso das Liebesleben seiner Arbeitgeber. Die Verführungskünste der fettleibigen, lebenslustigen Strandbesucherin Tehila frappieren ihn. Erstaunt nimmt er wahr, dass die schlagfertige Cheli sich von dem Macho-Gehabe eines Fischers beeindrucken lässt.

    Das größte Wagnis aber spielt sich zwischen Mike und seiner frommen Schwägerin ab. Der Rahmen für den zarten Kuss auf den Hals der siebenfachen Mutter ist bewusst profan gestaltet. Mike küsst die Schwägerin vor der Toilettentür einer Tankstelle, auf der Rückfahrt vom Krankenhaus in eine Siedlung der Westbank. Die lang aufgestaute erotische Spannung zwischen dem leichtlebigen Mann und der sittsamen Gottgläubigen löst sich nicht.

    Mira Magén hat einen lebenssatten Roman geschrieben. Das Leben zu wenden, dazu sind bei ihr nur die nicht frommen Charaktere fähig. Sie sind bereit loszulaufen, wenn Gott ihnen von hinten mal wieder einen Stoß versetzt hat. Und manchmal stimmt die Richtung des Weges, den sie ausprobieren.

    Mira Magén: Die Zeit wird es zeigen
    Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
    Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2010, 396 Seiten, 15,40 Euro