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Zwischen Kollaborateuren und Widerstandkämpfern gab es nichts

20 Jahre nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens analysiert Holm Sundhausen, emeritierter Professor für Südosteuropäische Geschichte an der Freien Universität Berlin, Ereignisse, Akteure und Strukturen des Balkankomplexes.

Von Martin Sander | 30.04.2012
    Viele Menschen in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien halten heute den Tito-Staat für ein künstliches Gebilde. Früher oder später habe dieser Staat auseinanderbrechen müssen, glauben sie. Denn er habe zu viele unterschiedliche Nationen, Sprachen, Religionen, Traditionen und politische Kulturen zu vereinigen versucht. Der Berliner Historiker Holm Sundhaussen widerspricht solchen und anderen populären Ansichten über den Untergang Jugoslawiens vehement:

    "Da stellt sich die Frage, was ist ein natürlicher Staat, was ist ein künstlicher Staat? Also, ich gehe davon aus, wenn ein Staat von einem Großteil seiner Bürger zumindest zeitweilig akzeptiert wird und sich dadurch legitimieren kann, dann ist das ein normaler Staat und eben kein künstlicher Staat. Wir haben ja diese Umfragen im ehemaligen Jugoslawien bis ins Jahr 1990 hinein, und diese zeigen, dass ein Großteil der Bevölkerung nicht gegen Jugoslawien war. Das Entscheidende ist, und das haben immer wieder diese vielen Umfragen belegt, dass die meisten an dem Staat Jugoslawien festhalten wollten und dass sie die interethnischen Beziehungen im Großen und Ganzen als zufriedenstellend bewerteten."

    In seinem neuen Buch erzählt Holm Sundhaussen, gestützt auf viel Forschungsliteratur und dennoch allgemein verständlich, die Geschichte des sozialistischen Jugoslawien und seiner Nachfolgestaaten von 1943 bis 2011. Der Zerfall des Vielvölkerstaats war für Sundhaussen kein Endpunkt einer vorhersehbaren und zwangsläufigen Entwicklung. Entscheidend für Sundhaussen ist vielmehr die Rolle der Intellektuellen und der Politiker, die aus eigenen Interessen die Regelwerke, auf denen Jugoslawien aufgebaut war, außer Kraft setzten und nach und nach die Bevölkerung für ihre Ziele mobilisierten. Unter dem propagandistischen Beschuss ihrer Führer habe die Bevölkerung kollektiv ihren Verstand aufgegeben, sagt Sundhaussen, doch wäre es ungewöhnlich gewesen, wenn sie sich unter einem solchen Druck anders verhalten hätte.

    Der Autor erklärt zunächst, warum die Bevölkerung am Ende des Zweiten Weltkriegs einer Neugründung Jugoslawiens unter Führung der Kommunisten überwiegend zustimmte.

    Den Kriegshelden sollten die Helden der Arbeit folgen. Die Kommunistische Partei wollte keinen Steinzeitkommunismus, sondern eine Gesellschaft auf dem modernsten Stand der Technologie.

    Es ging um ein Modernisierungsversprechen und um das nationalitätenpolitische Konzept Titos: Anerkennung und Gleichberechtigung aller Nationen und nationalen Minderheiten. Mit vielen Zahlen belegt Sundhaussen, wie sich Jugoslawien - bei Kriegsende "ein Stück Dritter Welt in der Ersten Welt" - rasch zu einer relativ modernen Industriegesellschaft wandelte. So stieg die durchschnittliche Lebenserwartung zwischen 1948 und 1981 um fast zwanzig Jahre. Es fand eine wahre Bildungsrevolution statt. Es gab keinen Wohlstand für alle, aber einen noch nie da gewesenen Wohlstand für viele. Möglich wurde dies auch durch die Finanzhilfen, die der Westen, allen voran die USA, Jugoslawien gewährten, nachdem Tito 1948 mit Stalin gebrochen hatte. Aus dem Ostblock ausgeschert, schlug Tito den Weg der Blockfreiheit nach außen und der Arbeiterselbstverwaltung nach innen ein.
    Bei aller positiven Bilanz waren die Misserfolge indes nicht zu übersehen. Die Wirtschaft arbeitete zunehmend ineffektiv, die hohe Arbeitslosigkeit und das soziale Gefälle zwischen Nord und Süd blieben. Von Demokratie konnte keine Rede sein. Viele wichtige Themen blieben Tabu, darunter die Wahrheit über die innerjugoslawischen Konflikte im Zweiten Weltkrieg.

    "Man hat ein sehr dichotomes Schema entwickelt: Es gab die Kollaborateure und die Widerstandkämpfer. Dazwischen gab es eigentlich nichts. Und das wird natürlich der Realität des Krieges überhaupt nicht gerecht. So ist vieles unter den Tisch gekehrt worden, das dann im Verlauf der achtziger Jahre wieder an die Oberfläche kam und dann eine sehr emotional aufgeladene Diskussion ausgelöst hat."

    In den 1980er-Jahren wurden die nationalistischen Diskurse, die die Intellektuellen in den einzelnen Republiken schon lange führten, von den Politikern aufgegriffen. Volksverhetzung war an der Tagesordnung, zuerst und vor allem in Serbien.

    "Man muss einen Unterschied machen zwischen einer offenen Diskussion über Tabuthemen, die notwendig ist, und Volksverhetzung. Und das, was in den achtziger Jahren passierte und in den 90er-Jahren dann fortgesetzt wurde, war eben zum großen Teil Volksverhetzung, nichts anderes."

    So sprachen serbische Intellektuelle und Geistliche in den 1980er-Jahren inflationär von einem angeblichen "Genozid" der Kosovo-Albaner an den Serben. Auf solche chauvinistischen Erfindungen reagierten die Institutionen des Staates nicht, obwohl Volksverhetzung auch in Jugoslawien eine Straftat darstellte. Für Sundhaussen lag darin die Ursache des Staatszerfalls. Vor allem das Versagen der Regelwerke habe Ausbruch und Eskalation der Gewalt ermöglicht. Mit dieser These distanziert sich der Autor von anderen, die die Jugoslawienkriege etwa auf eine "balkanische Gewalttradition" zurückführen. Ebenso widerlegt Sundhaussen die verbreitete Behauptung, die Großmächte hätten ein Interesse am Ende Jugoslawiens gehabt. Zugleich geht der Historiker aber mit der Internationalen Gemeinschaft hart ins Gericht, wirft ihr Untätigkeit, Korruption sowie Duldung von Kriegsverbrechen vor. Die Zukunft der Nachfolgestaaten Jugoslawiens sieht er skeptisch:

    Keiner der neuen Staaten wird - auf sich gestellt - die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen können. Und keiner wird jemals die Bedeutung erlangen, die Jugoslawien einst hatte.

    Der Autor hat ein spannend zu lesendes Buch vorgelegt, das nicht nur durch Kenntnis vieler Detailfragen überzeugt, sondern auch durch die Botschaft, die es vermittelt: Nicht uralte Gegensätze zwischen den Nationen hätten Titos einstigen Vorzeigestaat in den Abgrund des Krieges gestürzt, sondern dessen politische Vertreter, die die bestehenden Regeln des Gemeinwesens missachtet hätten. Insofern könnte Jugoslawien überall sein.

    Holm Sundhaussen:
    Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943-2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen, Böhlau-Verlag, 567 Seiten, 59 Euro
    ISBN: 978-3-205-78831-7