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Zwischen Meeresrauschen und Einzelhaft

Es war eines der Wahlkampfversprechen, das Barack Obama 2008 gleich einem Mantra bei jeder Rede wiederholte: Wir schließen Guantanamo. Doch das Internierungslager der Bush-Regierung ist so weit von einer Schließung entfernt wie nie zuvor.

Von Katja Schlesinger | 07.01.2012
    Ein Fliegenschwarm und einige Raubvögel umkreisen den Kadaver eines toten Tieres. Er liegt auf einer Straße, die nur selten befahren wird. Rechter Hand – in einer Tiefebene – erstrecken sich die Käfige von Camp X-Ray.

    Das Lager befindet sich in einer Art Dornröschenschlaf. Um den Stacheldraht ranken sich Blätter, kleine Bäume ragen zwischen den Gitterstäben hervor. Die Natur hat sich ein Stück Land zurückerobert.

    Erica, in gefleckter Navyuniform, erzählt, dass die Anlage nur 92 Tage benutzt wurde, jede Zelle sei acht mal acht Fuß groß, 2,4 mal 2,4 Meter sind das. Erica hört sich an wie eine Touristenführerin. Sie ist Angestellte des Militärs und arbeitet im Pressebüro der Militärbasis. Zu ihren Aufgaben gehört es, Journalisten in Guantanamo Bay von Termin zu Termin zu begleiten. Sie deutet auf das Tor gleich neben einem Wachturm aus Holz.

    "Gleich hinter dem Eingang wurden die Gefangenen untersucht, es wurde gekuckt, ob sie Läuse haben, irgendwelche Krankheiten, sie wurden geduscht, dann bekamen sie Anziehsachen und dann wurden sie in ihre Zelle gebracht. Damals gab es allerdings noch keine richtigen Duschen, das Wasser kam aus Eimern."

    Es ist bedrückend still an diesem verlassenen Ort, an dem vor knapp zehn Jahren Fotos aufgenommen worden, die um die Welt gingen. Von Häftlingen in orangefarbenen Anzügen – kniend, gefesselt . Mit Augen- und Ohrenklappen ihrer Sinne beraubt und mit Mundschutz. In ihren Käfigen fanden die Gefangenen die meiste Zeit des Tages keinen Schutz vor der heißen kubanischen Sonne. Das dünne Flachdach über den Gitterstäben ist nur wenige Zentimeter breit. Erica ist anderer Meinung. Das Dach habe genügend Schatten gespendet.

    "Es war schattig. Es gab Abdeckungen. Es war nicht so, dass sie extremen Situationen ausgesetzt waren. Das war nicht der Fall."

    Es war nicht so, dass die Gefangenen extremen Situationen ausgesetzt waren – Erica sagt das mit unbewegter Mine. Murat Kurnaz aus Bremen, der hier auch eingesperrt war, würde ihr an dieser Stelle sicherlich widersprechen. In seinem Buch hat er von Rockmusik erzählt, die aus Lautsprechern dröhnte, von Wärtern, die auf ihn eingeprügelt und ihn angebrüllt haben, die mit Eisenstangen immer wieder gegen die Gitterstäbe der Käfige hämmerten – und auch von der Sonne, vor der er nicht flüchten konnte.

    Erica beendet ihren Vortrag.

    "Es war eine Übergangslösung. Es wurde nur für kurze Zeit genutzt, bis die Lager 1-4 fertig waren."

    Die Lager 1-4, bekannt auch unter dem Namen Camp Delta, sind inzwischen ebenfalls Geschichte. Heute sind die meisten Häftlinge in Lager 6 untergebracht, eine 10-minütige Autofahrt von Camp X-Ray entfernt. Der Weg führt vorbei an einem McDonalds-Restaurant und einer Autowerkstatt, an der Schule, am Krankenhaus und an mehreren Wohnsiedlungen. Little America in Guantanamo Bay. Die Häuser sind pastellfarben angestrichen – in hellblau, hellgrün oder in schlichtem Weiß. Gepflegte Gärten, Doppelgaragen, ab und zu ein Spielplatz. Es sieht aus wie in einer typischen US-amerikanischen Vorstadt und viele Leute, die hier leben, haben mit den Gefängnissen von Guantanamo Bay überhaupt nichts zu tun.

    "Man sieht nichts, man hört nichts. Es gefällt uns hier. Es ist ein toller Ort für Familien und Kinder, es ist ruhig und sicher, man kann viel machen mit den Kindern. "

    Die Frau sitzt auf einer Bank und spielt mit ihrer kleinen Tochter. Sie ist die Frau eines Militärjuristen. Eine andere Frau erzählt von Stränden und schönen Tauchplätzen und dass sie an die Gefangenen so gut wie nie denken müsse. Der Aufbau der Basis hilft ihr dabei. Das Areal ist mit rund 70 Quadratkilometern weitläufig. Die Gefängnisse liegen in einem Teil, in dem nur ein knappes Drittel der rund 5.700 Bewohner überhaupt Zutritt hat. Die Frauen gehören nicht dazu.

    Über das Nadelöhr eines Checkpoints gelangt man auf die Gefängnisseite. Auch Journalisten dürfen in Begleitung von Militärleuten diesen Grenzübergang passieren. Und erst an diesem Punkt sind in der Ferne Wachtürme zu erkennen, die zum heutigen Gefängniskomplex gehören.

    Von der Straße aus ist das Gefängnis Nummer 6 nicht zu sehen. Es verbirgt sich in einem Irrgarten aus meterhohen und mit grünen Planen verdeckten Zäunen, Toren und Sicherheitsschleusen.

    Der Weg über Kieselsteine endet schließlich vor einem weiß angestrichenen Gebäude. Das ist das Hochsicherheitsgefängnis Nummer 6. Von außen gleicht es einer Lagerhalle, völlig unscheinbar.

    Eine Offizierin, Mitte 30, freundlich lächelnd, mit halblangem Haar und vielen Sommersprossen im Gesicht, führt ins Innere. Sie erzählt, wann das Gefängnis erbaut wurde und dass die Häftlinge in großen Gemeinschaftszellen leben. An einem großen Fenster lichtet sie die Jalousie und gibt den Blick frei.

    "Das ist der Bereich, wo sie essen und beten. Und jeder Gemeinschaftsraum hat auch einen Bücher- und Küchenbereich."

    Acht weiß gekleidete Häftlinge sitzen an einem Tisch. Die meisten tragen kurz gestutzte Vollbärte, alle haben Kopfhörer auf und blicken schräg nach oben. Der Fernseher hängt dort. Hinter dem Tisch führt eine Treppe zu einer Galerie hinauf. Von dort gehen kleine Zellen ab, für jeden Gefangenen ein Schlafplatz.
    Dass sie beobachtet werden, merken sie nicht. Denn das Fenster zwischen Gang und Zellinneren funktioniert nur in eine Richtung. Von außen kann man durchblicken, von innen ist es aber nur eine dunkle Fläche.
    In einer anderen Zelle ist ein Mann gerade damit beschäftigt, den Boden zu wischen. Auch das ist ein Häftling.

    "Sie haben Leute, die putzen, die Küchenaufgaben erledigen. Es gibt auch einen Zell-Führer. --- Wir sind nur für die Bewachung zuständig, sodass sie und wir sicher sind. Alles, was drinnen passiert, die Aufgaben, das legen sie selbst fest."

    Das hört sich nach selbst bestimmten Leben im Gefängnis an. Aber so ist es natürlich nicht. Wer Regeln bricht, wer zum Beispiel in den Hungerstreik tritt, um gegen seine jahrelange Haft ohne Anklage zu protestieren, der wird bestraft. Mit Isolationshaft in einer kleinen kahlen Zelle in Lager 5, in unmittelbarer Nachbarschaft. Auch dieses Gefängnis ist Teil des Journalisten-Rundgangs, allerdings nur in einem Trakt, der leer steht.

    Draußen ist es heiß. Hinter dem Stacheldrahtgelände leuchtet das Meer, das die Gefangenen nie zu sehen bekommen.

    Ein paar Kilometer weiter springen junge Männer ins Wasser. Es sind Wärter, die keinen Dienst haben. Sie machen einen ganz normalen Job, sagen sie, tun ihre Pflicht, ob sie einverstanden sind oder nicht. Und jetzt haben sie Freizeit.