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Zwischen Ordnung und Unordnung
Das trügerische Gefühl der bevorstehenden Katastrophe

Viele Menschen sehen alte Ordnungen in Gefahr. Die Demokratie steht unter Druck, die EU, das Klima wandelt sich, der Terror verbreitet Angst. Und doch müsse man begreifen, so eine Experten-These bei der Konferenzreihe "Hamburger Horizonte", dass Veränderungen nicht mit Verlusten gleichzusetzen seien.

Von Ursula Storost | 30.11.2017
    Ein Geschäftsmann konzentriert sich auf einen leuchtenden Computer verbunden mit wirren Leitungen.
    Wenn große Internetunternehmen von Kalifornien aus bestimmen, wie die Welt von morgen aussieht - auch das kann Verlustängste auslösen (Illustration: imago / Gary Waters )
    Zerstörung und Zerfall wohin man schaut. Viele Menschen fühlen sich verunsichert. Alte Ordnungen scheinen plötzlich nicht mehr zu gelten. Die freiheitliche Grundordnung, ja die Demokratie steht unter Druck, in der EU kriselt es, Nationalismus macht sich breit, islamistischer Terror erzeugt Unsicherheit. Und die öffentlich-rechtlichen Medien haben an Glaubwürdigkeit verloren durch Fake-News Kampagnen und Angriffe in sozialen Netzwerken.
    "Welche Funktion hat denn überhaupt Ordnung? Ordnung ist ja durchaus zweischneidig. Und ambivalent besetzt. Auf der einen Seite kann man sagen, zu viel von Ordnung führt in Systeme, die starr werden, die nicht mehr beweglich sind, nicht mehr flexibel, nicht mehr auf neue Anforderungen reagieren können. Ein Zuwenig an Ordnung nehmen wir wahr als im extremen Fall Anarchie, als einen gesetzlosen Zustand, wo man sich auf nichts verlassen kann. Und insofern ist ja die Frage, was ist eigentlich ein richtiges und sinnvolles Maß von Ordnung?"
    Eine Frage, die der Philosoph Matthias Mayer, Leiter des Bereichs Wissenschaft bei der Hamburger Körber Stiftung, zum Thema einer Konferenz gemacht hat. Und zur Diskussion stellte, ob es etwa richtig war, 2015 die deutsche Grenze für Flüchtlinge zu öffnen?
    "Lösen wir unsere Ordnungen auf und kommen in einen Zustand, der Rechtlosigkeit, wo das Gesetz nicht mehr gilt, was wir uns gegeben haben. Oder umgekehrt, folgen wir Prinzipien, übergeordneten Ordnungen, die uns darauf verpflichten, humanitär zu handeln, unsere Grenzen zu öffnen und diese Menschen zu uns herein zu lassen."
    "Keiner hat eigentlich die Definitionsmacht"
    Soziale Ordnungen sind im Gegensatz zu biologischen Ordnungen nicht Natur gegeben sondern gesellschaftlich ausgehandelt.
    "Und keiner hat eigentlich die Definitionsmacht zu sagen, diese Ordnung, die wir mit guten Gründen so und so festgelegt haben, ist jetzt die einzig richtige und die unveränderbare. Sondern Ordnungen, wie sie erst mal vorfindbar sind, müssen immer wieder aufs Neue zur Debatte gestellt werden und auch neu legitimiert werden."
    Allerdings ist dann Vorsicht geboten, wenn Ordnungen hinter dem Rücken der Beteiligten ausgehebelt werden. Wenn etwa, wie derzeit zu beobachten, große Internetunternehmen von Kalifornien aus bestimmen, wie die Welt von morgen aussieht: Sprich, welche Informationen uns überhaupt zugänglich gemacht werden und welche unserer persönlichen Daten wer wie verwenden darf.
    "Also es ändert sich etwas ohne, dass wir jemals eine freie Zustimmung dazu gegeben hätten, dass es sich so und so ändern soll."
    Das Interesse an der Frage, ob Ordnungen zerfallen, ist groß. Die Hamburger Konferenz war ausgebucht. Das, so der Hamburger Soziologieprofessor Sighard Neckel, liegt auch daran, dass die rasanten Veränderungen in unserer Gesellschaft vielen Menschen das Gefühl geben, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Dass wir jetzt dringend neue Ordnungen brauchen.
    "Und das ist natürlich immer auch die Stunde derjenigen, die dann mal richtig Ordnung schaffen möchten und als neue Ordnungen dann gerne die alten ausgeben. Und auch das ist eine Gefahr, die mit dem gegenwärtigen Zerfall von Ordnungen verbunden ist."
    Denn wo rückwärtsgewandte, nationalistische und undemokratische Kräfte erst einmal Oberwasser gewonnen haben, wird es schwer, Ordnungen im demokratischen Sinne zu verändern. Deshalb dürfe man nicht so lange warten bis die alten Ordnungen wirklich zerfallen oder von außen aufgelöst würden, sagt Sighard Neckel. Wo keine Regeln mehr gelten, da entsteht Chaos. Und Chaos sei ein schlechter Lehrmeister für notwendige Reformen. Bürger und Politik müssten sich klar werden, was sie wirklich wollen und sie müssten dann auch Prioritäten setzen.
    Dann muss man sich fragen, macht es Sinn, sich über bestimmte Ordnungsprobleme im Kleinen auseinanderzusetzen, wenn wir gigantische Ordnungsprobleme etwa dadurch haben, dass der Klimawandel ein Erdsystem angreift, das wir alle bewohnen müssen. Das heißt, wir müssen zu einer Staffelung dessen kommen, was wir an unseren Ordnungen verändern möchten.
    Veränderungen sollten öffentlich debattiert werden. Von Wissenschaft und Kirchen, von Parlamenten und Wirtschaftsverbänden. Derzeit, so Sighard Neckel, scheint die deutsche Politik allerdings weit davon entfernt, weitsichtig in die Zukunft zu denken.
    "Wenn man sich etwa anschaut, um ein aktuelles Beispiel zu geben, mit welchen kleinteiligen Problemen sich doch offensichtlich die letzten Koalitionsverhandlungen der Jamaika-Gruppierung beschäftigt hat, dann hatte man den Eindruck, dass man an den wirklich wichtigen Problemen der Gesellschaft auch vorbei verhandelt hat und die gar nicht zum Thema machten."
    Ordnungen der Natur, die vom Klimawandel bedroht werden
    Eine Staffelung der Ordnungen fordert auch Lorraine Daston. Die Professorin ist Mathematikerin, Philosophin und Historikerin, unter anderem Direktorin am Berliner Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte. Ganz oben in der Rangliste stehen für sie die Ordnungen der Natur, die vom Klimawandel bedroht werden. Und den verursacht der Mensch, der offensichtlich nicht weiß, mit welcher Ordnung er sich da anlegt.
    "Man muss sehen wie weitgehend die Konsequenzen sind von diesen Ordnungen. Zum Beispiel jedes Fenster in diesem Gebäude, die Struktur der Gebäude, alles ist auf eine bestimmte Klimasituation angepasst. Die Kleidung, die wir tragen. Unsere ganze Infrastruktur von Straßen, von Flugzeugen usw. Alles an eine bestimmte Klimasituation angepasst. Wenn es sich ändert, wird alles sich ändern müssen."
    Auf der anderen Seite schaut die Amerikanerin Lorraine Daston auch über den Tellerrand. Die tiefe Verunsicherung breiter Bevölkerungsschichten in Deutschland, kann sie nicht nachvollziehen. Im Alltag, sagt sie, könne sie kein Zerfallen von Ordnungen feststellen. Im Vergleich mit anderen Ländern und Zeitepochen, sei das Leben in Deutschland doch ungeheuer sicher und stabil.
    "Als Amerikanerin fällt es mir natürlich auf, dass das Leben hier in Deutschland viel sicherer ist als in meinem Heimatland. Zum Beispiel wenn sie krank sind, machen sie sich keine Sorgen, dass sie sich medizinische Sorge leisten können. Das ist nicht der Fall in meinem Land. Sie machen sich auch keine Sorgen, wenn sie kurzfristig arbeitslos sind. Das ist nicht der Fall in meinem Land. Nichtsdestotrotz ist der Umgang mit Unsicherheit hierzulande viel mehr mit angstbeladen als in den USA".
    Zukunftszuversicht gegen Verlustangst
    Vielleicht, so der Berliner Politikwissenschaftler Professor Herfried Münkler, resultieren die deutschen Ängste auch daraus, dass starre Regeln schnell ins Gegenteil umschlagen. Ein Beispiel dafür, so Münkler, seien die jahrelangen Arbeitsverbote für Kriegsflüchtlinge.
    "Es ist sozusagen eine administrativ juridische Ordnung, die über weite Strecken auch geschaffen ist, um diejenigen, die hier arbeiten, zu schützen gegen Konkurrenzen. Die aber nicht in der Lage ist, mit solchen Situationen, wie die jetzt eingetreten sind, umzugehen. Und die in mancher Hinsicht dazu führt, diese Leute außerhalb der Ordnung zu bringen."
    Denn jemand, der kein Geld, aber massenhaft Zeit hat und Schulden bei Schleppern, rutscht schnell in die Kleinkriminalität. Warum also, fragt Herfried Münkler, lassen wir diese Menschen nicht so schnell wie möglich arbeiten, sich weiterbilden, die Sprache lernen? Warum fürchten wir einen Zerfall der Ordnungen, wenn wir das möglich machen würden? Man müsse begreifen, so der Politikwissenschaftler, dass Veränderungen nicht mit Verlusten gleichzusetzen sind.
    "Das hat auch ein bisschen was mit Zuversicht zu tun, mit Zuversicht in die Zukunft. Oder aber eben nur mit Verlustängsten in deren Folge das dann dramatisiert wird. Und man das Gefühl hat, man geht in Katastrophen hinein."