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Zwischen Taumeln und Schweben

Der Roman "Abel" der Niederländerin Anneke Scholten ist keine klassische schwule Coming-out-Geschichte, die durch Nacht zum Licht führt, in der also einer seine Homosexualität entdeckt, anerkennt und lebt. Scholtens setzt einen anderen Akzent. Ihr Buch handelt von der Unsicherheit, "ich" zu sagen und eine Identität zu behaupten-

Von Sabine Peters | 20.04.2007
    Dem Student Bart geht es gut: Er will sich ein paar schöne Tage in seinem Elternhaus machen; die übrige Familie ist verreist, und seine neue Freundin Roos wird ihn besuchen kommen. Eine überraschende Todesanzeige - Barts ehemaliger Schulfreund Abel ist gestorben - führt ihn in seine Kindheit und frühe Jugend zurück. Plötzlich ist vieles nicht mehr gut, und eindeutig ist überhaupt nichts mehr. Die Niederländerin Anneke Scholtens, Jahrgang 1955, hat sich mit ihrem Roman "Abel" einem Thema angenähert, das zwar längst talkshowfähig geworden ist - aber dass es in den Quasselshows plattgewalzt werden kann, sagt nichts über die Tabus, die immer noch damit verbunden sind.

    Abels Mutter sagt, ihr Sohn sei während einer Gruppenwanderung in den Bergen abgestürzt. Sie zeigt Bart ein neueres Foto, auf dem Abel eine Blondine im Arm hält. Ein anderes Bild aus der Schulzeit zeigt Abel, wie er den Arm um Barts Schultern legt. "Unsere siamesischen Zwillinge", spotteten die Mitschüler. Und noch ein Foto, von einer Klassenreise: Abel ist verletzt, er trägt einen Verband um die Hand. Bart erklärt seiner Freundin, Abel sei bei einer Exkursion in die Asche des Lagerfeuers gefallen. Alles Halbwahrheiten, saubere Versionen. Im Lauf der folgenden Tage stellt sich heraus: Die "Reisegruppe", mit der Abel kurz vor seinem Tod unterwegs war, bestand aus einem einzigen jungen Mann, Tim. Die Blondine, die Abel auf dem Foto im Arm hält, ist nicht seine Freundin. Und der Unfall während der Exkursion geschah, weil Bart einer Umarmung Abels verärgert auswich und ihn von sich stieß. Als Lehrer Frijda später fragte, ob Bart nicht nach dem verletzten Abel sehen wolle, heißt es: "Er ist doch nicht mein kleiner Bruder, oder?" "Nein, aber ich dachte, ihr wärt Freunde." "Heißt das, ich muss den Pfleger spielen?" Eine klassische Verleugnungs-Situation. Dreimal kräht der Hahn, als Petrus Jesus verrät. Bart und Abel versöhnten sich als Schüler. Die aktuelle Liebesbeziehung mit Roos allerdings wirkt zunehmend gestört. Das wird überdeutlich, als Bart zum Frühstück der beiden drei Eier kocht. Roos deckt folgerichtig den Tisch für drei Leute, für den abwesend-anwesenden Abel gleich mit. Bart aber versperrt sich, bleibt abwesend und einsilbig. Er wird eifersüchtig auf Tim, mit dem sich Roos offensichtlich gut versteht. Behutsam, ja zartfühlend, nähert sich der Roman Barts "Schwierigkeit" an. Es ist nicht nur seine eigene, und sie besteht vor allem darin, dass es ihm - und anderen - buchstäblich die Sprache verschlägt. Was heißt "befreundet", was heißt "verliebt"? Das Wort "schwul" taucht, wenn die Rezensentin nichts überlesen hat, keinmal im Text auf. Es gab beim jugendlichen Bart nur Scheu, Verwirrung, auch ein Glücksgefühl, und heftige Abwehr. Rangelte er nur mit dem Freund? Warum sah er ein solches Strahlen in Abels Augen, was machte ihn selbst so zittrig? War eine Berührung reiner Zufall, oder vielmehr ein Kuss? Der Freund ahnte offenbar früh, dass er schwul war; er bekam beim ebenfalls schwulen Lehrer Frijda Rat und Hilfe. So wagte er einen direkt-indirekten Vorstoß und fragte Bart, ob er wisse, was über den Lehrer geredet werde. Bart erklärte grob, der stehe auf Männer, und "der Homo" solle die Pfoten wegnehmen von ihm, würde er ihn je anfassen. Damit wusste Abel Bescheid. Noch als Student dreht und windet sich Bart um die Frage herum, ob nicht nur Abel, sondern auch er selbst "verliebt" gewesen war.

    Anneke Scholtens Roman ist keine klassische schwule Coming-out-Geschichte, die durch Nacht zum Licht führt, in der also einer seine Homosexualität entdeckt, anerkennt und lebt. Scholtens setzt einen anderen Akzent. Ihr Buch handelt von der Unsicherheit, "ich" zu sagen und eine Identität zu behaupten, auch wenn sie im Widerspruch zu den Normen des Umfelds steht. Literatur von oder über Schwule wird gern in eine Nische geschoben, als "Randthema" abgetan. Was für ein Unsinn: Von den "Rändern" her, aus der Distanz zum Mainstream ergibt sich häufig ein unverstellter, besonders genauer Blick auf macht- und unheilvolle Strukturen, die die gesamte Gesellschaft durchziehen. Die Unsicherheit des Schülers gegenüber dem Freund setzt sich im Erwachsenen fort; Bart verleugnet über weite Strecken des Buchs seine Liebesbeziehung mit Roos. "Männliche Verschwiegenheit"? Unsicherheit? Mangel an Mut? Auch die übrigen Protagonisten haben ein seltsames Verhältnis zur Wahrheit, ob das Abels Eltern sind oder ein ehemaliger Mitschüler, der sich nicht an die Schulzeit erinnern kann. Man baut Fassaden auf. Man gibt sich keine Blöße. Man will nicht auffallen, sucht Harmonie mit einem abstrakten vermeintlich Allgemeinen, um im Zweifelsfall den konkreten liebsten nächsten Menschen zu verraten, er könnte ja nicht passen, man selbst könnte verspottet werden. Einmal bricht Roos in Tränen aus. Sie will wissen, wie Bart lebt, will seine Leute kennen lernen. Sie will, wie es heißt, nicht durch die Hintertür geschmuggelt werden, sondern normal durch die Vordertür kommen können. Bart bringt es schließlich fertig, zumindest Tim und Roos gegenüber auszusprechen, dass er in Abel verliebt war, und seiner Frau Mutter die Existenz einer Freundin zu berichten. So führt der Roman schließlich doch aus allerhand Düsternis und Zwielicht ins Hellere. Diese Pointe ist es, die Annegret Scholtens Buch diskussionswürdig macht. Die Autorin analysiert nicht, woher die Angst kommt, "ich" zu sagen. Sie stellt aber die Auswirkungen dieser Angst detailgenau dar, bis in die Verzerrung und Verkrampfung von Körper und Sprache.

    "Abel" ist ein spannendes, unterhaltsames Buch, gut lesbar, oder anders gesagt, von etwas schlichtem Aufbau - soll man sagen, hier handele es sich um "Literatur für junge Erwachsene", um das, was früher "Brückenliteratur" genannt wurde? Wenn man vergleichsweise klare Botschaften und Lesbarkeit als Kriterien einer "Jugendliteratur" anlegt, müsste eine Vielzahl von Romanen in diese Schublade gesteckt werden. Ganz abgesehen von Fragen nach der Kategorisierung, auch abgesehen von der Frage nach Homo- oder Heterosexualität ist das Buch empfehlenswert: Es lässt die Atmosphäre von Jugend lebendig werden, einen Zustand zwischen Taumeln und Schweben.

    Anneke Scholtens: Abel. Roman.
    Aus dem Niederländischen von Torsten Hell.
    Männerschwarm-Verlag, 140 Seiten