Dienstag, 16. April 2024

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Zwischen Tradition und Innovation
Folk von der Insel

So mancher Schatz liegt noch unentdeckt in der Bibliothek des "National Centre for the Folk Arts" in Halsway Manor. Die britische Band Faustus war als "Artist in Residence" dort und hat in den Archiven gestöbert. Ebenfalls tief verwurzelt in der Folktradition ist das Duo Josienne Clarke & Ben Walker. In ihren Songs schälen sie das Material bis auf den puren Kern.

Von Anke Behlert | 06.01.2017
    Die drei Musiker der Band Faustus sitzen unter drei kleinen Hirschgeweihen
    Back to Folkroots: Die britische Band Faustus (Luke Pajak)
    Nachdem sich in England lange kaum jemand für traditionelle Folkmusik interessiert hat, greifen in den letzten Jahren wieder mehr und mehr junge Leute zu Fiedel und Akkordeon, aber auch zu Gitarre und Computer und hauchen den alten Melodien wieder neues Leben ein.
    Musik: "Harry Kitchener's Jig” - Faustus
    Ein weitläufiger Bau aus rotem Backstein, jede Menge Erker und kleine Türmchen rundherum weite grüne Wiesen und sanfte Hügel: Halsway Manor ist ein altes Herrenhaus in Somerset, im Südwesten Englands, welches das "National Centre for Folk Arts" beherbergt. Es soll die traditionellen Künste Großbritanniens fördern und möglichst vielen Menschen zugänglich machen.
    Kurse und Workshops bieten Folkarts für jedermann von Irischem Volkstanz über Instrumentenbau und Songwriting bis Mandoline, Dudelsack und Drehleier.
    "Folkmusik ist Teil unserer Kultur"
    Jedes Jahr lädt Halsway Manor einen Musiker oder eine Band ein: als Artist in Residence. 2016 war das die Band Faustus.
    "Wir sind mit Folkmusik aufgewachsen, sie ist Teil unserer Kultur. Wir hatten einfach keine andere Wahl, als diese Musik zu spielen! Außerdem passieren gerade viele aufregende Dinge in der englischen Folkszene, da mischen wir gerne mit!"
    Das sagt Paul Sartin von Faustus. Bei diesem Bandnamen könnte man meinen, dass sich die Band an dem klassischen Drama von Christopher Marlowe orientiert hat. Bei ihnen stand aber der traditionelle Song "Dr. Faustus Tumblers" Pate.
    Musik: "Dr. Faustus Tumblers" - Traditional
    Neben Konzerten veranstalteten die drei Musiker auch Kompositionslehrgänge für Folkmusiker und ließen die einmalige Gelegenheit nicht verstreichen, in Halsway Manor ihr aktuelles Album aufzunehmen: "Death and Other Animals" .
    "Das Gespenst ist nicht erschienen"
    "Wir haben das Album in einem Schlafzimmer aufgenommen, in dem es angeblich spukt. Aber das Gespenst ist nicht erschienen, ich glaube, wir haben es erschreckt. Wir haben die Betten auseinandergenommen und sie benutzt, um den Hall zu dämpfen. In der Mitte des Zimmers war so eine Art Dom, dadurch hatte der Raum eine einzigartige Akustik. Außerdem konnten wir uns einfach nebenan hinlegen, wenn wir müde waren."
    Auf dem Album "Death and other animals" wimmelt es von Hasen, Hunden und Hirschen und auch der Tod tritt mehrfach in Erscheinung. Auch hat Faustus für das Album ein Gedicht der sogenannten Chartisten verwendet, die als Vorläufer der britischen Arbeiterbewegung gelten. Daraus entstand der Song "Slaves".
    Musik: "Slaves" - Faustus
    In keiner Bibliothek in Großbritannien stehen mehr Werke des britischen Folk als in Halsway Manor. Noch ist der Fundus der Kennedy Grant Library mit ihren über 10.000 Büchern, Manuskripten und Aufnahmen traditioneller Folkmusik nicht vollständig gesichtet: für die Band Faustus Ansporn genug, das Material zu durchstöbern. Dabei stießen sie auf die Schriften der Künstlerin Ruth Tongue.
    Ziemlich viel Fantasie
    "Ruth Tongue ist in Taunton aufgewachsen, einer Stadt in der Nähe von Halsway Manor. Dort schnappte sie als Kind Anfang des 20. Jahrhunderts traditionelle Songs von Marktleuten auf. Sie hat dann lange in London gelebt, ging aber später wieder nach Somerset zurück. Dort schrieb sie diese alten Songs aus ihrer Erinnerung heraus auf und ergänzte selbst, was sie nicht mehr genau wusste. Sie hatte ziemlich viel Fantasie. Ihre Manuskripte sind so gut wie unbekannt."
    Ein Manuskript, das Sänger Paul Sardin und die anderen Musiker von Faustus in Halsway Manor entdeckt haben, ist "False Foxes". Darin kombiniert Ruth Tongue das Schauermärchen "Mr. Fox". Es handelt von einem mordlustigen Frauenhelden - mit dem Aberglauben, dass man ein Grab niemals über Nacht offen lassen soll, weil sonst jemand stirbt.
    "Falsche Hunde, die mich
    unter dem efeuberankten Baum begraben wollen.
    Die Äste zitterten und mein Herz bebte,
    als ich das Grab sah, das sie geschaufelt hatten.
    Aber ich war oben, und ich blieb dort
    Gold und Silber und der ganzen Welt Reichtum -
    wer ein Grab offen lässt, wird selbst darin liegen."
    Musik: "False Foxes" - Faustus
    "False Foxes" vom Album "Death and Other Animals". Die Band Faustus lässt dafür ihre E-Gitarren im Koffer und greift zu Oboe, Violine, Mandoline und Bouzouki. Trotzdem lassen die Musiker auch ihre Vorliebe für Classic Rock durchblicken, zum Beispiel in dem Song "One More Day". Das hat vor allem mit einer bestimmten Textzeile zu tun, erklärt Sänger und Bouzouki-Spieler Benji Kirkpatrick.
    "Bloke Folk"
    "Die Zeile ‚Rock and roll me over‘ hatte einen großen Einfluss darauf, wie wir den Song arrangiert haben. Wir sind das sehr rockig angegangen und haben viele dicke Riffs und Akkorde benutzt."
    Die dynamische Art, in der die Band an Material herangeht, hat ihr die Bezeichnung "Bloke Folk Band" eingebracht. "Bloke Folk" bedeutet so viel wie: burschikoser Folk. Damit könne sich Faustus gut anfreunden, meint Sänger Paul Sartin.
    Musik: "One more day" - Faustus
    "In der Vergangenheit wurde traditionelle englische Musik oftmals eher elegant dargeboten, sehr dekorativ irgendwie, aber es fehlten der Drive und die Energie. Wir versuchen das möglichst zu vermeiden und wollen der Musik wieder mehr Vitalität und Kraft verleihen. Daher kommt sicher auch unser Beiname Bloke-Folk."
    Das Folk Revival begann 2003
    Seinen Anfang nahm das aktuelle Folk-Revival 2003, damals erschien das Album "Sweet England" des 21-jährigen Musikstudenten Jim Moray. Aufgenommen und produziert hatte Moray das Album in seinem Zimmer. Mit einer Mischung aus traditionellem Songmaterial und E-Gitarre, elektronischen Samples und moderner Produktion klang es zeitgemäß und viel weniger angestaubt, als Folkmusik, wie man sie bis dahin kannte. Bis heute ist das Album ein Kultklassiker. Im Titelsong geht es um das Heimweh eines Auswanderers nach "Sweet England".
    Musik: "Sweet England"- Jim Moray
    "Sweet England" von Jim Mora – ein Folkrevival-Klassiker. Auch für die Sängerin Julienne Clark vom Duo Julienne Clarke & Ben Walker. Schon als zehnjähriges Kind bekam sie Gesangsstunden und studierte später Musik. Aber klassischen Gesang empfand sie als gekünstelt, erzählt sie.
    "Im Vergleich zur klassischen Musik ist Folkmusik viel freier. Die Stücke sind lebendig und jeder spielt sie anders. Jeder Interpret fügt ihnen etwas hinzu, was sie vorher noch nicht hatten. Deshalb entwickeln sie sich. Und dieses Lebendige gefällt mir sehr gut."
    Die Musiker Josienne Clarke und Ben Walker sitzen an einem Tisch vor einer orangenen Wand
    Melodischer Kammerfolk: Josienne Clarke und Ben Walker (Jenna Foxton)
    Das aktuelle Album von Josienne Clarke und Ben Walker heißt "Overnight", also "über Nacht" und entsprechend handeln die Songs von den Stunden zwischen Abend- und Morgendämmerung. Josienne Clarke singt mit ergreifend hoher und klarer Stimme zu den ausgefeilten akustischen Arrangements von Gitarrist Ben Walker. Mal spielt er nur mit Akustikgitarre, mal geht es opulenter zu mit Streichern, Bläsern und Klavier.
    Wiederentdeckung von Ivor Gurney
    Auf dem Album finden sich neben ihren eigenen Songs auch die Coverversion, "Dark Turn Of Mind", im Original von der amerikanischen Sängerin Gillian Welch, und Bearbeitungen von älteren Stücken. "Sleep" zum Beispiel stammt von Ivor Gurney, der Anfang des 20. Jahrhunderts lebte. Er schrieb Gedichte und komponierte hauptsächlich Klavierstücke, die an Franz Schubert und Robert Schumann erinnerten. Bis er aufgrund einer bipolaren Störung in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde, galt er auch als dichterisches Talent.
    "Komm Schlaf
    mit deiner süßen Täuschung
    mach mich eine Zeit lang froh
    ein angenehmer Traum
    der meine Fantasien entzückt
    und der mich all meiner Kräfte beraubt"
    Musik: ”Sleep”- Josienne Clarke & Ben Walker
    "Sleep” - das Gedicht von Ivor Gurney, in der musikalischen Version von Josienne Clarke & Ben Walker. Die beiden Musiker beziehen sich mit ihren Songs häufig auf musikalische wie dichterische Vorbilder.
    "Diese Stücke gehören zum traditionellen Musikkanon.'Weep you no more sad fountains' ist eine Lauten-Ballade von John Dowland aus dem 17. Jahrhundert. Ben hat sie für Gitarre adaptiert und ein modernes Arrangement dafür geschrieben, damit sie gut zwischen zwei neue Songs passt."
    Musik: "Weep you no more sad fountains” - Josienne Clarke & Ben Walker
    Josienne Clarke und Ben Walker stellen auf ihrem Album "Overnight" eine moderne Countryballade neben ein Lautenstück aus dem 16. Jahrhundert und ein Gedicht aus dem frühen 20. Jahrhundert. Sie drücken allen Stücken ihren Stempel auf, und so gelingt ihnen das Kunststück, dass "Overnight" am Ende nicht nach wahllosem Durcheinander klingt, sondern sich alles nahtlos ineinanderfügt. Auch das poppige "The Waning Crescent" passt trotz seines für das Album untypischen Easy-Listening-Charmes ins Gesamtkonzept.
    Was ist mit mir? fragt der Mond
    "The Waning Crescent" ist aus der Persperktive des Mondes gesungen. In Popsongs und in der Literatur wenden sich die Leute oftmals an den Mond und erzählen ihm ihre Probleme. Da hab ich mir gedacht, was würde wohl der Mond nach all dieser Zeit erwidern? Es ist nicht so ganz erst gemeint. Der Mond jammert ein bisschen und fragt ‚Aber was ist mit mir?‘.".
    "Raum und Stille sind alles, was ich habe
    Ich bin nur ein Gesicht ohne Arme
    Das sich im Wasser spiegelt wie in Glas
    Die Vergangenheit dreht sich immer weiter"
    Musik: "The Waning Crescent" - Josienne Clarke & Ben Walker
    Josienne Clarke & Ben Walker mit dem Song "The Waning Crescent" von ihrem Album "Overnight". Sie gehören zur kreativen englischen Folkszene, genau wie Faustus und Lady Maisery. Das sind die neuen Artists in Residence auf Halsway Manor.
    Revival der "Mouth Music"
    Vor sechs Jahren haben die drei Frauen: Hazel Askew, Hannah James and Rowan Rheingans die Gruppe gegründet, im Oktober 2016 ist ihr drittes Album "Cycle" erschienen. Darauf finden sich eigene Kompositionen, altes Material wie ein Protestsong aus dem 17. Jahrhundert und eine Coverversion des Songs "Honest Work". Im Original stammt das Stück von dem amerikanischen Sänger Todd Rundgren. Aber das ist noch nicht alles. Lady Maisery belebt mit ihrem Album gleich bei mehreren Stücken auch eine in England schon fast ausgestorbenen Kunst wieder: die der sogenannten "mouth music". Dabei imitieren die Musiker den Klang von Instrumenten mit ihrem Mund. Früher war mouth music vor allem dafür da, um Tanzabende ohne Instrumente veranstalten zu können, heute ist mouth music die Kunst selber. Lady Maisery diddlen und dudeln auf ihrem Mundinstrument ganz hervorragend wie man in dem Stück "Sheila's" hört, das Hannah James zum 70. Geburtstag ihrer Tante geschrieben hat.
    Musik: "Sheila's 70” - Lady Maisery
    Feinfühlige Arrangements mit Akkordeon, Harfe, Geige und Banjo, dazu ein dreistimmiger Harmoniegesang Das zeichnet die Musik von Lady Maisery aus. Ihre Songtexte sind spitzfindig. Mal entdecken sie in einer alten Erzählung einen feministischen Dreh, den es zu versuchen lohnt, mal kritisieren sie - ganz in der Tradition englischer Folkmusik - die aktuelle politische Situation in ihrer Heimat wie in dem Stück "Order & Chaos
    Musik: "Order & Chaos - Lady Maisery
    Diese Sendung können Sie nach Ausstrahlung eine Woche online nachhören.