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Zwischen Trauer und Vorfreude

Die Welt war geschockt von den Bildern, die aus Tibet an die Öffentlichkeit gelangten. Die aufstrebende Großmacht China zeigte sich dem Westen plötzlich nicht mehr nur als boomende Wirtschaftsnation, als Land, das Gastgeber der Olympischen Spiele ist, sondern als perfekt funktionierender Polizeistaat, in dem die kommunistische Partei das oberste Sagen hat. Als es in der Provinz Sichuan zu einem verheerenden Beben kam reagierte die chinesische Regierung ungewohnt offen - ist eine positive Wende zwischen China und dem Rest der Welt in Sicht?

Von Petra Aldenrath | 08.07.2008
    Die aufstrebende Großmacht China zeigte sich dem Westen plötzlich nicht mehr nur als boomende Wirtschaftsnation, als Land, um das sich ausländische Investoren reißen, als Land, das Gastgeber der Olympischen Spiele ist, sondern als perfekt funktionierender Polizeistaat, in dem die kommunistische Partei das oberste Sagen hat. Nachrichten wurden zensiert, ausländische Journalisten wurden wegen angeblicher Sicherheitsbedenken aus den Unruhegebieten ausgewiesen. Die Schuld für die Unruhen in Tibet und den anderen Provinzen, in denen Tibeter lebten, wurde dem Dalai Lama, dem geistigen Oberhaupt der Tibeter, angelastet:

    Premier Wen Jiabao: "Wir haben genug Beweise, dass die Dalai Lama Clique die Unruhen organisiert, vorsätzlich geplant, gesteuert und angestachelt hat. "

    "Die Flamme ist da", heißt ein Song, der eigens für die Ankunft des olympischen Feuers komponiert wurde. Der olympische Fackellauf sei ein Lauf des Friedens, sagte Pekings Bürgermeister, als die Fackel aus Griechenland kommend in Peking eintraf:

    "Das heilige olympische Feuer ist zu den friedliebenden Chinesen gekommen, die Wert auf Freundschaft und auf Kooperation legen. Wir werden diese olympische Flamme, die Frieden, Freundschaft und Fortschritt symbolisiert, weitergeben an Millionen Menschen."

    Als das olympische Feuer – kurz nach Beginn der Unruhen in Tibet – von Peking aus seine "Reise der Harmonie", wie die Chinesen den diesjährigen Fackellauf nennen, durch die Welt antrat, kam es zu massiven Protesten. Die olympische Fackel wurde zum Symbol für die Unterdrückung der Tibeter. Der Fackellauf sollte ein unvergessliches Ereignis werden. So planten es die Chinesen. Ein unvergessliches Ereignis wurde er in der Tat, aber anders, als China erhoffte, sagt Chinaexperte David Zweig:

    "Er wurde zum großen Teil zu einem Marketingdesaster. Schauen Sie sich die Fackel an und wie sie durch die Welt getragen wird – was in Frankreich und in England passierte und um die Fackel zu schützen. Da waren diese Bodyguards in ihren blauen Trainingsanzügen, die die Fackel verteidigten. Das hat gezeigt, dass die Ereignisse in Tibet einen Prozess angestoßen haben und China immer schlechter und schlechter da stand."

    Je mehr der Westen gegen China protestierte, desto mehr wuchs der chinesische Nationalstolz. In Internetforen kursierten antiwestliche Lieder, wütende Artikel verdammten die in den Augen vieler Chinesen einseitige Berichterstattung im Westen über China, über die Ereignisse in Tibet und die Proteste während des olympischen Fackellaufs. Die chinesische Regierung, die ihre Medien streng kontrolliert, ließ zu, dass einige der hasserfüllten Meinungen in den Zeitungen abgedruckt wurden. Der Nationalstolz der Chinesen wuchs genau wie die Wut gegen den Westen – der extreme Patriotismus der Chinesen könnte zur Gefahr für die Olympischen Spiele werden, warnte damals Soziologe Hu Xingdou:

    "Wir brauchen keinen extremen Nationalismus. Ein extremer Nationalismus kann der Öffnungspolitik Chinas schaden. China sollte als Gastgeber der Olympischen Spiele eine offene und tolerante Haltung einnehmen. Wir sollten alle Ausländer begrüßen, die nach China kommen, egal ob zu den Olympischen Spielen, um Geschäfte zu machen oder als Touristen und vor allem sollten wir keine Angst davor haben, dass Ausländer Banner ausrollen und Slogans rufen. Das macht doch nichts. In westlichen Ländern passiert das doch auch. Da wird doch auch demonstriert. Macht das da was?"

    Der Großteil der Chinesen glaubt der staatlichen Propaganda. Wer es wagt, der offiziell propagierten Meinung etwas entgegen zu setzen, wird schnell schachmatt gesetzt. So passierte es Chang Ping, dem stellvertretendem Herausgeber der südchinesischen Tageszeitung "Nanfang Dushi Bao". Chang Ping schrieb einen kritischen Artikel, den er "Wie man die Wahrheit über Lhasa herausfindet" nannte. Kurz nach Veröffentlichung wurde Chang Ping von seinem Posten suspendiert. Der Autor und Tibetologe Wang Lixiong muss eine Suspendierung gar nicht mehr befürchten. Seine Bücher über Tibet werden in China bereits seit längerem zensiert.

    Treffpunkt mit Wang Lixiong ist der Parkplatz eines belebten Kaufhauses im Herzen von Peking. Zu Hause kann er keine Interviews mehr geben, denn seit Jahren wird Wang Li Xiong von der chinesischen Staatssicherheit streng observiert. Vor seinem Haus stehen Wachposten. Sie beobachten jeden Schritt von ihm und seiner tibetischen Frau, der Autorin Woerse, deren Bücher ebenfalls in China verboten sind. Wang Lixiong ist ein mutiger Mann, der es als seine Pflicht betrachtet, den Mund aufzumachen. Als die chinesische Regierung mit ihrer Anti-Dalai-Lama-Propaganda begann, schrieb Wang Lixiong einen couragierten Brief an die Regierung, in dem er direkte Gespräche mit dem Dalai Lama als Schlüssel zur Lösung der Krise bezeichnete. Mit dem Brief setzte er seine Freiheit aufs Spiel.

    Wang Lixiong:"Natürlich habe ich davor Angst. Jetzt gerade, wo ich Ihnen das Interview gebe, das alles kann als Beweis gegen mich verwendet werden. Ich stand ja bereits unter Hausarrest. Die chinesische Regierung verspricht sich so viel von den Olympischen Spielen. China möchte akzeptiert werden von der Welt. China möchte sich der Welt als harmonisches, tolerantes und modernes Land präsentieren und ausgerechnet dann passiert das mit Tibet und China beginnt, Menschen zu verhaften. Das soll einer verstehen. So steht es aber hier mit den Menschenrechten. Und während der Olympischen Spiele werden wir noch mehr kontrolliert und eingeschränkt werden."

    In letzter Zeit wurden bereits mehrmals Bürgerrechtler verhaftet, wie der Menschenrechtsaktivist Hu Jia oder der der Bauer Yang Chunlin. Beide hatten angeprangert, dass China die Menschenrechte nicht achte und dass deshalb die Austragung der Olympischen Spiele in China eine Katastrophe sei. Beide wurden wegen angeblicher Untergrabung der Staatsgewalt zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Das olympische Jahr werde bei den politischen Verhaftungen Rekordzahlen schreiben, prophezeite vor kurzem John Kamm in Peking. Kamm ist Gründer der amerikanischen Dialoggesellschaft, einer Organisation, die sich um die Freilassung politischer Häftlinge in China bemüht. Menschen wie eben Hu Jia oder Yang Chunlin. Menschenrechtsorganisationen sprechen von Säuberungsaktionen vor den Olympischen Spielen. Vorwürfe, die Chinas Premierminister Wen Jiabao zurückweist:

    "China ist ein Land mit einem Rechtssystem. All diese Probleme werden nach dem Gesetz angemessen gelöst. Es ist Unsinn, dass Regimekritiker vor den Olympischen Spielen inhaftiert werden. Das stimmt nicht."

    Für die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sprechen die Urteile gegen die Olympiakritiker aber eine andere Sprache. Als Peking den Zuschlag für die Olympischen Spiele bekam, habe es versprochen, die Menschenrechte zu verbessern, erinnert Mark Allison von Amnesty International in Hongkong:

    "Wir haben sehr wenige Anzeichen, dass es eine Verbesserung der Menschenrechte im Vorfeld der Olympischen Spiele gibt. Die Weltgemeinschaft muss nun noch mehr in der Öffentlichkeit Gesicht zeigen. China hat Aktivisten eingesperrt. Wir brauchen führende Politiker in der Welt, die sich für Inhaftierte wie Hu Jia oder Yang Chunlin einsetzen. Die Situation für chinesische Menschenrechtsaktivisten ist sehr bedrohlich. Sie brauchen Schutz. Sie werden inhaftiert, obwohl China weiß, dass die Welt wegen der Olympischen Spiele auf ihr Land blickt. Das ist sehr besorgniserregend."

    "Eine Welt, ein Traum", heißt das chinesische olympische Motto. Als Gastgeber der Spiele wollte sich China als Land präsentieren, das bombastische, wundervolle, unvergessliche Spiele inszenieren kann. Die Olympischen Spiele sind das nationale Prestigeprojekt schlechthin. China hat sich jubelnde Zuschauer, glückliche Athleten und vor allem internationale Anerkennung erhofft. Missstände wurden unter den Teppich gekehrt und so stand China wegen seiner Menschenrechtspolitik plötzlich am Pranger, analysiert der Hongkonger Chinaexperte David Zweig:

    "Sie wollten alle Probleme ignorieren, die es in China gibt. Aber man kann keine 30 Jahre rasanten Wirtschaftsboom haben, unter einem autoritären Regime wie in China, ohne dass man dreckige Wäsche im Schrank hat. China lud die Welt zu den Olympischen Spielen ein und sagte: Kommt zu uns nach Hause, bei uns ist es schön – und das wollten sie mit den Olympischen Spielen tun. Aber wenn man das macht, dann kann man die Leute auch nicht daran hindern, unter den Betten zu schauen und genau das wollen aber die Journalisten machen oder auch andere, die Missstände aufdecken."

    Nicht mehr die Olympischen Spiele und die Athleten rückten in den Vordergrund, sondern Chinas Umweltpolitik, die immense Luftverschmutzung in den Städten, vergiftetes Spielzeug, unmenschliche Bedingungen in den Fabriken und die Menschenrechtspolitik. Jedes Mal, wenn Missstände in China mit den Olympischen Spielen in Verbindung gebracht wurden, mahnte China an, den Geist der Olympischen Spiele nicht zu verletzen, Sport und Politik sollten nicht in einen Topf geworfen werden, hieß es aus Peking. Dabei sei China selber schuld daran, dass die Olympischen Spiele politisiert wurden, sagt David Zweig:

    "Ich finde, sie haben die Olympischen Spiele politisiert. Sie wollten, dass alle führenden Staatsoberhäupter zur Eröffnungszeremonie kommen. Sie haben die Spiele politisiert, indem sie dem wahrscheinlichen Nachfolger des heutigen Staatschefs die Verantwortung über die Spiele übertrugen. Das ist so, als ob die USA den Vizepräsidenten – bei den Spielen in Atlanta – damit beauftragt hätten und gesagt hätten: Mach die Olympischen Spiele zu einem Erfolg und wenn nicht, dann wirst du vielleicht kein Präsident. Das ist im hohen Maße politisch. Also wurde der Erfolg oder eben der Nichterfolg der Spiele ein großes Thema. China hat sie generell politisiert. Sie wurden mit Nationalismus verwoben. Die Pekinger Führung hat die Olympischen Spiele zu einem Indikator dafür gemacht, wie China in der Welt dasteht. Wenn es ein Indikator dafür ist, wie China in der Welt dasteht, dann hat jeder, der China nicht gut gesonnen ist, eine Zielscheibe. Also hat China die Probleme geschaffen und nicht der Rest der Welt."

    Am 12. Mai um 14.28 Uhr gab es in der Provinz Sichuan ein verheerendes Beben. Ganze Ortschaften wurden ausgelöscht und verschwanden unter Trümmern, zigtausende Menschen starben. Die chinesische Regierung reagierte ungewohnt offen. Journalisten durften live berichten. Sie zeigten nicht nur die Rettungsarbeiten, sondern auch die Tränen des chinesischen Premierministers, der die Erdbebengebiete besichtigte, die Tränen der Menschen vor Ort und deren Verzweiflung. China habe aus der Vergangenheit gelernt, meint der chinesische Wissenschaftler Mao Shoulung von der Pekinger Volksuniversität:

    "Im Vergleich zu den Reaktionen im Jahr 2003, als die Lungekrankheit SARS ausbrach, oder als der Songhuafluss in Harbin verseucht war oder eben auch im Vergleich zu der Schneekatastrophe in diesem Jahr hat China schon viel gelernt."

    Statt Ereignisse zuerst zu verheimlichen und sie dann herunterzuspielen, wurde nonstop in den Medien berichtet. Als 1976 die Erde in Tangshan bebte, lehnte China internationale Hilfe mit den Worten ab: Unser glorreiches Land braucht so etwas nicht.
    Diesmal schickte die internationale Weltgemeinschaft Verbandsmaterial, Zelte, mobile Krankenhäuser und Rettungskräfte. China nahm die Hilfe dankend an. Das Erdbeben in Sichuan ist für die Chinesen eine Tragödie. Zum ersten Mal seit Gründung der Volksrepublik wurde nicht zum Gedenken an einen verstorbenen Politiker, sondern für das einfache Volk Staatstrauer angeordnet.

    Auf die Minute genau eine Woche, nachdem in Sichuan die Erde bebte, stand ein Fünftel der Weltbevölkerung still. Drei volle Minuten hielt China inne, um der Toten zu gedenken. Die Menschen blieben schweigend auf den Straßen stehen, sogar die Börsen wurden ausgesetzt, der Verkehr angehalten – nur das Geheul der Sirenen und die Hupen von Schiffen, Zügen und Autos war zu hören.

    Auch die Weltgemeinschaft kondolierte und sie lobte Chinas neue Offenheit. Die Anklagen der Vergangenheit – wegen Tibet und überhaupt wegen der chinesischen Menschenrechtspolitik – schienen vergessen. Dass China auch offen reagieren würde, falls es im Land wieder Unruhen gäbe, bezweifelt allerdings Joseph Cheng, Politikwissenschaftler aus Hongkong:

    "Die chinesische Regierung hat gemerkt, dass es klug ist, den Menschen im In- und Ausland zu zeigen, dass den Opfern des Erdbebens geholfen wird. Solche Bilder verbessern das Ansehen Chinas. Sie zeigen so ein gutes Bild von China. Ich glaube nicht, dass China offen zu den Medien wäre, wenn es sich um Unruhen und Proteste handeln würde. "

    Niemand hat sich das Erdbeben herbeigewünscht, weder die chinesischen Politiker, noch das Volk. Aber das Erdbeben hat geholfen, dass die Ereignisse davor verblassten, der Zorn der internationalen Weltgemeinschaft gegen China scheint verraucht. So tragisch das Erdbeben für die Chinesen ist– durch die Tragödie ist China aus seiner Isolation herausgeholt worden; kurz vor den Olympischen Spielen ist die Atmosphäre zwischen China und dem Rest der Welt nun nicht mehr vergiftet. Für den China-Experten David Zweig aus Hongkong eine positive Wende:

    "Sie können das mögen oder nicht – China ist da. China spielt in der internationalen Weltgemeinschaft eine wichtige Rolle. Wir brauchen China, um kritische Probleme zu lösen – angefangen von der Klimaerwärmung über nukleare Aufrüstung – Taiwan, Nordkorea, Iran und all die anderen Sachen. Wir wollen, dass China offen wird, was die Menschenrechte angeht, wir wollen, dass es zuversichtlich in eine demokratischere Richtung geht. So ein China wollen wir sehen. Wenn China merkt, dass es nicht willkommen ist, dann kann das dazu führen, dass ein beleidigtes, mächtiges China, dem Westen feindlich gegenüber steht. Wir wollen, dass China liberaler wird, wir wollen ein demokratischeres und offeneres System und kein aggressiv wachsendes China, das über viele Jahre hinweg schlechte Beziehungen zum Westen hat."