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Zwischen Ungeduld und Ungewissheit

Mehr als vier Monate nach dem Sturz des tunesischen Despoten ist die Euphorie verflogen: Die Übergangsregierung wurde immer wieder umgebildet, die Verwaltung mehrfach ausgetauscht, die Tourismusindustrie ist eingebrochen, um den Wahltermin wird gerungen.

Von Marc Dugge | 04.06.2011
    Wenn die Tunesier sich eines nicht mehr nehmen lassen wollen – dann ist es das Recht auf freie Rede. Auch mehr als vier Monate nach dem Sturz von Ben Ali gehen die Menschen auf die Straße. Schreien heraus, was sie ärgert. Und die Hundert, die sich hier vor dem Justizministerium versammelt haben, ärgert viel:

    "Wir sind mitten in einer Krise. Die Revolution wurde zum Scheitern gebracht, die Polizei zeigt sich wieder in alter Stärke. Wir kehren zur Gewalt, zur Diktatur zurück". "

    ""Es ist immer noch das Gleiche. Hier hat doch keiner aufgeräumt. Es sind immer noch die gleichen Leute im Amt, in den Ministerien, die mit Ben Alis Familie zusammengearbeitet haben."

    Enttäuschung, total. Wenn auch nicht bei allen Tunesiern. Es gibt in Tunesien auch Menschen, die dem 84-jährigen Ministerpräsidenten Ben Caid Essebsi ein gutes Zeugnis ausstellen, die an die Geduld appellieren. Tatsächlich hat sich viel getan in Tunesien. Die allmächtige Einheitspartei RCD wurde aufgelöst, die Geheimpolizei ebenso. Die Medien berichten frei, Meinungsfreiheit ist längst Alltag geworden. Und auch in die Verwaltung sind neue Köpfe eingezogen. Doch vielen gehen die Reformen nicht schnell und nicht weit genug. Finanzminister Jalloul Ayed sagt: Die Herausforderungen für die Regierung sind die hohen Erwartungen – und die Ungeduld.

    "Die Revolution in Tunesien ist parteilos, führerlos und absolut spontan. Die jungen Tunesier haben sie daher zu ihrer Revolution erklärt. Viele von ihnen sind arbeitslos. Wenn die Menschen nicht schnell spüren, dass es ihnen dank der Demokratie besser geht, könnte der demokratische Prozess scheitern."

    Tunesien ist eine junge, sehr zerbrechliche Demokratie. Keiner weiß, in welchem Maße die alten Kader noch die Strippen ziehen. Ob sie Reformen verzögern oder sogar verhindern. Wer hinter den über 60 neuen Parteien steht, die seit dem Januar gegründet wurden. Deren Namen keiner kennt, geschweige denn, deren Programme. Davon könnten die Islamisten profitieren. Unter Ben Ali waren sie verboten, Tunesien galt als das weltlichste Land der Region, nirgends hatten Frauen so viele Rechte. Doch die Islamisten sind auf dem Vormarsch, der Namen der Partei Ennhada ist vielen vertraut. Gut möglich, dass sich das bei den kommenden Wahlen auszahlt. Überhaupt, die Wahlen. Erst sollten sie im Juli stattfinden. Die unabhängige Wahlkommission sagte: Klappt nicht, die Zeit ist zu kurz – und empfahl den Oktober. Die Regierung dementierte. Man halte am Juli-Termin fest. Um kurz darauf einzuräumen, dass die Wahlkommission wohl doch recht habe. Das Beispiel zeigt: Die Lage in Tunesien ist unübersichtlich, die Kakofonie total. Und das bereitet Unbehagen. Dazu tragen auch die Medien bei, sagt Fouzia Mezzi, neue Chefredakteurin der Zeitung "La Presse Tunisie":

    "Es herrscht ein Informationschaos. Fakten werden nicht immer überprüft, vieles wird spontan geäußert und dann wild verbreitet. Es fehlt an Professionalität. Das Ganze wird dadurch verschlimmert, dass die Regierung selbst kaum kommuniziert. So hält sich ein Klima der Angst, das sich dann in Form von Gewalt und Zerstörungswut entlädt."

    Zwar können Touristen mittlerweile wieder ohne Bedenken nach Tunesien reisen, doch gerade in der Hauptstadt Tunis sind die Spannungen gut zu spüren. Immer wieder gibt es dort Demonstrationen, die gelegentlich eskalieren. Die Nerven vieler Tunesier liegen blank, die Menschen haben Angst vor der Zukunft. Nicht ohne Grund. Tunesien hat im ersten Quartal 26 Prozent weniger Waren exportiert, auch die ausländischen Investitionen sind eingebrochen. Da ist es Balsam für die geschundene tunesische Seele, dass die G-8 auf ihrem Gipfel in Deauville Finanzhilfen zugesagt hat. Insgesamt 40 Milliarden Euro sollen nach Ägypten und Tunesien fließen. Wie hoch Tunesiens Anteil sein wird, ist noch nicht geklärt. In jedem Fall sei das nicht genug Geld, so der Wirtschaftswissenschaftler Azzam Mahjoub:

    "Tunesien wird in den kommenden zehn Jahren mindestens fünf Milliarden Dollar jährlich brauchen. Nur so können wir die Provinz wirklich entwickeln und die nötige Infrastruktur bauen. Das ist wirklich eine Herausforderung! Viele fragen sich, in welchem Maße wir da auf die Europäische Union bauen können."

    Die Europäische Union muss bei den Tunesiern Vertrauen zurückgewinnen. Viele sind verärgert darüber, dass Europa für Tunesier die Grenzen so dicht hält, dass das Billiglohnland Tunesien von der europäischen Wirtschaft so abhängig ist. Und ärgern sich auch darüber, dass Europa früher keine Scheu zeigte, mit dem Diktator Ben Ali zusammenzuarbeiten. Dirk Buda von der EU-Botschaft will das nicht so stehen lassen:

    "Es stimmt zwar, dass das Regime von der Zusammenarbeit mit uns profitiert hat, gerade im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Aber wir waren nie sein Unterstützer– im Gegenteil. In unseren Gesprächen haben wir uns über politische Gefangene erkundigt, die Themen Versammlungs- und Meinungsfreiheit angesprochen. Die Kritiker machen es sich zu leicht."

    Die EU-Chefdiplomatin Catherine Ashton hat aus der Vergangenheit jedenfalls ihre Lehren gezogen. Sie hat den Ländern Nordafrikas Milliardenhilfen versprochen – die Zusagen allerdings an demokratische Reformen geknüpft. Wie auch immer das Demokratie-Experiment in Tunesien ausgehen mag, eines ist sicher: Es wird Symbolcharakter haben für die gesamte arabische Welt. Im Guten wie im Schlechten. Ralf Melzer von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis:

    "Wenn Tunesien es nicht schafft, mit seinen relativ guten Voraussetzungen – einer relativ gut ausgebildeten Bevölkerung, einer trotz aller sozialen Probleme funktionierenden Wirtschaft, eines aufgeklärten, breiten Mittelstandes – wenn das schiefgeht, dann ist das ein negatives Signal für die gesamte Region. Mit Folgen, die man sich gar nicht ausmalen mag."

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