Donnerstag, 18. April 2024

Zwölf Mal Deutschland
Der Tagebau-Weinberg

Als Rolf Reifert kam, standen noch die letzten Schaufelradbagger, und die Gegend in Sachsen-Anhalt war eine Mondlandschaft. Rolf Reifert begann, in der Einöde Wein anzubauen - am Hang des Abraumberges. Derweil wurde das Riesenloch unten im Tal langsam geflutet. Heute schimmert dort Deutschlands größter künstlicher See im Abendlicht, und Radfahrer trinken bei Reiferts kühlen Rosé. Tagebau-Rosé.

Von Jörg-Christian Schillmöller (Text) und Dirk Gebhardt (Fotos) | 08.07.2015
    Der Winzer Rolf Reifert steht in seinem Weinberg am Geiseltalsee in Sachsen-Anhalt
    Hat den Tagebau zum Weinberg gemacht: Rolf Reifert (Dirk Gebhardt)
    Es ist sommerheiß hier oben, der sanfte Luftzug ist trügerisch. Die Sonne steht direkt gegenüber am Horizont, und der Blick fällt hinunter auf den See. Linkerhand, an der Südseite, liegt Mücheln. Früher verlief hier der Tagebaurand, heute ist Mücheln ein Städtchen mit Marina und Bootsverleih. Hinter dem See leuchten grün und gelb die Wiesen und die Gerstenfelder. Rechts in der Ferne drehen sich Windräder, abends blinken sie rot, alle im Gleichtakt. Idyllisch.
    Die Menschen hier wissen alle, wie es früher aussah. Die Schaufelradbagger haben 1,4 Milliarden Tonnen Braunkohle aus dem Land herausgebrochen, 16 Dörfer verschwanden ganz oder zum Teil. Daran erinnert das Boden-Mosaik in der Begegnungsstätte neben dem Weinberg.
    Mozart und Mosaik
    Ein kleiner, kühler Bau mit romanischen Rundungen, errichtet aus quaderförmigen Steinen. Ein schönes Gebäude, unaufdringlich, schlicht. Rolf Reifert stellt sich an die Stirnseite und singt , die Melodie ist aus Mozarts Zauberflöte, der Text ist umgedichtet auf das Thema Wein.
    Der Winzer Rolf Reifert in der Begegnungsstätte neben seinem Weinberg
    Die Begegnungsstätte am Weinberg (Dirk Gebhardt)
    Die Steine stammen aus der Kirche von Möckerling, das 1964 abgebaggert wurde. Das Mosaik im Boden besteht aus hellbraunen und schwarzen Steinchen. Die hellbraunen Steinchen umreißen den Geiseltalsee, die schwarzen bilden Flecken. Die Flecken stehen für die 16 weggebaggerten Dörfer. Möckerling lag ungefähr zwischen Mücheln und Krumpa, nur etwas zu weit nördlich.
    Irgendwann war das Geiseltal leer, die Kohle war alle, das Land ausgeweidet. Irgendwann verschwanden die Bagger, die Planierraupen, die Förderbänder. 2003 kam das Wasser. Es floss acht Jahre lang, in 1,20 Meter breiten Stahlrohren, abgezweigt aus der Saale, vorgereinigt in einem Kiesbett. Der Tagebau wurde zum Geiseltalsee, und er ist bis heute Deutschlands größter künstlicher See. 7,5 mal fünf Kilometer, zwei Arme, ein Bauch. Ein bisschen sieht er aus wie der Bodensee.
    "Renaturierung" klingt für einen Umbruch in dieser Größenordnung viel zu technisch. Hier entstand eine vollkommen neue Landschaft, gepaart mit der Hoffnung auf ein neues Lebensgefühl, auf ein Leben nach der Braunkohle. Heute fährt eine Bimmelbahn um den See, die schmale Straße ist knapp 28 Kilometer lang und geteert. Die Kurven sind gefährlich, es gab schon Unfälle. Für Radfahrer ist die Strecke trotzdem ein Geheimtipp, Autos fahren hier keine - bis auf Rolf Reifert und seine Mitarbeiter im Weinberg. Sie haben den Schlüssel für die Schranke.
    "Heile Welt, was?"
    Weinberg im Tagebau. 57 Rebenreihen ziehen sich den Hang hinunter: Müller-Thurgau, Weißburgunder, Spätburgunder, Cabernet-Mitos. Jeder Weinstock hängt am Tropf - ein dünner Plastikschlauch versorgt die Pflanzen mit Wasser und Dünger, der Fachbegriff lautet "Tropfberegnung". Rolf Reifert mag solche Begriffe. "Mineralisierung", "Osmose" und "Vitalisierung" mag er auch.
    Ganz rechts neben Reihe 57 stehen noch drei Reihen Chardonnay, dazwischen Rittersporn mit seinen blauen Dolden. Die Hummeln können gar nicht genug bekommen. "Heile Welt, was?", meint Rolf Reifert. Die drei Reihen sind ein Versuch. "Forschungsfeld Naturnaher Weinbau" steht auf dem Schild vor den Reihen. Das Projekt ist eine Kooperation mit der Hochschule Merseburg. Fünf Jahre lang wird hier nicht gespritzt, keine Chemie. Das Unkraut wird händisch gezupft. Rolf Reifert und die Studenten wollen herausfinden, wie der Boden reagiert, wie die Pflanzen ohne Pflanzenschutz gedeihen.
    Rolf Reifert doziert gern. Seit Jahren kommen Studenten hier herauf in seinen Weinberg, erst von der Hochschule aus Halle, nun auch aus Merseburg. Lachend nennt Reifert sich einen Rentner, de facto ist er immer noch ein ziemlich aktiver und ziemlich selbstbewusster Unternehmer. Stämmig, blondes Haar mit einem Stich ins Rötliche, Brille, kariertes Hemd.
    Rolf Reifert stammt aus einem großbürgerlichen Landwirtschaftsbetrieb, der in der DDR kollektiviert wurde. Schon im Studium hielt er Vorträge, wurde dafür von vielen Fächern und Prüfungen befreit und lag mittags regelmäßig betrunken in der Mensa. Er erzählt mit Freude von dieser Zeit. "Dass die mich nicht rausgeschmissen haben", sagt er, "das ist ein Wunder."
    Zu sehen ist ein blauer Bauwagen auf einer Wiese, dahinter am Hang ein Weinberg
    Der Weinberg am Geiseltalsee (Dirk Gebhardt)
    Den Weinberg hier, den hat er aus der Erde gestampft, im Jahr 2000. "Das war eine Gratwanderung, und wir haben Fehler gemacht", sagt er. Zum Beispiel falsch eingeschätzt, wie lange Gras braucht, bis es den Boden hält. Die Erosion kam heftig. Im Tal sammelten sich ganze Hänger voll ausgespülter Erde. Das Erdreich ist auch gar nicht homogen, weil es aus neun Tagebauen in der Region zusammengekippt wurde über die Jahrzehnte.
    Die Lage für einen Weinberg ist gut. 25 bis 28 Prozent Neigung. Von Westen kann die warme Luft herein. Die kalte Luft aus dem Osten wird um die scharfe Ecke des Talkessels in Richtung See gelenkt. Im Norden auf der Kuppe steht schützend der neu entstandene Wald. Das Wasser unten reflektiert das Sonnenlicht hinauf. In der Summe macht das drei bis vier Grad Unterschied zur Querfurter Platte, dem flachen Land, der Ebene mit den Getreidefeldern und den kirschbaumgesäumten Feldwegen.
    Das Rote Höhenvieh beruhigt die Landschaft
    Die Tagebau-Geschichte in dieser Gegend reicht 300 Jahre zurück. Die industrielle Nutzung begann Ende des 19. Jahrhunderts, wenig später kam die Chemie dazu. Die Braunkohle war so ergiebig, dass sich die Großbetriebe ansiedelten, deren Namen viele Jahre lang nach Umweltsünde klangen: Das Karbid-Werk Buna. Die alte Raffinerie von Leuna (heute steht dort eine neue von Total, sauber wie ein Museum).
    Vergangenheit, Gegenwart. Auf der Wiese unterhalb des Weinbergs stehen 20 Rinder im Sonnenschein. Die Rasse ist alt und gefährdet, Keltenvieh nennt man die Tiere, streng genommen heißen sie "Rotes Höhenvieh". Die 20 Tiere haben nur eine Aufgabe: Sie halten die Wiesen in Schuss. Denn die Reiferts mussten damals auf einen Schlag 55 Hektar Land nehmen, weniger ging nicht. Für den Weinstock brauchte Rolf Reifert aber nur vier Hektar. Also kam er auf die Rinder. "Das hat das Landschaftsbild ungemein beruhigt", sagt er. Unten auf der Wiese, kurz vor dem Seeufer stehen ein paar Schuppen und ein blauer Bauwagen, drinnen lagert Heu. Sieht alles so friedlich aus. Beruhigt, ja, das stimmt.
    Gegen 18 Uhr schließt Reiferts Straußwirtschaft am Weinberg. Die Sonne sinkt, ein Quad dröhnt verbotenerweise vorbei. Wir kommen ins Gespräch mit den letzten beiden Radfahrern, die ihren Tagebau-Wein austrinken. Peggy und Jens kommen aus Merseburg und sind noch gar nicht so lange ein Paar. Peggy hat eine Tochter, Jens hat zwei Söhne. Peggy ist Steuerberaterin, Jens ist Bauingenieur und kam nach seiner Scheidung zurück aus Augsburg.
    Jens und Peggy aus Merseburg machen Pause am Geiseltalsee im Weinberg
    Jens und Peggy aus Merseburg und Schkopau machen Pause am Geiseltalsee im Weinberg (Dirk Gebhardt)
    Das Geiseltal kennen beide schon ewig. Peggy ist immer am 6. Januar hergefahren. "Ich habe Fotos gemacht, wie sie den See gefüllt haben, jedes Jahr. Ich wollte sehen, wie sich die Landschaft verändert", sagt sie. Jens erinnert sich gut an das Buna-Werk in Schkopau. "Als ich meinen Motorrradführerschein gemacht habe, noch zu DDR-Zeiten, da sagten die Freunde: Fahr bei Regen nicht nach Schkopau, der Karbidstaub auf der Straße ist dann wie Schmierseife."
    Peggy hat trotzdem immer in Schkopau gewohnt, bis heute lebt sie im Haus ihrer Eltern, und sie kennt noch den grauen Rasen und die grauen Dächer. Im Sommer wurden sie als Kinder an den Werbellinsee geschickt, oben in Brandenburg, um sich vom Karbid zu erholen. "Wir hatten nie Moos auf den Dächern", sagt sie und muss lachen. "Aber wir hatten auch keine Kiwi-Allergie, so wie die Kinder heute."
    Der Weinberg liegt unter uns im Abendlicht, und wir reden über Heimat, über das Leben in Deutschland. Peggy und Jens sind sympathische, reflektierte Menschen und leben aus voller Überzeugung hier. Sie brauchen die Bindung an den Ort, an die Menschen. Das ist ihr Zuhause hier - seit einiger Zeit bereichert um einen ziemlich großen See mit einem Weinberg.
    "Neid macht Deutschland tot."
    Fragezeichen gibt es trotzdem, auch hier, natürlich auch hier. Auf die Frage, ob Merseburg eine tolerante, eine offene Stadt ist, antwortet Jens ohne lang zu zögern: "Nein". Peggy nickt. "Es gibt Vorbehalte und Schichten, die Stimmung machen. Das sind nicht die normalen Merseburger." Die zwei rechtsextremen Kundgebungen sind noch nicht lange her, und ein Bündnis der Merseburger hat sich den Rechten entgegengestellt. Die eine Kundgebung kam erst gar nicht zustande.
    Peggy leitet die Vorhehalte in der Bevölkerung auch aus der Industriegeschichte her: "Nach der Wende haben so viele Leute hier ihre Arbeit verloren, in Leuna zum Beispiel, da haben viele den Wendeschwung nicht mitbekommen. Das Problem ist ja immer das Gleiche - dass Menschen denken, dass es anderen Menschen besser geht als ihnen selbst." Peggy wird noch deutlicher: Wenn dann die Asylbewerber kämen, dann entstehe Neid. Sie schaut ernst. "Neid ist das Gift, das Deutschland durchdringt. Neid macht Deutschland tot. Dabei leben wir doch eigentlich im Luxus."
    Gespräche im Weinberg. Noch eine Stunde reden wir. Der Winzer Rolf Reifert ist nach Hause gefahren, die Straußwirtschaft hat geschlossen, aber es ist noch lange hell hier oben, über dem See. Es wäre toll, meint Peggy, wenn die ganzen Seen in der Region eines Tages verbunden würden. Dann würden die Touristen gezielt kommen, glaubt sie, und auch mal was länger bleiben. Wieder lacht sie. "Bisher nimmst Du die Gegend hier ja eher auf der Durchfahrt wahr".
    Getreidefeld in Sachsen-Anhalt, unweit vom Geiseltalsee
    Getreidefeld in Sachsen-Anhalt, unweit vom Geiseltalsee (Dirk Gebhardt)