Freitag, 19. April 2024

Zwölf Mal Deutschland
Der Türmer von Zittau

Es gibt noch Türmer in Deutschland. Felix Weickelt ist mit 25 Jahren der Jüngste. Er lebt auf 60 Metern Höhe im Turm der Johanniskirche von Zittau und schaut nach Polen und Tschechien. Die alte Türmerwohnung hat er renoviert, und er tut dreimal am Tag etwas, das die ganze Stadt mitbekommt. Bei Wind und Wetter.

Von Jörg-Christian Schillmöller (Text) und Dirk Gebhardt (Fotos) | 28.10.2015
    Morgens in Zittau: Türmer Felix Weickelt schaut aus 60 Meter Höhe über die Stadt.
    Morgens in Zittau: Türmer Felix Weickelt schaut aus 60 Meter Höhe über die Stadt. (Dirk Gebhardt)
    Wir können diese Einladung nicht ausschlagen. Eines Tages kommt eine Mail aus Zittau. Der Absender fragt, ob wir zum Abschluss unserer Wanderung durch Deutschland in der Wohnung eines Türmers übernachten wollen. Wir überlegen kurz. Zittau liegt nicht weit weg von Görlitz, und bei Görlitz geht unsere Reise zu Ende - dort liegt der östlichste Punkt Deutschlands. Von Görlitz nach Zittau dauert die Fahrt mit dem Bus eine Dreiviertelstunde. Wir sagen zu.
    In Zittau sehen wir sofort, wo wir hinmüssen: Die Johanniskirche ist präsent im Stadtbild, sie ist ungeheuer groß, schlicht und von trutzigem Klassizismus. Der große Schinkel wirkte im 19. Jahrhundert entscheidend daran mit, dass die Kirche ihr heutiges Gepräge bekam. Schon vom Bahnhof aus erahnen wir, dass der Türmer im Südturm wohnt, denn dieser Turm hat oben eine Brüstung. Sieht nicht hoch aus von Ferne, sind aber 266 Stufen.
    Atemlos durchs Gebälk
    Die Tür ist offen - tagsüber ist sie das meistens, denn der Turm ist ein öffentlicher Aussichtspunkt für Bürger und Touristen, und das seit vielen Jahren. Die Stufen sind aus Stein, und ich bin bald außer Atem. Mit dem Rucksack geht sowas nicht im Dauerlauf. Auf halber Höhe steht eine hölzerne Sitzbank, extra hingestellt zum Ausruhen. Wir ignorieren sie. Bald sind die Stufen aus Holz, und der Klang der Schritte wird dumpfer. Es wird eng um uns, wir sind im Gebälk des Turmes. Noch eine Treppe, dann sind wir da.
    Die Türmerwohnung in Zittau, mit Kachelofen und Türmer Felix Weickelt.
    Die Türmerwohnung in Zittau, mit Kachelofen und Türmer Felix Weickelt. (Dirk Gebhardt)
    Oben steht ein junger Mann. Felix Weickelt ist Mitte 20 und Türmer der Johanniskirche. Er ist kein extrovertierter Typ, dennoch sofort präsent. Er ist ebenso freundlich wie bescheiden, und er weiß viel über Zittau, über die Geschichte der Stadt, über die Wendezeit hier, aber vor allem über die Johanniskirche und ihren Turm. Er hat ein Erbe angetreten, das er mit neuem Leben füllt. Mit seinem.
    Das war am Anfang Knochenarbeit. Zwei Stockwerke auf 60 Meter Höhe renovieren sich nicht so einfach wie eine Altbauwohnung in der Fußgängerzone. Besonders schlimm war die Schleifmaschine für den Dielenboden, die haben sie mit drei Leuten nach oben gewuchtet. Immerhin gibt es im Turm Strom. Heute liegt der alte Holzboden wieder frei - und ist fast das schönste Möbelstück in der Türmerwohnung. Wäre da nicht das Bett über uns.
    360 Grad Aussicht über die Stadt - und ein Blick bis Polen und Tschechien
    Die Wohnung besteht aus zwei Geschossen. Im unteren Geschoss mündet die Treppe des Turmes. Rechts führt die Tür hinaus auf die Brüstung, auf den Balkon mit 360-Grad-Aussicht und einem Blick nach Polen und Tschechien. Drinnen ist Platz für eine winzige Küche und das Wohn- und Esszimmer. Ein viereckiger Tisch mit einer Schale Obst und vier Stühlen, auf denen regelmäßig Menschen sitzen und Felix Weickelt das Herz ausschütten. Ein Türmer ist auch ein Seelsorger. Links an der Wand hängt eine Pendeluhr, die laut tickt. Rechts steht ein großer Kachelofen und gegenüber ein E-Piano und ein Notenständer. Felix Weickelt gibt hier oben Trompetenstunden.
    Die allerletzte Treppe ist besonders steil und hinter einer Tür versteckt. Dort oben liegt das Schlafzimmer. Urgemütlich, die Wände rot, die Balken dunkel, auch hier Dielenboden - und eine niedrige Decke. Ich kann gerade noch stehen. In einer Ecke hat Felix Weickelt seine Matratze mit Bettzeug hingelegt. Es sieht kuschlig aus. Den Rest des Raumes nimmt das alte Türmerbett ein, ein wuchtiges Ehebett mit geschwungenem Kopf- und Fußteil aus Holz. Dort schlafen die Gäste - und heute wir. Felix Weickelt hat das Bett so aufgestellt, dass das Kopfende in den Raum hineinragt und die Füße zum Fenster zeigen. Ich stutze, aber dann verstehe ich: So kann man beim Einschlafen hinaus schauen auf die Stadt und sich morgens von der Sonne wachküssen lassen.
    Das alte Türmer-Ehebett in der Johanniskirche in Zittau, rechts auf den Bildern das Ehepaar Frey.
    Das alte Türmer-Ehebett in der Johanniskirche in Zittau, rechts auf den Bildern das Ehepaar Frey. (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    Der Beruf des Türmers galt früher nicht als sehr ehrenhaft . Türmer waren ungefähr so angesehen wie Henker und Nachtwächter. Dass sie unbeliebt waren, hatte einen konkreten Grund: Der Türmer hatte die Stadt im Blick, er wusste immer, welches Pärchen sich an der Stadtmauer traf - legal oder heimlich. Beruflich hatte er sich um zwei Dinge zu kümmern: Um Feinde und Feuer. Vor beidem musste er warnen. Als die Feinde ausblieben und die Feuerwehr moderner wurde, brauchte keiner mehr einen Türmer. Er wurde überflüssig.
    Im Turm lebte auch ein Schwein
    Oben im Schlafzimmer hängen zwei gerahmte Kohlezeichnungen. Sie zeigen das Ehepaar, das besonders lange hier oben gelebt hat, damals, im 19. Jahrhundert. Es gibt glaubhafte Berichte darüber, dass sie im Turm Hühner hielten, die ab und an raus durften auf die Brüstung, um nach dem Gras in der Dachrinne zu picken. Ich frage mich, ob Hühner schwindelfrei sind. Vieh gab es noch mehr: Die Familie hielt sich ein Schwein im Turm , es soll sogar hier oben geschlachtet worden sein. Platz dafür gibt es genug: Unterhalb der Wohnung liegen hohe Räume mit vielen Balken und uralten, abgewetzten Dielen. Hier lag früher der Stall. Ein Schweinestall im Kirchturm, das hätte ich gerne miterlebt.
    Ein Blick in das Gebälk - hier war früher der Stall für Schwein und Hühner.
    Ein Blick in das Gebälk - hier war früher der Stall für Schwein und Hühner. (Dirk Gebhardt)
    Heute steht in der alten Stallung das einzige Klo mit einem Miniatur-Waschbecken. Immerhin, es gibt fließend Wasser. Nur Duschen kann Felix Weickelt noch nicht im Turm. Dafür steigt er runter und klingelt ein paar Häuser weiter. Er kennt dort eine WG, da ist er immer willkommen. Er mag es ohnehin, hinunter zu den Menschen zu gehen - oder selbst Besuch zu bekommen . Schon von weitem hört er die Leute poltern und schnaufen beim Aufstieg. Es ist ein Traum von Leben: Ganz weit über den Dingen zu stehen - aber nur im räumlichen Sinne.
    Der Stadtpfeifer wurde Türmer
    Der Türmer auf dem Bild im Schlafzimmer hieß Carl August Frey. Er hat in das Türmerhorn gerufen, die Sturmglocke geläutet und die Fahne in Richtung Feuer gehalten. Eigentlich war er Stadtpfeifer, also Berufsmusiker, aber nicht sehr gut bezahlt. Carl August Frey zog 1836 mit seiner Frau Caroline Sophie nach hier oben. Als Türmer war er zwar kaum viel besser bezahlt, aber das Leben gefiel ihm, er fühlte sich wohl. Er zeugte zwei Kinder im Turm und blieb bis zu seinem Tod 1856. Seine Frau lebte danach noch fast 30 Jahre in der Türmerwohnung und übernahm den Dienst ihres Mannes.
    Felix Weickelt stammt aus Mittelherwigsdorf, das liegt ein paar Kilometer weiter. Er mag Uhren, Glocken und Türme, seit seiner Kindheit. Auch die Johanniskirche kennt er von klein auf, er war regelmäßig oben. Tief im Innern gab es diesen stillen Wunsch, einmal selbst dort oben zu leben. Als dann die Stelle ausgeschrieben wurde, zögerte er nicht. "Ich bin ehrlich", sagt er: "Ich war der einzige Bewerber. Bei der Türmerstelle in Münster war das zum Beispiel anders, da haben sich mehr als 40 Personen beworben."
    Panoramablick vom Turm der Johanniskirche in Zittau.
    Panoramablick vom Turm der Johanniskirche in Zittau. (Dirk Gebhardt)
    Auch das war mir neu: Es gibt etliche Türmer in Deutschland, sie sind organisiert in der "Europäischen Nachtwächter- und Türmerzunft". Im sächsischen Annaberg wohnt zum Beispiel eine ganze Familie im Turm von St. Annen - so wie einst die Freys in Zittau. Die Türmerin von St. Lamberti in Münster, Martje Saljé, bloggt über ihren Beruf. Sie muss an sechs Tagen in der Woche von 21 bis 24 Uhr alle halbe Stunde ein Signal vom Turm geben. Es klingt ein bisschen wie ein Nebelhorn.
    Felix Weickelt hört oft die Frage, ob er in einem Elfenbeinturm lebe. Ob das Leben dort oben so etwas wie eine Flucht sei. Für ihn ist das Gegenteil der Fall: Erstens ist der Turm fast immer geöffnet. Und zweitens hat Felix Weickelt sogar das Bedürfnis, seine Kontakte nach unten zu pflegen. Als wir abends mit ihm durch Zittau laufen, grüßt er alle paar Meter jemanden. Manchmal rufen die Leute sogar: "Hey, Türmer!" Nicht nur Felix Weickelt kennt Zittau. Zittau kennt auch ihn.
    "Ich singe Dir mit Herz und Mund"
    Wir reden, wir trinken Tee, der Nachmittag geht vorüber, es ist kurz vor 18 Uhr. Zeit für die Trompete . Felix Weickelt tritt hinaus auf den Balkon, er beginnt immer dort, wo die Sonne steht. Jetzt gerade steht sie im Westen. Er setzt die Trompete an und spielt für die Stadt. Er spielt den Choral "Ich singe Dir mit Herz und Mund". Danach klatscht jemand von unten, es ist irre, wie gut das hier oben zu hören ist.
    Die Trompete ist klar, aber unaufdringlich. Er macht der Stadt ein Angebot, er spielt sich nicht auf, er spielt einfach nur, und nicht nur Choräle. Morgens spielt er auch mal "Morning has broken", und er erfüllt Wünsche. Er hat schon Jazz gespielt - in Richtung Schule. Oder jüdische Melodien zum Sabbat. Felix Weickelt spielt dreimal am Tag, um kurz vor 7 morgens, um kurz vor 12 mittags und jetzt, um kurz vor 18 Uhr abends. Er spielt bei Wind und Wetter, sommers wie winters. Er lässt auch andere spielen - aber sie müssen es können. Er will die Zittauer nicht überstrapazieren.
    Nach dem 18-Uhr-Konzert gehen wir durch die Altstadt. Felix Weickelt zeigt uns die Innere Weberstraße, wir kommen kaum vorwärts, so viele Leute kennt er. Er erzählt uns vom Architekten Benjamin Pfefferkorn, der das Haus auf der Ecke gekauft habe, um es vor dem Verfall zu retten. Und keine zwei Minuten später treffen wir Benjamin Pfefferkorn selbst. "Wann gehen wir mal wieder was trinken, Felix?", fragt er. "Och", sagt der Türmer, "wann Du willst, ich bin ja eh meistens oben."
    Wir sehen Zittau mit den Augen von Felix Weickelt: das renovierte Stadtbad - ein Tempel mit einer Front aus Säulen, gelblich beleuchtet. Die Klosterkirche mit ihrem schlanken Turm. Den Marktplatz, den Rathausplatz, das Salzhaus. Und natürlich die Fleischerbastei mit der Blumenuhr: Drei Mal im Jahr wird sie bepflanzt, die großen Zeiger bewegen sich über den Blumen, darunter tickt ein echtes Turmuhrwerk.
    Die Johanniskirche riecht nach frischem Gemüse
    Nach dem Abendessen gehen wir zurück zur Johanniskirche. Und erleben drinnen ein nächtliches Trompetenkonzert , nur für uns. Felix Weickelt spielt zwei, drei kurze Stücke, die den riesigen Raum der Kirche ausfüllen und lange nachhallen. Dazu riecht die Kirche nach frischem Gemüse. Denn auf den Stufen vorne am Altar liegen Kürbisse, Kohlrabi, Grünkohl, Möhren, Petersilie, Salate, Radieschen und Blumenkohl. Es ist ein vegetarisches Gemälde. Der Grund ist einfach: Morgen findet der Erntedankgottesdienst statt.
    Dann singt Felix Weickelt noch für uns. Er singt Countertenor , seine Stimme klingt jetzt wie die eines Chorknaben, es ist verblüffend, was in diesem Menschen steckt. Bereits wiederbelebt hat er den Chor am Weise-Gymnasium, den er für andere Schulen geöffnet hat. Als er anfing, waren sie zu fünft, heute sind es mehr als 30 Schüler. Felix Weickelt ist nicht mehr so sicher, wie lange er Türmer bleibt. Noch ein Jahr? Noch zwei? Wir gehen schlafen, im alten Türmer-Ehebett. Felix Weickelt kuschelt sich in seine Matratzenecke, und Dirk und ich schlafen ein mit dem Blick über das nächtliche Zittau.
    Brötchenholen = 266 Stufen runter und wieder hoch
    Morgens sind wir früh auf den Beinen, es ist Sonntag, und Felix muss um kurz vor 7 das erste Mal Trompete spielen. Danach frühstücken wir, oben auf dem Balkon. "Ich gehe mal Brötchen holen", habe ich gesagt - das bedeutet: Frühsport im Kirchturm, 266 Stufen runter und wieder hoch. Während unseres Türmerfrühstücks geht die Sonne auf, der Blick über die Stadt ist spektakulär, es liegt ein sanftes, goldenes Licht über den Häusern von Zittau. Dazu der erste Kaffee.
    Kurz danach stehen wir unten auf der Straße, die Rucksäcke auf den Schultern und werfen einen letzten Blick hinauf. Felix Weickelt winkt. Es ist ein symbolisches Winken, aber das kann er nicht wissen. Denn jetzt, in genau diesem Moment, ist unsere Wanderung wirklich vorüber. Das war ein Jahr Deutschland. Von Isenbruch bis Zittau, es waren am Ende um die 800 Kilometer. Und es hätte kein schöneres Ende geben können als dort oben, auf dem Turm der Johanniskirche, beim Türmer mit der Trompete.

    PS. Felix Weickelt schreibt mir später in einer Mail noch einen Gedanken. Über seine Stadt, Zittau. Ich frage ihn, ob ich die Zeilen veröffentlichten darf. Er sagt ja.
    "Diese einst reiche Handelsstadt hat in den letzten 25 Jahren so viel verloren: Industrie, Arbeit, Menschen. Viele gebrochene Biografien (...). Es gibt hier aber überdurchschnittlich viele, die einen Wert aus dieser verlorenen Situation schöpfen, vielleicht weil sie die Menschen und die Landschaft um sich herum lieben. Mir zumindest geht es damit nicht allein, wenn ich als junger Mensch entschieden habe, hier etwas aufzubauen und oberflächliche Bedürfnisse zurückzustellen wie z.B. eine unüberschaubare Anzahl von Menschen und Möglichkeiten um mich herum haben zu müssen. Leben kann hier gelingen, in großer Freiheit und viel Freiraum."