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1.5.1904 - Vor 100 Jahren

Der Kerl hat mehr Ideen als wir alle. Aus seinen Abfällen könnte sich jeder andere die Hauptthemen zusammenklauben.

Von Michael Stegemann | 01.05.2004
    Der "Kerl”, den kein geringerer als Johannes Brahms in so rauhbeinig-herzlicher Manier für seinen Ideen-Reichtum lobte, war der Tscheche Antonín Dvořák. Und wirklich: Es gibt wohl nur wenige Komponisten, deren Oevre mit einer solchen Melodienfülle aufwartet - von einem Greatest Hit zum nächsten, und einer wunschkonzert-verdächtiger als der andere, ob es nun - um nur zwei Beispiele zu nennen - die Symphonie "Aus der Neuen Welt” ist oder die siebente der acht Klavier-Humoresken Opus 101.

    Beethoveńsches Kämpfen und Ringen waren Dvořák zwar nicht fremd, aber alles in allem scheint ihm das Komponieren doch eher leicht von der Hand gegangen zu sein.

    In einschlägigen Biographien und Lexika wird gerne vom "böhmischen Musikantentum” geredet, wenn es um seine Rolle als Kopf der nationalen tschechischen Schule geht - so als habe er ja bloß tief in die große Kiste der Volks-Lieder und -Tänze seiner Heimat greifen müssen, um aus deren Fundus seine Einfälle hervorzuziehen. Doch Vorsicht: Dvořáks Musik ist alles andere als "volkstümlich”, trotz aller slawischen Dumka-, Furiant- und Polka-Anklänge; unter der scheinbar so glatten Oberfläche eingängiger Melodien verbirgt sich eine subtile und raffinierte Kompositions-Technik, und seine Werke gehören nicht nur im national begrenzten Kontext der tschechischen Musikgeschichte zum Besten und Bedeutendsten, was das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat.

    Entsprechend lange dauerte es denn auch, bis Dvořák als Komponist Beachtung und Anerkennung fand. Geboren 1841 in dem böhmischen Dorf Nelahozeves als Sohn eines Metzgers (und ursprünglich für denselben, denkbar unkünstlerischen Beruf bestimmt), musste Dvořák jahrzehntelang als Orchester-Bratscher, Kirchen-Organist und privater Musiklehrer sein Leben fristen, bevor er 1878 mit einer ersten Sammlung von Slawischen Tänzen seinen internationalen Durchbruch erlebte und sich fortan ganz aufs Komponieren verlegen konnte. Anfangs waren seine Erfolge sogar im Ausland - in Deutschland und vor allem in England - größer als in seiner Heimat, und erst seine Berufung als Kompositionslehrer an das Prager Konservatorium (im Jahre 1891) bestätigte seine herausragende Rolle im tschechischen Musikleben. Trotzdem folgte er 1892 einer Einladung der amerikanischen Mäzenin Jeanette Thurber und übernahm für vier Jahre eine Professur am New Yorker National Conservatory. Doch obgleich ihn die Neue Welt begeistert empfing, war Dvořák heilfroh, 1895 nach Prag zurückkehren zu können, wo in den nächsten Jahren wie in einem Schaffensrausch Werk auf Werk entstand. Als Antonín Dvořák, 62 Jahre alt, am 1.Mai 1904 in seiner Prager Wohnung an den Folgen eines Gehirnschlags starb, hinterließ er zehn Opern und sieben große Kirchenmusiken, neun Symphonien und fünfzig weitere Orchesterwerke, rund fünfzig Kammermusiken, ebenso viele Klavierstücke und knapp einhundert Lieder. Dennoch tat sich die Musikwelt damals noch schwer damit, ihn rückhaltlos zu loben, wie ein Lexikon-Eintrag von 1908 zeigt:

    Trotz mancher groben Verstöße gegen die Forderungen eines verfeinerten ästhetischen Urteils muss sogar Dvořák überhaupt zu den schöpferkräftigsten der neuern Komponisten gezählt werden.

    Inzwischen freilich erkennt auch "ein verfeinertes ästhetisches Urteil” neidlos an, dass der "Kerl” mit seinen schier unerschöpflichen Ideen zu den ganz Großen gehört.