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10. Jahrestag des Massakers von Utoya
Norwegen und das Gedenken an die Anschläge

Bis heute sei die politische Aufarbeitung von Rechtsextremismus in Norwegen nicht genügend vorangeschritten, sagte Politikwissenschaftler Tobias Etzolg im Dlf anlässlich des 10. Jahrestages der Anschläge von Utoya und Oslo. Das habe die Spaltung der Gesellschaft weiter vorangetrieben.

Tobias Etzold im Gespräch mit Bastian Rudde | 22.07.2021
Erinnerung an das Massaker von Utoya 2011, drei Personen stehen vor einer Gedenktafel
Heute gedenkt Norwegen an das Massaker auf Utoya, bei dem viele junge Menschen starben - viele Überlebende kämpfen noch heute mit dem Trauma (picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Heiko Junge)
Am 22. Juli 2011 erschoss der norwegische Rechtsextremist Anders Behring Breivik auf der norwegischen Insel Utoya in knapp anderthalb Stunden 69 meist junge Menschen, die an einem traditionellen Sommercamp der Arbeiterjugend teilnahmen. Zuvor hatte er im Osloer Regierungsviertel acht Menschen mit einer Bombe getötet.
Die Brutalität und Grausamkeit der Taten hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Norweger eingegraben. Bis heute beschäftigt die Frage, wie man politisch, präventiv und auch in der Strafverfolgung verhindern kann, dass sich Menschen in rassistischen Ideologien und Verschwörungserzählungen versteigen und so zu Gewalttätern werden – oftmals verborgen in der Anonymität des Internets.
Der Politikwissenschaftler Tobias Etzold, Nordeuropa-Experte an der Universität Trondheim, bilanziert: Selbst zehn Jahre nach dem Massaker seien die Vorgänge immer noch nicht zu begreifen. Gleichzeitig sei die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht gespalten: Die Diskussion, ob es sich um einen Angriff auf die gesamte norwegische Gesellschaft gehandelt habe oder ob es die Tat eines verwirrten Einzeltäters sei, trübe das Gedenken an die Opfer.
Besonders die politische Auseinandersetzung mit dem Thema Rechtsextremismus habe in den Augen vieler nicht ausreichend stattgefunden. Rechtspopulistischen Parteien und die Fortschrittspartei hätten sich hingegen gegen eine tiefere politische Aufarbeitung gewehrt und wüssten bis heute, die Angst vor Migranten oder eines Ausverkaufs des Wohlfahrtsstaates zu nutzen.
Luftaufnahme der Insel Utoya.
Norwegen und der Massenmord - Zehn Jahre nach Breiviks Tat
Der rechtsextreme Attentäter Anders Breivik mordet am 22. Juli 2011 im Regierungsviertel von Oslo und verübt dann ein Massaker in einem Ferienlager auf der Insel Utøya. 77 meist junge Menschen sterben. Bis heute ein nationales Trauma.

Das Interview im Wortlaut
Bastian Rudde: Herr Etzold, wie nehmen Sie denn die Stimmung heute am zehnten Jahrestag der Anschläge in Norwegen wahr?
Tobias Etzold: Die Stimmung hier in Norwegen ist ernst, aber gefasst, würde ich sagen. Man bekommt jetzt als Einzelperson und Außenstehender – wie ich als Ausländer in Norwegen – jetzt direkt, unmittelbar nicht so wahnsinnig viel in seinem persönlichen Umfeld davon mit, aber dem Thema wird sehr große Aufmerksamkeit gewidmet, der norwegische Rundfunk überträgt den ganzen Tag die Gedenkveranstaltungen. Und man sieht schon immer und hört schon immer wieder, dass viele die Ereignisse von damals immer noch nicht fassen können, dass die Ereignisse von damals immer noch nachhallen und auch starke Emotionen hervorrufen im ganzen Land. Denn in gewisser Weise war das ganze Land irgendwie betroffen, alle Regionen des Landes, nachher werden auch um 12 Uhr im ganzen Land die Glocken läuten zum Gedenken an die Ereignisse von damals.

Streit um ein Mahnmal auf Utoya

Rudde: Solch ein Gedenken wie heute, das dient ja unter anderem dazu, Zusammenhalt zu schaffen. Andererseits haben die Anschläge und ihre Aufarbeitung auch ein gewisses Spaltpotenzial gehabt in Norwegen. Es gab zum Beispiel einen langen juristischen Streit um ein Mahnmal auf Utøya, das eigentlich heute enthüllt werden sollte.
Menschen haben sich um das Denkmal «Jernrosene» (deutsch: die Eisenrosen) vor dem Osloer Dom versammelt. 
Das Denkmal "Jernrosene" (deutsch: die Eisenrosen) erinnert vor dem Osloer Dom an die Anschläge von Oslo und Utoya (Terje Bendiksby/NTB scanpix/dpa)
Die Kritik daran war, etwas salopp gesprochen, dass man die Ereignisse nicht immer wieder ständig vor Augen geführt haben will. Wie sehr trüben solche Diskussionen das Gedenken an die Opfer?
Etzold: Dass man auch keinen Betroffenheitstourismus vor Ort schaffen will. Diese Diskussionen über dieses Thema, aber um viele anderen Themen, trüben die Gedenken an die Opfer schon ziemlich stark, würde ich sagen. Die Gesellschaft ist in gewisser Weise gespalten, nicht nur, was das Denkmal oder Mahnmal betrifft, sondern generell, was den Umgang mit den Ereignissen von damals betrifft. Anfangs gab es noch einen relativ starken Zusammenhalt, aber der ist relativ bald Einzelinteressen gewichen und sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen auf die Situation und auf die Ereignisse. Die einen wie der damalige sozialdemokratische norwegische Ministerpräsident, Jens Stoltenberg, haben die Anschläge als Angriff auf die gesamte norwegische Gesellschaft wahrgenommen, auf die Werte Norwegens, der norwegischen Gesellschaft. Andere haben das eher begrenzt auf die sozialdemokratische Partei, die sozialdemokratische Jugendorganisation und deren Werte wurden getroffen, aber nicht die gesamte norwegische Gesellschaft. Andere bezeichnen es als Unglück, als Tat eines verwirrten Einzeltäters, der aber nicht die gesamte norwegische Gesellschaft repräsentiert.

Schärfere Gesetze und bessere Opferbetreuung

Rudde: Kommen wir mal auf den Punkt, den ich schon angeschnitten habe. Politische Konsequenzen, Prävention, bessere Strafverfolgung: Hat Norwegen genug gelernt aus dem, was am 22. Juli 2011 passiert ist?
Etzold: Man muss da, denke ich, unterscheiden, auf der einen Seite, auf der eher administrativen, bürokratischen Ebene und der politischen Ebene. Also, es hat da eine Untersuchung gegeben vor einigen Jahren, dort ging es vor allem um das Funktionieren der Polizeimenge bei der Polizei. Der Polizei wurden damals ja auch große Fehler vorgeworfen, sie sei nicht schnell genug vor Ort gewesen, sie hätte keine Hubschrauber zur Verfügung gehabt. In diese Richtung ist durchaus einiges geschehen, bessere Ausrüstung der Polizei, allerdings gibt es immer noch Personalprobleme bei der norwegischen Polizei. Schärfere Gesetze, bessere Opferbetreuung. Also, in die Richtung ist schon einiges passiert, aber die politische Aufarbeitung, die politische Auseinandersetzung mit dem Thema Rechtsextremismus, was bedeutet das für das Land, wie kann man den rechtzeitig eindämmen, die hat es so nur begrenzt gegeben. Und das wiederum führt auch zu der bereits angesprochenen Spaltung des Landes. Einige fordern das, Sozialdemokraten fordern das sehr stark, dass stärker politisch nachgedacht wird. Andere aus dem eher konservativ-rechten Spektrum wehren sich dagegen.
Die Laiendarstellerin Andrea Berntzen rennt in einer Szene des Films "Utøya 22. Juli" durch einen Wald. 
Berlinale-Film "Utøya 22. Juli"
Der Film "Utøya 22. Juli" setzt sich mit dem Anschlag von Anders Breivik 2011 auf ein Feriencamp in Norwegen auseinander. Er vermittle gut das mitunter sinnlose Handeln im Angesicht der Bedrohung, sagt "Tagesspiegel"-Filmkritikerin Christiane Peitz.

Rechte Parteien profitieren weiterhin

Rudde: Sie sprechen die Politik an, bis vor Kurzem war die rechte Fortschrittspartei in Norwegen an der Regierung beteiligt. Die Rhetorik solcher Parteien wird ja als möglicher Nährboden für spätere Gewalttäter gesehen. Wie erklären Sie sich denn, dass solche Parteien trotzdem recht erfolgreich sind – auch in anderen Ländern Nordeuropas?
Etzold: Man muss natürlich unterscheiden zwischen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus. Das ist aber hier teilweise auch nicht passiert, deswegen haben sich auch gerade die rechtspopulistischen Parteien und die Fortschrittspartei gegen eine stärkere politische Aufarbeitung gewehrt, weil sie ihre Anliegen für durchaus berechtigt halten, aber sie eben nicht als rechtsextrem und nicht als undemokratisch bezeichnen. Die Partei hat eine starke Stellung in Norwegen, bereits bei den Wahlen vor den Anschlägen hatte sie über 20 Prozent. Das ist später etwas zurückgegangen, aber immerhin konnte sie 2013 der Regierung beitreten und war Teil der Regierung 2020. Angst vor Migration, Angst vor Globalisierung, ich denke, das sind die wichtigen Themen, die Angst vor Ende des Wohlfahrtsstaates, wovon vor allem Ausländer Gebrauch machen, das sind die wichtigen Themen, wo rechte Parteien in Nordeuropa von profitieren.
Rudde: Ganz kurz zum Abschluss: Wie groß ist in Norwegen die Angst vor Nachahmer-Taten?
Etzold: Ja, es gibt gewisse Angst davor - wie groß das Potenzial ist, darüber lässt sich nur spekulieren. Aber wie Sie vorhin schon angesprochen haben: Es gibt rechtsextreme Netzwerke, vor allem auch im Internet, die im Dunkeln operieren, wo man nicht so richtig weiß, was die tun, was die vorhaben, wie groß die sind. Das hat sich durch auch noch mal verstärkt hier in Norwegen.
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Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.