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100 Jahre Dschungelheld

Vor genau 100 Jahren erschien der Abenteuerroman "Tarzan bei den Affen" von Edgar Rice Burroughs. Zu diesem Jubiläum publiziert der Schweizer Verlag Walde+Graf drei von gut zwei Dutzend Tarzanbänden, die Burroughs während 30 Jahren schrieb.

Von Martin Grzimek | 10.08.2012
    "’Ach John (...) ich hatte einen schrecklichen Traum, mein Lieber. Ich glaubte, wir wären nicht mehr in London, sondern an einem grauenvollen Ort, wo große Tiere über uns herfielen.’ – ‚Schon gut, Alice’, sagte er und strich ihr über die Stirn. ‚Versuche, weiterzuschlafen, und zerbrich dir nicht den Kopf wegen böser Träume.’ – In jener Nacht wurde in der winzigen Hütte am Rand des Urwalds ein kleiner Junge geboren, während ein Leopard vor der Tür schrie und das tiefe Gebrüll eines Löwen über den Höhenzug drang."

    John und Alice, das sind John Clayton, Lord der englischen Grafschaft Greystoke, und Alice Rutherford, seine hübsche junge Frau, mit der zusammen er im Mai 1888 im Auftrag des britischen Kolonialministeriums an die Westküste Afrikas aufbrach, um dort in den Kolonien nach dem Rechten zu sehen, da es Klagen gegeben hatte über die Behandlung sogenannter "eingeborener britischer Untertanen" durch die weißen Befehlshaber. Doch das Schiff erreichte nie seinen Bestimmungsort, John und Alice galten als verschollen. Erst später wurde durch den Fund von Aufzeichnungen im Archiv des British Colonial Office bekannt, dass die beiden Schiffbrüchigen sich an die Küste retten konnten. Sie bauten sich am Rand des Urwalds eine einfache Hütte, statteten sie aus mit dem Wenigen, das sie vom gestrandeten Schiff retten konnten, und Alice brachte dort ihren ersten und einzigen Sohn zur Welt. Doch während die Eltern die wilde Natur nicht überlebten und schon ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes starben, wurde aus dem "kleinen Jungen", aufgezogen von einer Horde Menschenaffen, ein weltberühmter Held, allen bekannt unter dem Namen "Tarzan". Mit ihm hat sein geistiger Schöpfer, der amerikanische Schriftsteller Edgar Rice Burroughs, eine fiktive Figur geschaffen, die sich zwar wie etwa Robinson Crusoe oder die Helden Jules Vernes aus der Abenteuerromantik des ausgehenden 19. Jahrhunderts speist. Als wegweisendes Modell des modernen Trivialmythos’ aber hat er die Grenzen des Literarischen gesprengt und ist zum Vorbild geworden für alle ihm folgenden Supermänner und Halbgötter, die in unzähligen Comics und Filmen das Kernstück der amerikanischen Unterhaltungsindustrie ausmachen. In unseren Tagen ist Tarzan zwar von Harry Potter, den Niñas oder Avataren an den Rand der kollektiven Erinnerung gedrängt worden. Als Phänomen einer neuen Art, Geschichten zu schreiben und Figuren zu kreieren, die in scheinbar endlosen Variationen und Folgen ewig fortzuleben scheinen, ist er aber von erstaunlicher Aktualität geblieben. Mehr noch: An Tarzan können wir aus der historischen Distanz eines ganzen Jahrhunderts nachvollziehen, welche Mittel und Umstände nötig sind, um uns bis in unsere täglichen Telenovelas hinein mit Bildern und Geschichten so einzunebeln, dass wir beinahe süchtig nach den Automatismen ihrer wie sich aus sich selbst generierenden Fortsetzungen verlangen.

    "Tarzan bei den Affen" hieß der erste Abenteuerroman von Edgar Rice Burroughs, erschienen vor genau hundert Jahren. Dieses Jubiläum hat sich der Schweizer Verlag Walde und Graf zu Herzen genommen, um drei Tarzanbände, drei von gut zwei Dutzend, die Burroughs während dreißig Jahren schrieb, zu publizieren. Peter Graf hat die einzelnen Bücher, illustriert mit Collagen von Patric Sandris aus Tarzanfilmen der 50er und 60er Jahre in einem Schuber veröffentlicht, dessen Festigkeit zu den einfachen, taschenbuchähnlichen Bänden mit flexiblem Leineneinband und griffigem Papier im Widerspruch zu stehen scheint. Ein Widerspruch, der ganz bewusst gewählt wurde, um das Überdauern des "Trashigen" auch haptisch bewusst zu machen. Was allerdings dieser mutigen Edition fehlt – dies ist mit einem Augenzwinkern gemeint –, ist eine aus einem einliegenden Tonträger erschallende Stimme, wenn man die Bücher aus dem Schuber herausschüttelt: Tarzans bis heute unverwechselbares akustisches Markenzeichen, sein animalisch-menschlicher Schrei.

    "Als er zu Boden gefallen war, setzte Tarzan von den Affen seinem Todfeind, der ihn sein Leben lang verfolgt hatte, den Fuß ins Genick, blickte zum Vollmond empor, warf ungestüm sein junges Haupt zurück und stieß den wilden und furchteinflößenden Ruf seines Volkes aus."

    "Eine Geschichte, wie Sie noch nie eine gelesen haben" – mit diesem Statement etwa reagierte die damalige Presse auf Burroughs ersten Tarzanroman, der auf seinen dreihundert Seiten das Leben des weißhäutigen "Affenmenschen" erzählt, von seiner adligen Herkunft, seinem animalischen Instinkt, gepaart mit überdurchschnittlicher menschlicher Intelligenz und unbändiger Kraft. Wie ein Trapezkünstler schwingt er sich an den Lianen von Baumkrone zu Baumkrone, versteht die Sprache der wilden Tiere, bringt sich selbst Lesen und Schreiben bei, rettetet Freunde vor den Kochkesseln der Ureinwohner, tötet Feinde brutal und rücksichtslos. Schließlich trifft er auf Jane Porter, Tochter eines amerikanischen Professors, der sich zusammen mit einem Verwandten Tarzans auf die Suche nach den verschollenen Claytons gemacht hat. In dem ewigen Auf und Ab der Kämpfe des Dschungels rettet Tarzan Jane, entdeckt die Liebe zu ihr und folgt ihr schließlich über Paris nach Amerika. Er hat inzwischen fließend Französisch gelernt und kann sogar Auto fahren. Am Ende des Romans schließlich erfährt er, dass er, der Affenmensch, der legitime Nachfahr der adligen Familie Greystoke aus England ist. Nun könnte er sich nehmen, was ihm schon immer gehört hat: sein reiches Erbe und die schöne Jane:

    "Du bis jetzt frei, Jane", sagte er, "und ich bin in Jahrhunderten aus nebelhafter und ferner Vergangenheit vom Lagerplatz des urzeitlichen Menschen gekommen, um Anspruch auf Dich zu erheben – um deinetwillen bin ich ein zivilisierter Mensch geworden – um deinetwillen habe ich die Ozeane und Kontinente überquert – um deinetwillen will ich werden, was immer du willst. Ich kann dich auch in dem Leben glücklich machen, das du kennst und am meisten liebst, Jane. Willst du mich heiraten?"

    Jane will, aber sie kann nicht, hat einem anderen ehrenwerten Mann bereits ihr Jawort gegeben, und so verzichtet Tarzan – ganz Gentleman – auf die Frau seiner Träume und seine Erbschaft. Als Janes zukünftiger Mann, der von der wahren Herkunft Tarzans nichts ahnt, ihn fragt, was "zum Teufel" ihn in "diesen vermaledeiten Dschungel verschlagen" habe, antwortet Tarzan ruhig:

    "Ich wurde dort geboren (...). Meine Mutter war ein Affe, und natürlich konnte sie mir nicht viel darüber erzählen. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt."

    Diese Geschichte vom adligen Affenmenschen, der so ‚zivilisiert’ ist, dass er sogar auf seine einzige Liebe verzichtet, muss die Leser von Edgar Rice Burroughs derart fasziniert haben, dass sie ihm seine haarsträubende Logik und sämtliche, bis ins Groteske hinein wirkende Details verziehen oder sie schlichtweg überlesen haben. Vom fleischfressenden Gorilla bis zum kannibalistischen "Neger", von kaum vorstellbaren Ortsangaben und einer waghalsigen Zeiteinteilung neben einer Vielzahl rassistischer Sprüche und Klischees – bereits Burroughs erstes Tarzanbuch, wohl als eigenständiges, vollendetes Werk geplant, strotzt vor Fehlern und Beliebigkeiten, vor Vereinfachungen und ideologischen Übertreibungen, ganz abgesehen vom stilistischen Kitsch, etwa wenn Janes "goldblonder Haarschopf"

    "über ihr ovales Gesicht wie ein glitzernder Wasserfall (fiel), den die untergehende Sonne in flüssiges Gold verwandelt hatte und (ihr) in Wellen bis zur Hüfte (reichte)",

    oder dramatische Szenen, deren Darstellung voller unfreiwilliger Komik stecken:

    "Wenn ein unbekleideter Mann ein heiser brüllendes, mit Krallen bewährtes, menschenmordendes Tier am Schwanz aus einem Fenster zog, um eine fremde weiße Frau zu retten, bedeutete dies in der Tat den Gipfel des Heldentums."

    Doch Edgar Rice Burroughs - er war 36 Jahre alt, als er seinen Tarzan verfasste - ging es nie darum, ein literarisch anerkannter Autor zu werden. Er wollte, nachdem er glücklos als Goldschürfer, Viehtreiber, Polizist und Vertreter sein Leben gefristet hatte, vor allem eines: Geld verdienen. Und in dieser Beziehung muss er ein gutes Gespür gehabt haben, denn seit "Tarzan bei den Affen" erschien nun ein Roman nach dem anderen, ausufernd in den wildesten Episoden, in denen Tarzan den Mond rettet, bei den Mayas ist oder gar zum Mittelpunkt der Erde reist. In endlosen Reihen erschienen später dann auch Comics und Bilderfolgen in Heftchenform und Büchern, und mit markanter Stimmen wurden die Abenteuer Tarzans in Radiohörspielen gebracht.

    Aber auch um seine politisch konservativen Ansichten einzubringen, benutzte Burroughs seine Erfindung. In dem 1920 erschienen Band "Tarzan der Unbezähmbare" konfrontiert er seinen Helden mit den Deutschen zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Er schildert die Deutschen mit so viel Hass und Abneigung, dass dieser Band nicht nur unübersetzt blieb, sondern sogar die anfängliche Tarzanbegeisterung in Deutschland umschlug in eine Ächtung des Autors. In dem Bewusstsein, sich um mögliche Tantiemen gebracht zu haben, überlegte sich Burroughs daher, aus den Deutschen Österreicher zu machen, um seine Bücher in der Weimarer Republik weiter verkaufen zu können. Gleichwohl ist allgemein anerkannt, das "Tarzan der Unbezähmbare" das beste Buch von Burroughs ist. Leider entschied sich der Verlag Walde und Graf als zweiten Band seiner Trilogie im Schuber für ein anderes Buch, in dem der Autor sich zu beginn des Zweiten Weltkriegs mit den Deutschen auseinandersetzt, nämlich in dem 1940 erschienen Roman "Tarzan und die Schiffbrüchigen", in dem Tarzan nach und nach die deutsche Besatzung eines gestrandeten Kriegsschiffes beseitigt. Der dritte Band der Reihe "Tarzan und der Verrückte" ist in deutscher Sprache bislang unveröffentlicht und erschien in Amerika posthum. Auch er erinnert in der Zusammensetzung seiner Episoden an eine wilde, strukturlose Aneinanderreihung phantastischer Urwald-Erlebnisse mit menschenfressenden Löwen und geldgierigen Weißen, allerdings mit dem verblüffenden Grundthema, dass sich Tarzan in einem Doppelgänger, gewissermaßen in einem verirrten Tarzanfan gespiegelt sieht. Mit diesem Band stellt sich der trivialmythische Held gleichsam selbst auf den Kopf, das Phantastische entlarvt sich durch eine völlige Sinnentleerung der reproduzierten Phantasmen. Der Publizist Georg Seeßlen hat am Schluss dieses Bandes einen sehr lesenswerten Essay über den "Affenmensch und wie er sich zur Sprache brachte" verfasst. Darin geht es nicht nur um die verwunderliche "Menschwerdung" Tarzans, um die trivialmythische Aufhebung des Widerspruchs zwischen Mensch und Natur in den Romanen von Edgar Rice Burroughs, sondern auch um dessen pittoreskes Leben. 1999 erschien von John Taliaferro unter dem Titel "Tarzan Forever – The Live of E.R. Burroughs" eine kenntnisreiche Biographie über den Autor. Sie ist bis heute nicht ins Deutsche übersetzt – ein Projekt, das Walde und Graf ins Auge fassen sollte. Mit seinem Tarzan-Schuber hat uns aber der Herausgeber gleichwohl ein Stück amerikanische Kultur- und Geistesgeschichte in Erinnerung gerufen, mit der wir uns viel zu wenig auseinandersetzen. Wir bezeichnen Trash-Literatur und Pulp-Fiction, wie sie uns im Tarzan begegnen, mit dem abfälligen Wort "Schund" und vergessen dabei, wie tief sich ihre Wurzeln in unser kulturelles Konsumverhalten schon eingenistet haben. Paradoxerweise lassen wir unsere Phantasie allzu gerne von trivialen Klischees steuern, je analytischer und differenzierter wir uns anscheinend mit unserer gegenwärtigen Welt auseinandersetzen.

    Buchinfos:
    Drei Romane im Schuber ("Tarzan bei den Affen", 288 Seiten, übersetzt von Ruprecht Wilnow; "Tarzan und die Schiffbrüchigen", 128 Seiten, übersetzt von Marion Hertle; "Tarzan und der Verrückte", 208 Seiten, übersetzt von Stephan Pörtner). Mit einem Essay von Georg Seeßlen. Walde+Graf Verlag, Zürich 2012, 26,95 Euro.