Freitag, 19. April 2024

Archiv

100 Jahre Saarland
Zerrieben zwischen den Interessen

Mit Inkrafttreten des Versailler Vertrags am 10. Januar 1920 entstand das Saargebiet als eigenständige Region. Es wurde in dieser Zeit zwischen Deutschland und Frankreich hin- und hergerissen. Daraus hat sich eine eigene Mentalität mit einem eigenen Gemeinschaftsgefühl entwickelt.

Von Tonia Koch | 10.01.2020
Das Foto zeigt die Saarschleife, Wahrzeichen und berühmtestes Naturdenkmal des Saarlandes.
Wahrzeichen und berühmtestes Naturdenkmal des Saarlandes: die Saarschleife (imago / Becker&Bredel)
Eigentlich hatten die Franzosen mit dem Landstrich an der Saar nach dem Ersten Weltkrieg anderes vor, sie wollten sich das Saargebiet einverleiben. Dagegen regte sich jedoch Widerstand, sagt die Saarbrücker Historikerin Gabriele Clemens:
"Es ging ja in erster Linie um Reparation. Man muss ja auch hinzu sagen, dass natürlich Frankreich am liebsten das ganze linke Rheinufer annektiert hätte ohne Abstriche und es ist vor allem dem amerikanischen Präsidenten Wilson und den Engländern zu verdanken, dass Sie sich nicht durchsetzen konnten. Also sie haben schon nicht das bekommen, was sie haben wollten, aber man wollte zumindest in diesen 15 Jahren an Reparationszahlungen herausbekommen, was möglich war."
Politisch wurde das Saargebiet von einer international zusammengesetzten Regierungskommission verwaltet. Sie unterstand dem Völkerbund. Das Mandat war auf 15 Jahre begrenzt und endete 1935. Wirtschaftlich hatten die Franzosen das Sagen. Die Kohlegruben waren ihnen übereignet worden, deshalb orientierte sich der Gebietszuschnitt an der Lage der Gruben, erläutert Simon Matzerath, der Leiter des Historischen Museums in Saarbrücken:
"Es geht eigentlich nur um die Industrie und deren Einzugsgebiet."
Beamtenaufstände und Bergarbeiterstreiks
Das Museum hat eine Ausstellung zu den 1920er-Jahren an der Saar konzipiert und gleich zu Beginn leuchten auf einer Tafel die zahlreichen Grubenstandorte und die Wohnorte der Hütten-und Bergarbeiter auf. Auf den Bergwerken arbeiteten über 70.000 Menschen. Über eine Bahnanbindung verfügten die Wenigsten, die meisten Bergleute kamen zu Fuß. 20, 30 Kilometer legten sie über sogenannte Bergmannspfade zurück, erläutert Valentin Peter, ein ehemaliger Bergmann.
"Die Bergleute hatten früher Schuhe an, die waren genagelt, damit das Schuhwerk nach Möglichkeit lange erhalten blieb. Deshalb hat man diese Leute Hartfüßler genannt. Sie haben unheimlich viele Kilometer im Jahr geschrubbt, um auf die Arbeit zu gehen. Das Wichtigste war das Schuhwerk."
Das Zusammenleben zwischen den französischen Wirtschaftslenkern, der Regierungskommission und der Bevölkerung im Saargebiet verlief nicht konfliktfrei. Es kam zu Beamtenaufständen und zu mehrmonatigen Bergarbeiterstreiks. Die Beteiligung lag bei nahezu 100 Prozent. Das Saargebiet war von sozialpolitischen Entwicklungen, wie sie die Gewerkschaften in der Weimarer Republik durchgesetzt hatten, abgeschnitten. Der Franc war Zahlungsmittel und der Warenaustausch durch eine Zollgrenze eingeschränkt. Die Franzosen, die auch die Regierungskommission dominiert hätten, seien als fremde Herren wahrgenommen worden, sagt der Historiker Gerd Krumeich.
"Das war Militärherrschaft und ökonomische Ausbeutung. Ich sehe da keine großen Freundschaftsgesten."
Besonders ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl
Entwickelt hat sich in diesem Zeitraum eine Art saarländische Identität, die bis dahin wegen der unterschiedlichen Zugehörigkeit zu Bayern und Preußen nicht existierte, erklärt Gabriele Clemens. Kleine Unterschiede gebe es auch heute noch.
"Die pfälzischen Saarländer haben noch immer eine andere Identität als die preußischen Saarländer. Weil, sie haben im bayerischen Teil eine sehr viel liberalere Herrschaft miterlebt als im preußischen Teil. Es gibt den schönen Spruch, sie würden heute noch blau – weiß - karierte Tischdecken benutzen im ehemals bayerischen Teil des Saarlandes."
Tatsächlich verblasste diese landsmannschaftliche Einordnung angesichts der Situation, in der sich das Saargebiet in den 1920er-Jahren befand. Es war aus dem Deutschen Reich herausgegliedert worden, die Menschen fühlten sich aber dennoch Deutschland zugehörig. Das stärkte das Gemeinschaftsgefühl.
"Ich denke schon, dass man unter dieser sehr angespannten Herrschaftssituation doch ein Sonderbewusstsein entwickelt hat."
Zwei Abstimmungen zur Zugehörigkeit
1935 stimmten die Saarländer darüber ab, ob sie weiterhin vom Völkerbund regiert werden wollten, ein Teil Frankreichs werden wollten oder wieder zum Deutschen Reich gehören wollten. Mit überwältigender Mehrheit entschied sich die Bevölkerung für den Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland. Der Status quo, ein weiterer internationaler Weg unter Begleitung des Völkerbundes, bot den Menschen keine klare Perspektive. Gabriele Clemens:
"Nur irgendwelche Utopisten hätten glauben können, dass man sich für den Status quo oder eine europäische Lösung entschieden hätte."
Das gelte auch für die zweite Abstimmung 1955, als die Saarländer erneut über ihr weiteres Schicksal entschieden. Denn nach Ende der verheerenden Vernichtungskriege des Nazi-Regimes wurde das Saarland zum zweiten Mal für über ein Jahrzehnt aus dem deutschen Staatsgebiet herausgelöst. Ein autonomer Pufferstaat zerrieben zwischen deutschen und französischen Interessen. Diese doppelte Erfahrung hat die Identität der Saarländerinnen und Saarländer entscheidend geprägt. Das Gemeinschaftsgefühl überdauert bis heute.