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100 Jahre Waldorfschule
Erziehung als religiöser Kult

Rudolf Steiner gilt als Begründer der Anthroposophie – einer Weltanschauung, nach der es nicht nur eine materielle, sondern auch eine geistige, übersinnliche Welt gibt. Das ist auch die Grundlage der Waldorfschule, die Steiner vor einhundert Jahren eröffnete.

Von Monika Dittrich | 06.09.2019
Porträtaufnahme von Rudolf Steiner (1913)
Vor 100 Jahren gründete Rudolf Steiner die erste Waldorfschule (picture-alliance / akg-images)
Waldorfschulen erkennt man oft schon von außen. Wenn die Schulhäuser in anthroposophischer Weise gebaut sind, mit organischen Formen und wenigen rechten Winkeln. In Waldorfschulen gibt es keine Lehrbücher, keine Noten und kein Sitzenbleiben, dafür nehmen Gartenbau und handwerkliches Arbeiten sowie Theaterspielen breiten Raum ein. Und im Fach Eurythmie lernen Kinder, ihren Namen zu tanzen.
All das hat Rudolf Steiner schon bei der Schulgründung vor einhundert Jahren festgelegt. Seine Weltanschauung, die Anthroposophie, ist kein eigenes Unterrichtsfach – aber sie ist das Fundament der Waldorfpädagogik.
"Anthroposophie ist das, was man eine Weltanschauung nennt. Und Weltanschauung heißt, es ist ein Versuch, die gesamte Welt zu verstehen."
Sagt Helmut Zander, Professor für Religionsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg in der Schweiz. Zu seinen Forschungsgebieten gehört die Anthroposophie:
"Und die geht zurück auf Rudolf Steiner. Und seine zentrale Idee war, dass das Geistige und das Materielle eigentlich zwei Seiten einer Medaille sind."
Die Mutter der Anthroposophie
Rudolf Steiner wird 1861 geboren, in einem damals ungarischen Dorf, heute liegt es in Kroatien. In Wien studiert er eine Zeit lang Mathematik und Philosophie. Er beschäftigt sich mit Goethe, dessen naturwissenschaftliche Schriften er bis 1897 herausgibt.
Dann stößt er zur Theosophischen Gesellschaft, einer esoterischen Vereinigung, "und da findet Steiner einen neuen Lebenssinn", sagt Zander. "Er wird Generalsekretär und sehr schnell Chef der deutschen Theosophen und übernimmt das theosophische Denken."
Professor Helmut Zander
Professor Helmut Zander betont den weltanschaulichen Charakter der Waldorfpädagogik (Helmut Zander / Foto: Hans Schafgans)
Steiner vertritt die Lehre von Reinkarnation und Karma, er schreibt ein Buch mit dem Titel "Theosophie", verbreitet die mystischen Ideen der Theosophen als Vortragsredner.
1912 bricht er mit der Theosophischen Gesellschaft – wegen eines Streits mit der Präsidentin. Es ist die Geburtsstunde von Steiners Anthroposophie. "Die Theosophie ist die Mutter der Anthroposophie", so Zander. "Im Herzen hat Steiner theosophisches Gedankengut auch in seiner Anthroposophie gepflegt."
Tiefreligiöse Elemente
Es sind damals viele Protestanten, die sich der Anthroposophie zuwenden – und tatsächlich steckt in dieser Weltanschauung viel Religiöses, erklärt der Theologe und Religionswissenschaftler Helmut Zander:
"Es gibt viele tiefreligiöse Elemente. Beispiel: Steiner hat eine Idee davon, wie die Welt begonnen hat und wie sie enden wird. Er hat Aussagen gemacht über das Schicksal des Menschen vor dem Tod und nach dem Tod mit Reinkarnation. Er hat den Christus – davon spricht er - in die Theosophie eingeführt und zu einem zentralen Element der Anthroposophie gemacht. Das unterscheidet ihn übrigens ein wenig von der Theosophie, bei der der Christus nicht die zentrale Stellung hat."
Landwirtschaft, Medizin, Pädagogik
Anthroposophen gehen davon aus, dass es hinter den materiellen Dingen eine geistige, übersinnliche Dimension gibt, in die Eingeweihte durch sogenannte Schauungen Einsicht erlangen können.
Rudolf Steiner hat diese Vorstellung auf viele lebenspraktische Bereiche übertragen: Dazu gehören Demeter-Höfe, auf denen die von ihm entwickelte bio-dynamische Landwirtschaft betrieben wird. Es gibt heute Drogeriemärkte, Seifenhersteller und sogar Banken, die anthroposophisch arbeiten – ebenso wie Ärzte und Krankenhäuser, die anthroposophische Medizin praktizieren. Auch eine Kirche hat Steiner gegründet: die Christengemeinschaft, mit heute weltweit mehreren Zehntausend Mitgliedern.
"Esoterische Züge"
Und natürlich die Waldorfschule. Bei der Eröffnung vor einhundert Jahren bezeichnete Rudolf Steiner den Erziehungsdienst als religiösen Kult, und weiter sagte Steiner:
"Müssen nicht zusammenfließen alle unsere heiligsten, gerade dem religiösen Fühlen gewidmeten Menschheitsregungen in dem Altardienst, den wir verrichten, indem wir herauszubilden versuchen das sich als veranlagt offenbarende Göttlich-Geistige des Menschen im werdenden Kinde!"
Professor Heiner Ullrich
Professor Heiner Ullrich sieht Steiner nicht als Reform-Pädagogen (Privat)
"Steiner ist kein Reformpädagoge, sondern ein weltanschaulicher Führer, von dem man die Gründung einer Schule erwartet hat", sagt Heiner Ullrich. Er ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Mainz; er forscht zu Reform- und Alternativschulen.
"Und mit der Anthroposophie liegt der Waldorfschule eben auch eine Weltanschauung zugrunde, die sehr stark esoterische Züge hat. Die Grundlage ist die Menschenkunde Rudolf Steiners, bis heute", so Ullrich.
Seelische Räume erschließen
Dazu gehört beispielsweise dieser Morgenspruch, den Rudolf Steiner für die ersten vier Klassen vorgesehen hat und den die Erstklässler dieser Waldorfschule in Köln vor Unterrichtsbeginn aufsagen:
"Der Sonne liebes Licht,
Es hellet mir den Tag;
Der Seele Geistesmacht,
Sie gibt den Gliedern Kraft;
Im Sonnen-Lichtes-Glanz
Verehre ich, o Gott,
Die Menschenkraft, die Du
In meine Seele mir
So gütig hast gepflanzt,
Dass ich kann arbeitsam
Und lernbegierig sein.
Von Dir stammt Licht und Kraft,
Zu Dir ström‘ Lieb‘ und Dank."
In einer Kölner Waldorfschule liegen die Kinder im Kreis - sie tragen rote Zipfelmützen
In Waldorfschulen liegt ein Fokus auf Kreativität (Deutschlandradio / Monika Dittrich)
"Es geht nicht um irgendwelche Bekenntnisse oder Glaubensinhalte, es geht um die Schichten der Wahrnehmung, die man sich erschließen kann", sagt Henning Kullak-Ublick. Er ist Sprecher beim Bund freier Waldorfschulen. Jahrelang hat er selbst als Waldorflehrer gearbeitet. "Das können alle Kinder. Ohne sie indoktrinieren zu wollen, sondern wir wollen ihnen helfen, selbst bestimmte seelische Räume zu erschließen."
Der Lehrer als Priester
Rudolf Steiner hat dem Lehrer an der Waldorfschule eine besondere Rolle zuerkannt. Er soll nicht nur Wissensvermittler sein, sondern auch eine Art Priester oder Seelsorger.
Der Religionshistoriker Helmut Zander: "Im Kern war Steiner der Meinung, dass der Lehrer oder die Lehrerin auch eine Eingeweihte ist, ein Eingeweihter. Dass sie Erkenntnis höherer Welten haben. Dass sie wissen, welche Reinkarnation ihre Schüler hinter sich haben."
Bildungsexperten sehen die Rolle des Lehrers an Waldorfschulen mitunter kritisch, zumal der Klassenlehrer in den ersten acht Schuljahren nicht wechselt.
Exportschlager Waldorfschule
Henning Kullak-Ublick vom Bund freier Waldorfschulen entgegnet, es gehe darum, die Schüler ganzheitlich wahrzunehmen:
"Wir sind eben nicht nur denkende Wesen, sondern wir sind auch fühlende Wesen und wir sind auch handelnde Wesen. Und man könnte auch sagen, die Waldorfpädagogik versucht, so wie sie versucht, Wissenschaft lebendig zu machen, so wie sie versucht, Kunst lebendig zu machen, so versuchen wir auch, an die Empfindungen der Kinder heranzukommen, die man als religiöse Empfindungen bezeichnen könnte. Das heißt, dass die Kinder eine Region in ihrer Seele entdecken, so dass sie auch zu etwas aufschauen können, das über ihnen ist."
Henning Kullak-Ublick
Henning Kullak-Ublick betont die Ganzheitlichkeit der Waldorfpädagogik (Privat)
Viele Eltern, die ihre Kinder auf eine Waldorfschule schicken, suchen vielleicht genau das: eine ganzheitliche Pädagogik statt Leistungs- und Notendruck im staatlichen Bildungssystem.
Die Waldorfschule ist übrigens ein Erfolgsmodell: Sie hat sich in den einhundert Jahren seit ihrer Gründung in Stuttgart international ausgebreitet: Mehr als 1.100 Waldorfschulen gibt es heute weltweit, 245 davon in Deutschland.