125. Geburtstag von André Kertész

Der Poet unter den Fotografen des 20. Jahrhunderts

André Kertész' Foto "Elisabeth und ich" (1933) in einer Kertész-Retrospektive 2011 im ungarischen Nationalmuseum Budapest
Der ungarische Fotograf André Kertész wurde mit seiner erzählerischen, oft verträumt wirkenden Fotografie weltberühmt © Tibor Illyes/MTI / picture alliance
Von Anette Schneider · 02.07.2019
Einfühlsam, verträumt, abseits aller Moden: Der ungarische Fotograf André Kertész entwickelte in den 1920er-Jahren eine ganz eigene poetische Bildsprache - die ihn weltberühmt machte. Doch ein Umzug von Paris nach New York stoppte seine Karriere.
Ein Leopard liegt angekettet vor einem efeubewachsenen Pavillon. Ein Junge spielt vor einer Mauer Fußball, sein Schatten tut es ihm gleich. Auf einem Dach hockt eine einsame Taube.
"Meine Fotografie ist tatsächlich ein visuelles Tagebuch. Sie ist vor allem ein Werkzeug, um mein Leben zu beschreiben und auszudrücken, genauso wie Dichter und Schriftsteller ihre Lebenserfahrungen beschreiben."
Paris als Inspirationsquelle
André Kertész ist der Poet unter den Fotografen des 20. Jahrhunderts. Seine Inspirationsquelle war Paris. Dort zog der zurückhaltende, zu Melancholie neigende Mann mit seiner Kamera durch die Straßen und verwandelte Menschen und Dinge in eine symbolhafte Bildsprache, mit der er von Hoffnung und Sehnsucht erzählte, von Trauer und Einsamkeit.
Michel Frizot, Kertész-Experte des Museums Jeu de Paume in Paris: "Kertész hat keinen typischen Stil. Anders als etwa Moholy-Nagy mit seinem internationalen Avantgarde-Stil der 20er-Jahre. Den gibt es bei Kertész nicht. Bei ihm ist jedes Bild eine neue Erfindung."
Geboren wurde André Kertész am 2. Juli 1894 als Sohn jüdischer Eltern in Budapest. Schon als Kind liebte er es, durch die Gegend zu stromern und seine Umgebung aufmerksam zu beobachten.
"1912, nach meinem Abitur, kaufte ich mir eine Kamera, die für mich zu einem kleinen Tagebuch wurde. Ich fotografierte die Dinge, die mich umgaben - Menschen, Tiere, mein Haus, die Schatten, Bauern, das Leben um mich herum. Ich habe immer das fotografiert, was mir der Augenblick offenbarte."
"Meine Fotografie zeigt, was ich fühle"
Den Ersten Weltkrieg erlebte Kertész als Soldat im Hinterland. Nach dem Krieg und dem Zerfall Österreich-Ungarns trieb ihn bald eine langanhaltende Wirtschaftskrise nach Paris. Dort lernte er Piet Mondrian, Fernand Léger und Ilja Ehrenburg kennen, er befreundete sich mit ungarischen Schriftstellern und Künstlern und entwickelte nun die erzählerische, oft verträumt wirkende Fotografie, die ihn weltberühmt machte:
Ein Straßenjunge birgt einen winzigen Hund in den Händen, als sei er sein einziger Halt. Auf dem Bett eines heruntergekommenen Hotelzimmers liegt eine Beinprothese. Menschen auf der Straße, beim Treppensteigen, in Parks werden begleitet von ihren Schatten, die für Kertész den natürlichen Widerhall des Lebens symbolisierten.
"Für ihn waren Leben und Fotografie ein und dasselbe. Fotografie war nicht da, um etwas zu dokumentieren oder bestimmte Ereignisse festzuhalten, sondern Fotografie ermöglichte es, über eigene Empfindungen zu sprechen: darüber, was einen beschäftigte und bewegte. Er sagte: Meine Fotografie zeigt, was ich fühle."
Weltberühmt - aber unverstanden in den USA
Kertész knüpfte Kontakt zu deutschen und französischen Illustrierten und arbeitete für die neue Fotozeitschrift "Vu", die seinen ungewöhnlichen Blick schätzte und für die er Serien über Glasbläser und Mönche, Tänzer und Puppenspieler schuf. Er nahm an Ausstellungen teil, hatte Erfolg - und ging 1936 mit seiner Frau nach New York, wo er Karriere als Fotojournalist machen wollte.
"Aber in den USA verstand man seine Arbeit nicht. Er bot seine Bilder zum Beispiel dem gerade gegründeten Life-Magazin an und machte auch ein oder zwei Reportagen für die Redaktion. Doch die sagte: Ihre Bilder erzählen zu viel! Sie mochten sie nicht. Sie waren ihnen zu persönlich."
Kertész musste sich als Werbefotograf verdingen. Die Arbeit machte ihn depressiv. Das Bild einer tief über den Vasenrand hängenden Tulpe erzählt davon.
Viele Jahre lebte die Familie in Not, bis seine Frau eine erfolgreiche Firma gründete. Der große Fotograf Kertész aber blieb in den USA unbekannt. Und in Europa hatte man ihn vergessen.
Erst Anfang der 60er-Jahre, nachdem der knapp 70-Jährige endlich sein Foto-Archiv aus Paris nach New York geholt hatte, fasste er angesichts seiner vielen hundert Negative wieder Hoffnung:
"Ich fange dort wieder an, wo ich aufgehört habe, bevor ich meinen Fuß in dieses gelobte Land setzte."
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